Politik

Deutschland muss stärkste Militärmacht Europas werden

Die beiden geopolitischen Denker Gunther Hellmann und Charles A. Kupchan argumentieren, dass Deutschland die stärkste konventionelle Militärmacht Europas werden muss, wonach die USA "nicht mehr das Sagen haben".
17.10.2021 08:47
Lesezeit: 4 min

Die unter US-Präsident Donald Trump deutlich schlechter gewordenen transatlantischen Beziehungen haben sich nach dem Einzug von Joe Biden ins Weiße Haus wieder erholt. Doch die rasche Machtübernahme der Taliban in Afghanistan, gepaart mit der chaotischen Evakuierung von Ausländern und gefährdeten Afghanen, hat die Stimmung getrübt. Das Unbehagen der Europäer über den von Biden durchgeführten Truppenabzug aus Afghanistan plus die kürzlich abgehaltene Bundestagswahl in Deutschland bilden einen guten Zeitpunkt, um eine Bilanz des Atlantischen Bündnisses zu ziehen.

Eine neue geopolitische Lage

Die transatlantischen Beziehungen werden derzeit durch vier grundlegende geopolitische Veränderungen neu gestaltet.

Erstens: Obwohl die transatlantische Verbindung Donald Trump überlebt hat, hat dessen Präsidentschaft (und Beinahe-Wiederwahl) zusammen mit dem illiberalen Populismus, der auch Europa infiziert, die Fragilität der liberalen Demokratie offengelegt. Diese interne Bedrohung stellt heute möglicherweise die größte Bedrohung für die transatlantische Gemeinschaft dar – und nicht China, Russland oder gewalttätiger Extremismus.

Zweitens: Auch wenn Bidens Wahl den Atlantizismus wiederbelebt hat, sind die innenpolitischen Grundlagen des US-Internationalismus erheblich geschwächt. Die NATO-Verbündeten nehmen den übereilten Rückzug der Vereinigten Staaten aus Afghanistan als besorgniserregendes Zeichen dafür wahr, dass Bidens „Außenpolitik für die Mittelschicht“ eine Konzentration auf die Heimatfront und einen weiteren Rückzug der USA im Nahen Osten im weiteren Sinne bedeutet. Ferner könnte Amerikas strategische Beschäftigung mit China dazu führen, dass die USA Europa weniger Aufmerksamkeit und Ressourcen widmen und von den Europäern erwarten, dass diese mehr für ihre eigene Sicherheit tun.

Drittens: Die Europäische Union hat sich in den letzten Jahren selbst stark verändert. Ihr interner Zusammenhalt ist angesichts der Migrationskrise, des Brexits, der COVID-19-Pandemie und der hartnäckigen Haltung illiberaler Regierungen in Mitteleuropa geschwächt. Die neuen Belastungen für die EU-Solidarität verstärken die Notwendigkeit einer deutschen Führungsrolle, erhöhen aber auch die Skepsis der anderen gegenüber dem übergroßen Einfluss Deutschlands.

Viertens: Eine massive Veränderung rufen Chinas strategische Ambitionen sowie seine wachsende globale Reichweite hervor, die auf der transnationalen Seidenstraßen-Initiative basiert. Fakt ist: Das atlantische Bündnis genießt nicht mehr die materielle und ideologische Dominanz, die es einst hatte, und muss seine strategischen Prioritäten entsprechend anpassen.

