Die militärische Abhängigkeit von den USA beim Evakuierungseinsatz in Afghanistan befeuert in der EU die Diskussion über den möglichen Aufbau einer eigenen schnellen Eingreiftruppe. Die Notwendigkeit zusätzlicher europäischer Verteidigungsfähigkeiten sei nie so deutlich gewesen wie heute, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Donnerstag zum Auftakt von Beratungen der EU-Verteidigungsminister in Slowenien. Er hoffe darauf, dass man nach den Ereignissen in Afghanistan engagierter konkrete Ergebnisse und Entscheidungen anstreben werde.
Die bisherigen Überlegungen sahen vor, eine rund 5000 Soldaten starke EU-Truppe zu schaffen, die innerhalb kurzer Zeit in Krisenländer verlegt werden kann. Nach den Entwicklungen in Afghanistan dürfte sie aber noch einmal auf den Prüfstand kommen. So könnte die Einheit nach Angaben des slowenischen EU-Ratsvorsitzes vom Donnerstag auch deutlich größer werden und bis zu 20 000 Soldaten umfassen.
In Afghanistan hatten nach der Machtübernahme der Taliban Mitte August zunächst rund 6000 US-Soldaten den Weiterbetrieb des Flughafens in Kabul für Evakuierungsflüge abgesichert. Wegen ihres Abzugs mussten die Europäer dann allerdings ihre Rettungsflüge für schutzbedürftige Menschen früher als eigentlich gewünscht einstellen.
"Wir waren von den Amerikanern abhängig und es wird heute darum gehen, die richtigen Schlüsse zu ziehen", kommentierte Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und nannte Afghanistan "eine schwere Niederlage". Man müsse darüber reden, ob die EU schnell Entscheidungen treffen könne, genügend eingeübt sei und die richtige Ausrüstung habe. Zudem sei es wichtig, dass es nicht um eine "Alternative zur Nato und zu den Amerikanern" gehe, sondern darum, den Westen mit den Amerikanern stärker zu machen. "Wenn wir jetzt europäisch stärker werden, um auf Augenhöhe mit den USA das westliche Bündnis insgesamt stärker zu machen, dann gewinnen wir."
"Es ist an der Zeit, dass die Mitgliedsstaaten vorangehen, um der EU sicherheits- und verteidigungspolitische Handlungsfähigkeit zu geben", mahnte Kramp-Karrenbauer. Zu der Entwicklung in Afghanistan merkte sie an: "Wir Europäer haben gegen die Entscheidung der USA zum Abzug kaum Widerstand geleistet, weil wir mangels eigener Fähigkeiten keinen leisten konnten." In Afghanistan habe der Weste "einen schweren Schlag erlitten", räumte sie ein, fügte aber hinzu: "Ob es wirklich eine dauerhafte Niederlage ist, entscheiden die Schlussfolgerungen, die wir jetzt in Europa und den USA ziehen."
Die Financial Times zitiert den Kommissar Thierry Breton mit den Worten, dass eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik nicht länger nur eine "Option" sei, sondern dass die EU in die Lage versetzt werden müsse, künftig eigene Militäroperationen in "voller Autonomie" durchzuführen. Die Entscheidung der US-Regierung, den Abzug aus Afghanistan fortzusetzen, sei für einige EU-Staaten "ziemlich schwierig" gewesen, weil sie nicht darüber voran informiert worden seien. "Wir verstehen, dass unsere Alliierten viel mehr auf China und eventuell ganz Asien fokussiert sein werden. Wir haben auf die harte Art und Weise gelernt - gerade auch in Afghanistan - dass wir unsere globale Verteidigungssolidarität auf die eine oder andere Weise verstärken müssen."
Frankreichs Präsident Emanuel Macron und der niederländische Premier Mark Rutte sagten nach einem Treffen in Paris am Donnerstag, dass die EU eine "strategische Autonomie" in wirtschaftlichen und militärischen Bereichen aufbauen müsse.
Beobachter sind skeptisch
Mehrere von der FT befragte Beobachter sind jedoch skeptisch, ob sich die EU-Staaten rasch auf neue Strukturen einer gemeinsamen wirkungsvollen Zusammenarbeit werden einigen können.
Ben Hodges, früherer Kommandeur der US-Armee in Europa, warnte davor, Parallelstrukturen zur Nato aufzubauen. Dies würde zu einem Abfluss wichtiger Ressourcen aus Nato-Einrichtungen und Doppelstrukturen führen, ohne Europas Sicherheit nachhaltig zu verbessern. Es stelle sich nicht so sehr die Frage, ob man einige tausend Soldaten unter gemeinsamem EU-Kommando werden aufstellen können, sondern "um was genau zu tun?".
Ein weiteres Problem ist die Nato selbst: Während Polen und die baltischen Staaten auch in Zukunft ein starkes Engagement der Nato und der Amerikaner in Europa wünschen, sind andere Staaten mit Blick auf das Militärbündnis skeptisch, weil das Mitgliedsland Türkei zu inneren Interessenkonflikten führe.
Claudia Major, eine Analystin der Stiftung Wissenschaft und Politik, rechnet mit Blick auf die anstehenden Wahlen in Deutschland und Frankreich damit, dass die nun artikulierten außen- und sicherheitspolitischen Vorsätze bald von innenpolitischen Problemen wie der Regierungsbildung überdeckt werden könnten.