Am 6. Juli wurde der berühmte niederländische Investigativ-Journalist Peter de Vries am frühen Abend in Amsterdam mit einem Kopfschuss niedergestreckt, am 15. Juli verstarb er. Der Schütze, ein polizeibekannter 21-Jähriger, der von den Niederländischen Antillen stammt, wurde noch am gleichen Tag festgenommen. Die DWN haben die Tat zum Anlass genommen, mit dem renommierten niederländischen Journalisten und Experten für Drogenkriminalität, Teun Voeten, zu sprechen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Können Sie uns etwas über den Mord an Peter de Vries berichten?
Teun Voeten: Es ist noch nicht offiziell, kann aber als sicher angesehen werden, dass die marokkanische Drogenmafia dahintersteckt. De Vries war ja nicht nur ein berühmter Kriminalreporter, sondern auch Vertrauensperson und Berater von Verbrechensopfern und Zeugen bei großen Prozessen. Zuletzt stand er dem Kronzeugen Nabil B. im spektakulären „Marengo“-Prozess zur Seite, bei dem es um Morde im organisierten Drogenhandel geht. Im März 2018 waren bereits der Bruder des Kronzeugen und im September 2019 sein Anwalt erschossen worden. Jetzt der Mord an de Vries: Er steht mit fast hundertprozentiger Sicherheit mit den beiden vorherigen Morden in Zusammenhang.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das Ganze wirkt völlig unglaubwürdig, absolut unvorstellbar. Solche Morde kennt man aus Kolumbien oder Mexiko, vielleicht auch noch – bis zu einem gewissen Grad – aus Russland und einigen osteuropäischen Staaten sowie aus Süditalien. Aber doch nicht aus den Niederlanden, einem reichen, hoch entwickelten, demokratischen Staat im Herzen Europas.
Teun Voeten: Doch, solche Morde geschehen hierzulande. Sie haben in Ihrer Beschreibung der Niederlande nämlich eines nicht erwähnt: Und zwar, dass es sich um einen Narko-Staat handelt (nach der Definition des Internationalen Währungsfonds ein Land, „in dem alle rechtmäßigen Institutionen von der Macht und dem Reichtum des illegalen Drogenhandels durchdrungen sind“ – Anm. d. Red.). Das heißt nicht, dass die Niederlande mit Staaten wie Kolumbien oder Mexiko vergleichbar wären: Das sind Narko-Staaten, die gar nicht mehr oder nur noch bedingt funktionieren. Die Niederlande sind schon ein funktionierender Staat, und das Ausmaß an Gewalt ist insgesamt geringer. Ich würde deshalb von einem Narko-Staat „light“ sprechen. Aber nichtsdestotrotz spielen Drogen, Drogengeld und Kriminalität hierzulande eine große Rolle. Sie sind zwar nicht das einzige konstituierende Element von Staat und Gesellschaft, aber doch ein sehr signifikantes.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Können Sie das erläutern?
Teun Voeten: Die Drogenmafia hat keinen Einfluss auf die absolute Spitze des Staates. Aber auf ihr untergeordnete staatliche Einrichtungen, auf Behörden, auf die Polizei. Von dort werden viele Informationen an die Verbrecher durchgestochen. Es geschieht auch immer häufiger, dass Männer, die zur Mafia gehören, zur Polizei gehen – bessere Spitzel kann man sich doch gar nicht wünschen (auch aus Berlin sind Fälle bekannt, in denen Polizeischüler enge Kontakte zu kriminellen Familien-Clans hatten oder diesen Clans sogar angehören – Anm. d. Red.). Übrigens ist auch Belgien mit ähnlichen Problemen konfrontiert: So wurde beispielsweise der ehemalige Leiter der Drogenfahndung der Kripo Antwerpen zu vielen Jahren Gefängnis verurteilt.
Darüber hinaus wird in großem Stil Drogengeld gewaschen, und zwar vor allem im Immobiliensektor. Der wiederum ist eng mit der Politik verbandelt – in diesem Dunstkreis kommt es regelmäßig zu zwielichtigen Geschäften. Apropos Politik: Die Drogenmafia versucht verstärkt, ihre Leute als Mitglieder in Stadträten zu platzieren.