Um ihre zentrale Stellung und ihren Zusammenhalt in dieser sich verändernden globalen Landschaft zu bewahren, sollte die atlantische Gemeinschaft mehrere Ziele verfolgen. Als oberste Priorität muss sie den Feind im Inneren besiegen, indem sie sich mit den Ursachen des illiberalen Populismus auseinandersetzt. Weiterhin ist ein transatlantisches Gespräch unerlässlich, dessen Themen die Verringerung der wirtschaftlichen Unsicherheit, die Gestaltung der Zukunft der Arbeit im digitalen Zeitalter und die Erholung von COVID-19 sind (und dieses Gespräch muss stattfinden ungeachtet des Umstands, dass die Bedingungen diesseits und jenseits des Atlantiks unterschiedlich sind). Und schließlich ist die Entwicklung einer Einwanderungspolitik unerlässlich, die den moralischen Verpflichtungen und wirtschaftlichen Bedürfnissen der USA und Europas gerecht wird, die aber auch ihre Grenzen sichert. Andernfalls werden nationalistische Appelle weiter an Zugkraft gewinnen.

Deutschland muss führen

Was die NATO und die sicherheitspolitische Verbindung zwischen Nordamerika und Europa betrifft, so müssen den Worten über eine transatlantische Neugewichtung endlich Taten folgen. Die europäischen NATO-Mitglieder, insbesondere Deutschland, müssen einen erheblich größeren Teil der Verteidigungslast tragen und ihre militärischen Fähigkeiten und ihre Einsatzbereitschaft verbessern. Deutschland muss die stärkste konventionelle Militärmacht im europäischen Pfeiler der NATO werden. Die USA würden zwar weiterhin das existenzielle militärische Rückgrat des Bündnisses bilden, aber sie würden nicht mehr das Sagen haben. Gleichzeitig würde die politische Bedeutung der amerikanischen Truppenpräsenz in Europa zunehmen und den europäischen Verbündeten die Gewissheit geben, dass mehr deutsche Macht mehr Sicherheit bedeutet.

Eine aktivere Rolle Europas im Bereich der Sicherheit geht Hand in Hand mit größeren Fähigkeiten. Während sich die USA weiter aus dem Nahen Osten zurückziehen, müssen die Europäer – sei es im Rahmen der EU oder der NATO – einen Teil der Aufgabe übernehmen, um die Stabilität in Krisengebieten wie Libyen, Syrien, Afghanistan und Berg-Karabach zu fördern. Ein fähigeres und aktiveres Europa wird mehr öffentliche Unterstützung erhalten und ein effektiverer Partner für die USA werden, was die transatlantischen Beziehungen stärkt. Je mehr Europa dagegen nur die Vorteile auf Kosten der USA genießt, desto schneller werden die Europäer das Vertrauen in die EU verlieren und desto schneller wird die Geduld der Amerikaner am Ende sein, was die transatlantischen Beziehungen erheblich schwächen würde.

Gemeinsam gegen China

Und schließlich müssen sich die USA und ihre europäischen Verbündeten geschlossener gegenüber China positionieren. Das bedeutet nicht, dass sich die Europäer hinter Bidens Vision eines weltbestimmenden Kampfes zwischen Demokratie und Autokratie scharen sollten. Im Gegenteil, sie sollten ihn ermutigen, seine Rhetorik zu mäßigen und China als fähigen Konkurrenten und nicht als unerbittlichen Feind zu betrachten. Da Europa ein wichtiger Verbündeter bleibt, kann es den überhitzten USA helfen, die richtige Mischung aus Eindämmung und Engagement zu finden.

Dennoch muss Europa den USA auf halbem Weg entgegenkommen, indem es seine Haltung gegenüber China verschärft. Sicherlich ist eine wirtschaftliche Abkopplung nicht in Sicht, viel zu sehr ist China in die Weltwirtschaft integriert. Dennoch müssen die EU und die USA gemeinsam gegen Chinas unfaire Handelspraktiken vorgehen und ihre Politik in Bezug auf Exportkontrollen, die Rückführung von Lieferketten für sensible Technologien und die Regulierung chinesischer Investitionen im Ausland angleichen. Die atlantischen Demokratien sollten auch in Bezug auf die Menschenrechte in China weiterhin mit einer Stimme sprechen.

