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DWN-SPEZIAL - Heute Auftakt der Schachweltmeisterschaft: Dollars, Scheichs und CIA

Lesezeit: 7 min
26.11.2021 12:23  Aktualisiert: 26.11.2021 12:23
Am heutigen Freitag wird in Dubai die erste Partie der Schachweltmeisterschaft ausgetragen. Herausforderer Jan „Nepo“ Nepomnjaschtschi aus Russland eröffnet mit den weißen Figuren gegen Titelverteidiger Magnus Carlsen aus Norwegen. Im königlichen Spiel geht es um Millionen – und um die große Politik.
DWN-SPEZIAL - Heute Auftakt der Schachweltmeisterschaft: Dollars, Scheichs und CIA
Dubai: Eröffnungsfeier der Schachweltmeisterschaft mit Titelverteidiger Magnus Carlsen aus Norwegen (zweiter v. l.) sowie seinem Herausforderer Jan "Nepo" Nepomnjaschtschi aus Russland (dritter v. l.). (Foto: flickr/FIDE)
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Der amtierende Titelträger und Nummer eins der Weltrangliste, Magnus Carlsen, gilt bei der Schach-WM als Favorit. Berechnungen zufolge hat er aufgrund seiner Elo-Zahl, welche die Spielstärke eines Akteurs misst, eine 62-prozentige Sieges-Chance. Sein Gegner steht „nur“ auf Rang fünf der Weltrangliste – hat allerdings das sogenannte Kandidatenturnier, bei dem der Herausforderer des Weltmeisters ermittelt wird, in großem Stil gewonnen. Der Wettkampf geht über 14 Partien. Steht es am Ende 7:7-Unentschieden, wird der Sieger im Tiebreak ermittelt, der im Schnellschach-Modus - das heißt mit verkürzter Bedenkzeit - ausgetragen wird.

Das Duell findet im Rahmen der Expo statt, die eigentlich für 2020 geplant war, wegen Corona aber auf dieses Jahr verschobenen wurde. Die Weltausstellung in den Vereinigten Arabischen Emiraten ist die erste in einem arabischen Land. Auf der arabischen Halbinsel wurden bereits einige Schachturniere von Rang ausgetragen, beispielsweise die Schnellschach-WM in Doha, der Hauptstadt von Katar.

Künstler versus Zocker

Carlsen, der am Brett gelegentlich autistisch anmutendes Verhalten zeigt, gilt als Stratege, der tiefsinnige langwierige Pläne entwirft und seine Gegner „totsitzt“, das heißt, sie so lange piesackt, bis sie den entscheidenden Fehler begehen. Sein Herausforderer, der wegen seines kaum auszusprechenden Namens in der Schachwelt kurz und bündig „Nepo“ genannt wird, ist dagegen eher ein Rechenkünstler, der scharfe Verwicklungen anstrebt, bei denen es auf jeden Zug ankommt. Wären sie Faustkämpfer, so könnte man Carlsens Ansatz mit dem des Gentleman-Boxers Henry Maske vergleichen, während Nepos Stil am ehesten dem des Knockout-Königs Mike Tyson entspricht.

Carlsen, der am 30. November seinen 31. Geburtstag feiert, wurde 2013 durch einen klaren Wettkampf-Sieg über den Inder Viswanathan Anand Weltmeister und dominiert seither die Schachwelt. Sein ein halbes Jahr älterer Kontrahent galt im Teenager-Alter dem Norweger als mindestens ebenbürtig, vergeudete einen Teil seines Talents jedoch mit exzessivem Computerspielen, wobei ihm es ihm vor allem das Strategiespiel DotA angetan hatte. Für den Pferdeschwanz-Träger dürfte der WM-Kampf die letzte Chance sein, sich die Schachkrone aufzusetzen.

Aber es geht nicht nur um sportlichen Erfolg und um die Ehre: Zwei Millionen Dollar beträgt der Preisfonds, von dem der Sieger 60 Prozent erhält. Für Nepo – auch wenn er als Weltklassespieler gut verdient und in einem Jaguar durch Moskau kurvt – eine ganze Menge Geld, für den amtierenden Weltmeister allerdings nur Peanuts.