Wenn sich die Politik gegen die Mafia stellt, findet die das natürlich gar nicht gut: Rund 30 Prozent aller niederländischen Bürgermeister sind schon bedroht worden.
Auch Journalisten sind betroffen: Sie gehen einem gefährlichen Beruf nach, müssen diskret und vorsichtig sein.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wir reden immer von der „Drogenmafia“. Was sind das eigentlich für Leute?
Teun Voeten: Es handelt sich primär um Marokkaner beziehungsweise Niederländer marokkanischer Abstimmung. Auch Menschen, die selbst oder deren Eltern von den Antillen stammen (Aruba und Curacao gehören zur Inselgruppe der Kleinen Antillen in der Karibik und sind Teil des „Königreich der Niederlande“ – Anm. d. Red.), sind überdurchschnittlich oft in den Drogenhandel verwickelt.
Es ist so: Diese Leute interpretieren die Toleranz, die in den Niederlanden herrscht, als Schwäche. Für Straftaten, bei denen sie in ihrer Heimat ins Gefängnis kommen würden, bekommen sie hier nur einen leichten Klaps auf die Finger. Dieses Phänomen findet man auch in Deutschland: Die Mitglieder der Clans in Berlin, in Bremen, in Nordrhein-Westfalen denken genauso.
Was natürlich nicht heißen soll, dass es nicht auch Gangster gibt, die niederländisch-europäischer Abstammung sind. Die sind auch gewaltbereit – aber in einem deutlich geringeren Maße.
Ich würde die niederländische und die deutsche Gesellschaft als aufgeklärte Gesellschaften bezeichnen, deren Mitglieder sich zumeist an die grundsätzlichen Regeln halten. Das ist bei Menschen aus Gesellschaften, wo die Aufklärung nicht stattgefunden hat, häufig nicht der Fall.
Ihre Geschäftsinteressen setzen die Dealer rücksichtslos durch. Um noch einmal auf Antwerpen zurückzukommen: Dort fanden die Angestellten eines Obstunternehmens im Hafen in einem Container die gewaltige Menge von 500 Kilo Kokain und benachrichtigten die Behörden. Seither werden sie von der Polizei beschützt.
Antwerpen ist als Umschlagplatz für Drogen mittlerweile wichtiger als Rotterdam. Die Drogenmafia in Südamerika sorgt dafür, dass der Stoff versteckt in Containern den Ozean überquert (wobei die Besitzer der Container manchmal von der brisanten Fracht wissen, manchmal aber auch nicht). In Antwerpen sorgen freiberufliche Mittelsmänner dafür, dass das Rauschgift sicher den Hafen verlassen kann. Das sind Profis – sie denken sich die unglaublichsten Mittel und Wege aus, um den Stoff an Polizei und Zoll vorbei zu schmuggeln.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was ist der Grund dafür, dass sich diese Strukturen entwickeln und verfestigen konnten?
Teun Voeten: Alles ist zurückzuführen auf die verfehlte Politik der 60er Jahre, als Drogen en vogue wurden. Angesichts der damals herrschenden gesellschaftlichen Stimmung, die für Aufbruch, Freiheit und Selbstverwirklichung stand, wollten die Behörden nicht kleinlich sein - schließlich sind die Niederlande eine traditionell liberale Gesellschaft. Also hat man den Konsum toleriert und die Grenze für die erlaubte Menge Haschisch bei 30 Gramm gezogen, was den Dealern entgegenkam – die Menge ist für den Eigenverbrauch ja viel zu hoch. Damals entstanden die berühmten Coffee Shops, und schließlich entwickelte sich aus diesem Aspekt der Hippie-Kultur eine florierende Industrie, die vor allem von marokkanischen Gastarbeitern aufgebaut wurde. Mit der Zeit wurde mit immer härteren Drogen gehandelt, mit Kokain, Amphetaminen, Crystal Meth, Ecstasy (bei dieser Droge sind die Niederlande sowohl beim Im- als auch beim Export die Nummer eins der Welt). Und das Haschisch wurde immer reiner – heute es ist so stark, dass sein Konsum gesundheitsgefährdend ist.
