Deutschland

Impfzwang für Pflegekräfte beschlossen - „einer der größten Wortbrüche in der Geschichte der Bundesrepublik“

Bundestag und Bundesrat haben einen Impfzwang für Pflegekräfte beschlossen. Der Schritt ist gewagt - kündigt ein Beschäftigter, fällt die Pflege zweier Bedürftiger aus.
10.12.2021 17:42
Aktualisiert: 10.12.2021 17:42
Lesezeit: 3 min
Impfzwang für Pflegekräfte beschlossen - „einer der größten Wortbrüche in der Geschichte der Bundesrepublik“
Der Plenarsaal im Reichstagsgebäude. (Foto: dpa) Foto: Bernd von Jutrczenka

Erstmals seit Beginn der Corona-Pandemie kommt in Deutschland eine Impfpflicht - allerdings vorerst begrenzt auf Gesundheitspersonal. Dies und weitere Neuregelungen haben Bundestag und Bundesrat am Freitag mit großer Mehrheit beschlossen. Beschäftigte in Einrichtungen mit besonders schutzbedürftigen Menschen wie Pflegeheimen und Kliniken müssen nun bis Mitte März 2022 nachweisen, dass sie geimpft oder genesen sind. Neben Ärzten können künftig auch Apotheker, Zahn- und Tierärzte impfen. Möglichkeiten der Länder zu regional härteren Beschränkungen bei sehr hohem Infektionsgeschehen werden ergänzt und verlängert.

Für das Gesetz der Koalition aus SPD, Grünen und FDP votierten im Bundestag 571 Abgeordnete, auch die Union hatte Zustimmung dazu erklärt. Es gab 80 Nein-Stimmen und 38 Enthaltungen. Der Bundesrat nahm die Neuregelungen wenige Stunden später einstimmig an.

Das Portal Tichy‘s Einblick berichtet:

Es ist das erste Ampel-Vorhaben im Bundestag und gleichzeitig einer der größten politischen Wortbrüche in der Geschichte der Bundesrepublik. Vor der Wahl sprach sich keine der nun im Bundestag vertretenen Parteien für eine solche Impfpflicht aus, am heutigen Freitag stimmten alle Fraktionen mit Ausnahme von AfD und Linkspartei dafür.

(...)

Insgesamt stimmten lediglich acht Abgeordnete jenseits der AfD gegen das De-Facto-Berufsverbot für umgeimpfte Pflegekräfte und Ärzte.

Vom 15. März 2022 an müssen dann Beschäftigte in Kliniken und Arztpraxen einen jeweils aktuellen Impf- oder Genesenen-Nachweis vorlegen. Dies ist ein scharfer Eingriff in eine ganze Reihe von Grundrechten; sowohl in die Berufsfreiheit als auch in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit. . Besonders die FDP, aber auch weite Teile der Grünen und der Kanzler persönlich starten mit einem Wortbruch in die neue Ära: Im Wahlkampf hatte vor allem die FDP den Eindruck erweckt oder zumindest die Erwartung geschürt, dass es mit ihr keine Impfpflicht geben werde. Jetzt wird behauptet, dass die Koalitionäre schon klüger geworden sind, kaum dass sie in das Amt gelangt sind: Leider ist das Gegenteil der Fall. Jeden Tag wächst die Erkenntnis, dass Zweifach-Impfung nicht umfassend schützt und der gelobte „Booster“ eine martialische Begriffserfindung ohne medizinische Relevanz ist. Nicht Boostern schützt vulnerable Gruppen, sondern testen, testen, testen. Wer aber mit Blick auf das Impfzertifikat das testen aussetzt, beschwört weitere Verbreitung geradezu herauf. Der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach weiß das ganz genau; er formuliert es sogar in der Talkshow- und handelt gegen die eigene Erkenntnis.