Millionen-Poker

Carlsen verfügt über ein Vermögen im zweistelligen Millionen-Bereich – wobei er das meiste Geld nicht am Schachbrett, sondern mit Online-Aktivitäten verdient. Die New York Times veröffentlichte kürzlich einen Bericht, in dem die vielfältigen Business-Aktivitäten des Norwegers detailliert aufgelistet werden. Herzstück seines Imperiums: Die Webseite „playmagnus.com“ mit 250 Angestellten und vier bis fünf Millionen Usern, deren Marktkapitalisierung circa 115 Millionen Dollar beträgt, wobei Carlsen Anteile im Wert von neun Millionen hält.

Die „Play Magnus“-Gruppe kaufte Anfang dieses Jahres den niederländischen Verlag „New in Chess“, der neben unzähligen Fachbüchern auch eine Zeitschrift gleichen Namens herausgibt, die als beste Schachpublikation der Welt gilt. Darüber hinaus organisierte das Unternehmen dieses und vergangenes Jahr - als Ausgleich zu den wegen Corona ausgefallenen regulären Turnieren - eine Serie von Online-Turnieren mit Millionen-Preisfonds, die 115 Millionen Live-Zuschaltungen generierte, was den Sponsoren Mastercard, FTX (eine Handelsplattform für Kryptowährungen) sowie Meltwater (entwickelt Software, die Online-Medien auswertet sowie nachverfolgt, ob und wie lange eine versandte E-Mail gelesen wurde) gut gefallen haben dürfte. Schließlich schlug Carlsen sogar vor, unter die klassische Weltmeisterschaft einen Schlussstrich zu ziehen und nur noch Online-Titelkämpfe auszutragen, womit er als letzter und sozusagen ewiger Champion in die Geschichte eingegangen wäre – mit dieser Idee kam der König der Schachwelt allerdings trotz seines großen Einflusses letztlich doch nicht durch.

Carlsen ist begeisterter und technisch durchaus versierter Hobby-Fußballer – seine Berufskollegen gehen häufig einer anderen Passion nach: Dem Pokern. Einige, wie beispielsweise der mehrfache WM-Anwärter und früher als „Schachpunk“ bezeichnete Russe Alexander Grischuk - der inzwischen mit der ukrainisch-russischen Weltklassespielerin Kateryna Lagno drei Kinder hat und auf diese aufpasst, wenn seine Frau am Brett sitzt -, unterbrachen ihre Schachkarriere sogar, um sich ganz dem Kartenspiel zu widmen. Reich wurde keiner von ihnen, mit einer Ausnahme: Der aus Bolivien stammende Enrique Guzman Hinojosa. Der Amateur-Schachspieler mit Ober- bis bestenfalls Zweitliga-Niveau, der als Kaufmann in Hamburg in Immobilien gemacht hatte, bevor er nach Gibraltar zog, war 2007 einer der Mitbegründer der Webseite „Pokerstrategy“, die sechs Jahre später für 38 Millionen Euro an den börsennotierten Software-Produzenten für Glücksspiele, „Playtech“ (Sitz: Isle of Man), verkauft wurde. Guzman, ein Mann mit gewaltigem Ego, nutzte sein Vermögen anschließend unter anderem dazu, die Webseite „Chess24“ aufzubauen, die später wiederum von „Play Magnus“ übernommen wurde. Eins dürfte feststehen: Carlsen sorgt vor – um in der Zeit, in der er nicht mehr Weltmeister ist, in der Schachwelt weiterhin die Fäden ziehen zu können.

Putins Sturz?

Einer, der ähnliches versuchte, wird den Titelkampf sicherlich genauestens verfolgen: Garri Kasparow, Weltmeister von 1985 bis 2000. Das 1963 in Baku - der heutigen Hauptstadt Aserbaidschans - geborene und seit mehreren Jahren in Kroatien lebende russische Schachgenie überwarf sich 1992 mit der FIDE (Fédération Internationale des Échecs, französisch für „Internationaler Schachverband“), gründete dann zunächst den „Professionellen Schach Verband“ (PCA) und später den „World Chess Council“ (WCC), schaffte es allerdings nie, die Vormachtstellung der FIDE, die nach wie vor als offizieller Weltschachbund angesehen wird, zu brechen. Kasparow war in seiner Jugend von dem äußerst regimetreuen Ex-Weltmeister und Übervater der sowjetischen Schachschule, Michael Botwinnik, trainiert worden, wodurch er allerdings nicht zum Kommunisten wurde, im Gegenteil: Seine politischen und ökonomischen Ansichten sind die eines überzeugten Neoliberalen mit einem ausgeprägten Hang zum Geldverdienen. Beispielsweise verlangt der mittlerweile 58-jährige Exweltmeister noch heute für Interviews ein Honorar.