Mittlerweile werden in den Niederlanden enorme Mengen an Rauschgift konsumiert. Aber dass sich ihre liberale Politik im Nachhinein als falsch erwiesen hat, würden meine Landsleute niemals zugeben. Sie sind nämlich extrem selbstzufrieden und haben die überlegene Moral für sich gepachtet. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie in Deutschland vor, ich schätze mal circa 20 Jahren, Skinheads jemanden totschlugen. Damals ging ein Aufschrei durch unser Land, man war sich sicher: Das kann bei uns nicht passieren. Vielleicht – aber wie die Drogenmorde zeigen, passieren bei uns eben auch sehr viele äußerst unschöne Dinge.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Auch Deutschland ist ein ausgesprochen liberales Land. Jahrzehntelang leugnete die Politik die Existenz des organisierten Verbrechens, und bestimmte Tätergruppen – beispielsweise die Clans – wurden aus falsch verstandener Toleranz sowie aus Angst vor Rassismus-Vorwürfen fast unbehelligt gelassen. Inzwischen hat jedoch ein Umdenken eingesetzt, der Staat fängt an, durchzugreifen. Halten Sie es für möglich, dass auch in den Niederlanden der Handlungsdruck so stark wird, dass die Polizei endlich die Gesetze konsequent durchsetzt beziehungsweise durchsetzen darf und vielleicht sogar Gesetze verschärft werden?
Teun Voeten: Derzeit sehe ich das nicht. Wie schon gesagt: Die Problematik wird komplett geleugnet – ja, der Konsum wird sogar erbittert verteidigt. Wer vor den Folgen warnt, wird ganz schnell als Rechtsradikaler hingestellt, gar als Nazi abgestempelt. Vor allem die Angehörigen der – vor allem weißen – Oberschicht und oberen Mittelschicht denken und reden so.
Warum? Weil sie selbst Konsumenten sind, aber ihren Konsum einigermaßen im Griff haben. Sie gönnen sich eben ab und zu mal hochwertiges Kokain. An diejenigen, die nicht so privilegiert sind wie sie selbst, verschwenden sie keinen Gedanken.
Diese Unterprivilegierten sind zum Beispiel die Menschen, die in den eher ländlichen Provinzen des Landes wohnen, dort schlecht bezahlten Jobs nachgehen oder von Sozialhilfe leben. Die nehmen GHB, auch Liquid Ecstasy (flüssiges Ecstasy) genannt, das überall zu kriegen ist und extrem schnell süchtig macht. Oder MMC (Kurzbezeichnung für Mephedron, das auch die Grundlage für die eine Zeitlang sehr beliebten Badesalz-Drogen bildete – Anm. d. Red.) – dafür gab sogar eine Seite im Internet, die erst vor kurzem verboten wurde.
Ich arbeite auch als freiberuflicher Berater von Stadtverwaltungen. Immer wieder weise ich darauf hin, was es mit jungen Menschen macht, wenn sie realisieren, dass sie als kleine Drogenhändler, die den Reichen am Wochenende ihr Kokain liefern, an einem einzigen Abend mehrere Hundert Euro verdienen können: Sie lassen Schule und Ausbildung zugunsten des schnellen Geldes sausen. Hier werden menschliche Werte und Moral untergraben, damit sich die selbsternannte Elite ihren Kick holen kann.
Diese Einstellung der „oberen Zehntausend“ finde ich abstoßend. Unter dem Deckmantel von Liberalität und Toleranz wenden sie sich gegen härtere Drogengesetze – und nehmen in Kauf, dass Tausende von Leben zerstört werden. Dieser völlige Mangel an Mitgefühl ist unerträglich.