Entspannung mit Russland

Darüber hinaus erfordert eine wirksame atlantische Strategie für den Umgang mit China gemeinsame europäisch-amerikanische Anstrengungen zur Verbesserung der Beziehungen zu Russland. Die chinesisch-russische Partnerschaft stellt eine erhebliche Herausforderung für Amerika und Europa dar. Eine maßvolle Entspannung mit Russland – wie sie von europäischen Politikern wie dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vorgeschlagen wurde – kann dazu beitragen, China und Russland auf Distanz zu bringen. Präsident Wladimir Putin ist nach wie vor ein schwieriger Gesprächspartner, aber angesichts der langen Geschichte der Spannungen zwischen Russland und China und des unvermeidlichen Unbehagens des Kremls, Chinas Juniorpartner zu sein, könnte er westliche Annäherung begrüßen.

Das Atlantische Bündnis befindet sich nach dem Schaden, den Trump angerichtet hat, in einer Phase der Wiederherstellung. Doch wie der chaotische Rückzug des Westens aus Afghanistan deutlich macht, muss er entschlossene Anstrengungen unternehmen, um sich auf die gewaltigen Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten.

Übersetzung: Andreas Hubig

Copyright: Project Syndicate, 2021.

www.project-syndicate.org

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

Gunther Hellmann und Charles A. Kupchan

Gunther Hellmann ist Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Charles A. Kupchan ist Leitender Wissenschaftler beim „Council on Foreign Relations“ sowie Professor für internationale Angelegenheiten an der Georgetown University in Washington, D.C.

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Abwanderung von Fachkräften: Immer mehr deutsche Arbeitnehmer verlassen ihr Heimatland
21.08.2025

Immer mehr Deutsche sagen Adieu und wandern aus: 2024 waren es 270.000 Ausreisewillige, 2025 wird ein neuer Rekordwert erwartet. Doch wer...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Freiwillige vor: Neuer Bahnchef gesucht
21.08.2025

Die Deutsche Bahn steckt in ihrer tiefsten Krise, doch der Verkehrsminister drängt auf schnellen Wechsel an der Spitze. Während geeignete...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Stellenanzeigen: Firmen verschenken Potenzial mit fehlender Familienfreundlichkeit
21.08.2025

Deutsche Unternehmen reden gern über Familienfreundlichkeit, doch in den Stellenanzeigen bleibt davon wenig übrig. Eine neue Analyse...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft US-Importzoll auf Autos aus EU soll rückwirkend sinken
21.08.2025

Washington senkt seine Importzölle auf Autos aus der EU – rückwirkend und überraschend deutlich. Für Europas Autobauer ist das zwar...

DWN
Panorama
Panorama Nord-Stream-Anschlag: Carabinieri verhaften Ukrainer wegen Sprengstoff-Operation
21.08.2025

Seit zwei Jahren ermittelt die Bundesanwaltschaft im Fall der gesprengten Nord-Stream-Pipelines. Nun gerät ein Ukrainer ins Visier, den...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Homeoffice auf Rezept? Ärztliches Attest bedeutet keinen Anspruch aufs Homeoffice – was zu beachten ist
21.08.2025

Ärztliche Homeoffice-Atteste liefern Hinweise, sind aber kein automatischer Freifahrtschein. Fehlen verbindliche Regeln und ein...

DWN
Politik
Politik Russland erklärt, in die Sicherheitsgarantien für die Ukraine „einbezogen“ werden zu wollen
21.08.2025

Russland will bei den Sicherheitsgarantien für die Ukraine mitreden – und verlangt ein Vetorecht. Experten warnen: Damit droht Moskau,...

DWN
Finanzen
Finanzen Millionen PayPal-Zugangsdaten im Umlauf – das sollten Nutzer jetzt tun
21.08.2025

Millionen PayPal-Zugangsdaten sollen im Darknet zum Verkauf stehen – zu einem erstaunlich niedrigen Preis. Ob es sich um aktuelle Daten...