Kasparow, der als Schachspieler einen Sinn für die Initiative hatte und prächtige Angriffe auf dem Brett ritt, versuchte auch, in der ganz großen Politik mitzumischen: Nach seinem Rückzug vom Schach im Jahr 2005 wandte er sich gegen die Herrschaft Wladimir Putins, gründete diverse Bürgerrechtsbewegungen und Parteien, versuchte sich als Präsidentschaftskandidat und kehrte seiner Heimat, nachdem er unter anderem verhaftet und für mehrere Tage festgehalten worden war, schließlich den Rücken.

Bis heute sind die Hintergründe seines politischen Engagements nicht geklärt. Fest steht, dass Kasparow 1999 damit begann, im konservativen Wall Street Journal Artikel zu publizieren. Seine Ex-Frau Maria, mit der er von 1989 bis 1995 verheiratet war, und seine aus der Ehe hervorgegangene Tochter Polina leben in den Vereinigten Staaten. Er selbst hat ein Büro in New York, und zwar an der vornehmen Adresse „Avenue of Americas“ in Manhattan. Darüber hinaus besitzt er nach eigener Aussage eine Green Card, also eine unbeschränkte Aufenthaltsgenehmigung für die USA, nicht jedoch die US-Staatsbürgerschaft. Von russischer Seite wird ihm wiederholt vorgeworfen, er betreibe im Auftrag der CIA die Destabilisierung Russlands. Stimmt es, dass Kasparow kein US-Bürger ist, würde das auf jeden Fall gegen die Vorwürfe sprechen – wären sie wahr, hätte der US-Geheimdienst mit Sicherheit für seine Einbürgerung gesorgt. Medienberichten zufolge ist Kasparow seit 2014 kroatischer Staatsbürger (wobei er laut eigener Aussage auch seinen russischen Pass weiterhin besitzt).

Geheimdienste und Gangster

Einer, der den Wettkampf nicht mehr verfolgen kann, ist Bobby Fischer, Weltmeister von 1972 bis 1975 und vielleicht größter Spieler aller Zeiten. Seines Titels ging der Amerikaner verlustig, weil er im Vorfeld des für 1975 anvisierten Wettkampfs gegen seinen russischen Herausforderer Anatoli Karpov Forderungen stellte, die die FIDE nicht akzeptieren konnte, woraufhin Fischer nicht antrat und kampflos verlor. Das drei Jahre vorher, also 1972, zu Hochzeiten des Kalten Krieges ausgetragene Duell des exzentrischen Amerikaners mit dem russischen Titelverteidiger Boris Spasski gilt bis heute als Wettkampf des Jahrhunderts, als Auseinandersetzung zwischen zwei rivalisierenden politischen Systemen, zwischen West und Ost. Ein Wettkampf, der übrigens fast nicht stattgefunden hätte. Als Fischer – der wieder einmal mit den Spielbedingungen nicht einverstanden war – sich weigerte, anzutreten, griff Richard Nixons Nationaler Sicherheitsberater Henry Kissinger kurzerhand zum Telefon und rief das sich zierende Genie an. Wie die Konversation ablief, wurde von beiden Gesprächspartnern später unterschiedlich dargestellt, möglicherweise auch unterschiedlich wahrgenommen: Fischer sagte, Kissinger habe gefleht und gebettelt; Kissinger wiederum behauptet, er habe Fischer geschickt als „Bauernopfer“ benutzt. Wie dem auch sei: Fischer ließ sich umstimmen, setzte sich ans Brett und siegte im großen Stil - obwohl der KGB alles daran setzte, einen Sieg des verhassten Vertreters des US-Imperialismus und -Kapitalismus zu verhindern, wie der renommierte Autor Frank Brady recherchiert hat, der Verfasser der wohl besten Biografie über Fischer.