Dass es vor allem die Gutsituierten sind, die das Drogenproblem nicht bekämpfen wollen, ergibt auf perfide Art und Weise sogar Sinn. Der Kapitalismus heißt die Drogen nämlich gut. Sie sind, im wahrsten Sinne des Wortes, „Opium fürs Volk“. Wer die ganze Woche lang hart arbeitet, Stress hat, im Konkurrenzkampf steht, der dröhnt sich am Wochenende eben zu – damit er in der darauffolgenden Arbeitswoche wieder funktioniert.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie wenden sich gegen eine Liberalisierung der Drogenpolitik. Aber wäre es angesichts der mit Rauschgift verbundenen Kriminalität nicht besser, man würde Drogen – kontrolliert natürlich – freigeben?
Teun Voeten: Nein, der Meinung bin ich nicht. Kürzlich war ich für ein Buch-Projekt in den USA unterwegs. Im Bundesstaat Michigan habe ich gesehen, was die Legalisierung von Marihuana anrichtet: Die Droge übernimmt im Leben derjenigen, die sie konsumieren, die Kontrolle, und auch andere werden indirekt in Mitleidenschaft gezogen: Zum Beispiel, wenn sie von jemandem, der bekifft hinterm Steuer sitzt, tot oder zum Krüppel gefahren werden. Und als ganz schlimm habe ich empfunden, was ich in Los Angeles erlebt habe.
Im berüchtigten Stadtviertel „Skid Row“ schießen sich die Abhängigen mittlerweile ihr Heroin und schnupfen und schlucken ihr Crystal Meth in aller Öffentlichkeit auf der Straße. Als ich vor rund 20 Jahren dort war, haben sie noch ihr Bier mit einer Papiertüte umhüllt, weil öffentlicher Alkoholgenuss verboten war. So haben sich die Zeiten geändert.
Die Frage ist ja auch, wo man die Grenze zieht. Sollen nur Hasch und Marihuana erlaubt werden oder auch die harten Drogen? Für mich steht außer Zweifel: Die Legalisierung, die Öffnung des Drogenmarktes führt dazu, dass wir eine dysfunktionale Welt bekommen.
Im Übrigen habe ich nicht prinzipiell etwas gegen Drogen. In so gut wie jeder Gesellschaft gibt es eine Droge, die Teil der Tradition, Teil des Alltagslebens ist. In Kolumbien sind es die Koka-Blätter, in Afghanistan ist es Opium, in westlichen Ländern der Alkohol. Damit muss sich die Gesellschaft arrangieren, damit hat sie sich arrangiert. Auf die Einführung, gar die Legalisierung neuer Drogen, die nicht Teil des historischen Erbes sind, sollte jede Gesellschaft unter allen Umständen verzichten.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Voeten, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zum Interviewpartner: Teun Voeten (Jhg. 1962) studierte Kultur-Anthropologie an der Universität Leiden und Fotografie an der "School of Visual Arts" (New York). Als Fotograf und Autor bereist er seit über 30 Jahren die ganze Welt. Unter anderem berichtete er über Goldgräber in Equador, den Jugoslawien-Krieg, den Völkermord in Ruanda, Kindersoldaten in Sierra Leone (wo er fast von Rebellen getötet wurde) und die Einnahme Bagdads durch die US-Armee. Weiterhin über den Arabischen Frühling in Ägypten und Libyen, Umweltverschmutzung in China, die Kriege in Afghanistan und Syrien sowie den IS im Irak. Fünf Monate lebte er mit den sogenannten "Tunnel-Menschen" in den verlassenen U-Bahntunneln New Yorks.
Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter auch "Mexican Drug Violence" . Die Beschäftigung mit diesem Thema führte zum einen dazu, dass er eine Doktorarbeit über den Drogenkrieg in Mexiko schrieb, zum anderen, dass er sich verstärkt der Drogenproblematik in seinem Heimatland Niederlande sowie seiner Wahlheimat Belgien widmet. Unter anderem veröffentlichte er den Bestseller „Drogen: Antwerpen im Griff der niederländischen Syndikate“. Trotz seines Doktor-Titels möchte er nicht wissenschaftlich an der Universität arbeiten: "Dann verliere ich meine Freiheit."
Teun Voeten lebt in Antwerpen und New York.