Anschließend bestritt der Amerikaner allerdings 20 Jahre lang keine Partie mehr, setzte sich erst 1992 wieder ans Brett, um noch einmal gegen Spasski anzutreten und damit Millionen zu verdienen (das Geld hatte der Ausrichter, der serbische Gangster Jezdemir Vasiljevic, durch ein Schneeballsystem „verdient“, für das er später ins Gefängnis ging) . Das Duell fand auf der montenegrinischen Adria-Insel Sveti Stefan sowie in Belgrad statt, und weil wegen des Jugoslawien-Kriegs ein UN-Embargo bestand, erließen die US-Behörden Haftbefehl gegen Fischer, der deshalb nie wieder in sein Heimatland zurückkehren konnte und 2008 im Alter von 64 Jahren in Reykjavik verstarb. Kurios: Während der Schachkönner Zeit seines Lebens glühender Anti-Kommunist war - was teilweise dem Umstand zuzuschreiben sein dürfte, dass er in den USA der 50er Jahren aufwuchs, also während der sogenannten „Roten Angst“-Ära - war seine Mutter Regina eine felsenfeste Anhängerin der Lehre von Karl Marx. Sie war politische Aktivistin und lebte später sogar in der DDR, weswegen ihre Aktivitäten aufs Genaueste vom FBI überwacht wurden. Aber nicht nur ihre: Auch Bobby Fischer, ein Schach-Nerd per excellence, geriet während seiner Jugend ins Fadenkreuz von J. Edgar Hoovers Agenten. Die realisierten dann aber doch recht schnell, dass Fischer nur ein einsamer und wunderlicher Jugendlicher mit vielen Problemen war, kein die nationale Sicherheit gefährdender Spion des KGB.

Kampf um die Vorherrschaft

Mit Politik haben die beiden Protagonisten des heute beginnenden Wettkampfs wenig am Hut. Aber die Händel der Welt haben auch auf ihr Duell einigen Einfluss, genauso wie sie es auf die meisten der bisherigen Schachweltmeisterschaften hatten: Nepo darf nicht unter der Flagge seines Landes spielen, weil die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) Sanktionen gegen Russland verhängt hat. Gleichzeitig erinnert der Titelkampf an die zunehmende militärische Rivalität, die sich seit einiger Zeit in der Barentssee zwischen Russland auf der einen sowie Norwegen und seinen Nato-Verbündeten auf der anderen Seite entfaltet (die DWN berichteten: zuletzt hier, weiterhin hier, hier und hier).

Wie steht es mit der derzeitigen Schach-Weltrangliste – ist auch sie politisch symbolträchtig? China ist seit einigen Jahren Schach-Großmacht; der stärkste Spieler der Volksrepublik, Ding Liren, ist derzeit Ranglisten-Dritter (bis vor kurzem belegte er noch den zweiten Platz, von dem er jedoch letzte Woche vom iranisch-französischen Wunderkind Alireza Firouzja verdrängt wurde). Ein anderer Spieler, der 21-jährige Wei Yi, galt als möglicher WM-Kandidat, konnte jedoch – zumindest bisher – die hochgesteckten Erwartungen nicht erfüllen. Auf einen Schachweltmeister muss das Reich der Mitte also noch warten, den Sprung an die Spitze hat bislang noch keiner von seinen Söhnen geschafft (von seinen Töchtern schon, aber die Weltmeisterschaft der Frauen ist qualitativ mit der der Männer nicht vergleichbar). Ein Vorzeichen für den zukünftigen Lauf der Welt?

In Russland würde man sich sicherlich darüber freuen. Schach spielt seit dem Zusammenbruch der Sowjet-Union zwar nicht mehr die Rolle wie einst, darüber hinaus ist Präsident Putin nicht als ausgemachter Fan des königlichen Spiels bekannt. Aber zwischen 1927 und 2006 befand sich lediglich in der Zeit von 1935 bis 1937, als der Holländer Max Euwe die Nummer eins war, sowie von 1972 bis 1975 (Fischer) der Titel nicht in russischer Hand. Da würde man es schon gerne sehen, würde Nepo die Krone heim zu Mütterchen Russland bringen. Heute um 13.30 Uhr wird er einen seiner acht Bauern zwei Felder nach vorne bewegen und damit die Schlacht eröffnen.

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