Trotz eines leichten Rückgangs der gemeldeten Neuinfektionen rät das Robert Koch-Institut (RKI) zu stärkeren Anstrengungen zum Eindämmen der Pandemie. Die hohe Infektionsgefahr bleibe angesichts der großen Fallzahl weiter bestehen, schrieb das RKI im Wochenbericht von Donnerstagabend. Die Zahl der neuen Fälle pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen sank nun auf 413,7 nach 422,3 am Vortag. Die Gesundheitsämter meldeten binnen eines Tages 61 288 neue Fälle.

Die Union kritisierte, dass es keine Rückkehr zur epidemischen Lage von nationaler Tragweite gebe, die bis vor kurzem Rechtsgrundlage für weitreichende Corona-Maßnahmen war. Die Länder erhielten wieder nicht alle nötigen Befugnisse, sagte Volker Ullrich (CDU). «Wir brauchen jetzt die volle Handlungsfähigkeit des Staates.» AfD-Fraktionschef Tino Chrupalla kritisierte die generelle Corona-Politik scharf: «Die Stabilität unserer Gesellschaft ist durch die Unverhältnismäßigkeit politischer Zwangsmaßnahmen deutlich strapaziert.»

Städtetags-Präsident Markus Lewe (CDU) unterstützte die kommende Impfpflicht. «Wir hoffen, dass sich nun viele weitere Beschäftigte in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern impfen lassen.» Zugleich setze man auch auf eine Sogwirkung für viele andere, die nicht erst bis zu einer allgemeinen Impfpflicht warten wollen. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz warnte indes, in der Altenpflege versorge eine Pflegekraft zwei Menschen. «Verlassen nur zehn Prozent der schon heute hochbelasteten Beschäftigten ihren Beruf, werden 200 000 Pflegebedürftige keine professionelle Hilfe mehr erhalten können.» Tägliches Testen und Impfen dürften nicht gegeneinander stehen.

Ein Überblick über die beschlossenen neuen Maßnahmen:

- Spezial-Impfpflicht: Beschäftigte in Einrichtungen wie Kliniken, Pflegeheimen und Arztpraxen müssen bis 15. März 2022 Nachweise über vollen Impfschutz oder eine Genesung vorlegen - oder eine Arzt-Bescheinigung, dass sie nicht geimpft werden können. Neue Beschäftigte brauchen das ab 16. März von vornherein.

- Mehr Impfungen: Über Ärzte hinaus dürfen befristet auch Apotheker, Tier- und Zahnärzte Menschen ab zwölf Jahren impfen. Voraussetzungen sind eine Schulung und geeignete Räumlichkeiten oder die Einbindung in mobile Impfteams.

- Regionale Maßnahmen: Bei sehr kritischer Lage können die Länder schon härtere Vorgaben für Freizeit oder Sport anordnen. Nun wird präzisiert, dass Versammlungen und Veranstaltungen untersagt werden können, die keine geschützten Demonstrationen sind - besonders im Sport mit größerem Publikum. Klargestellt wird auch, dass Schließungen der Gastronomie möglich sind. Und: Einzelne Länder hatten kurz vor Auslaufen der «epidemische Lage» am 25. November noch auf dieser alten Rechtsgrundlage härtere Maßnahmen beschlossen. Diese können nun noch länger in Kraft bleiben, nämlich bis zum 19. März.

- Testpflichten: Für Beschäftigte und Besucher in Arztpraxen, Kliniken und Pflegeheimen wurden schon Testpflichten festgelegt. Nun wird präzisiert, dass Patienten und «Begleitpersonen, die die Einrichtung oder das Unternehmen nur für einen unerheblichen Zeitraum betreten» nicht als Besucher gelten. Das gilt zum Beispiel für Eltern beim Kinderarzt oder Helfer bei Menschen mit Behinderung.

- Kliniken: Kliniken erhalten wieder Ausgleichszahlungen - etwa für frei gehaltene Betten oder Belastungen durch Patientenverlegung.

- Kurzarbeitergeld: Es wird ermöglicht, das schon bis Ende März verlängerte Kurzarbeitergeld aufzustocken. Ab dem vierten Bezugsmonat werden 70 Prozent der Nettoentgeltdifferenz gezahlt - wenn ein Kind im Haushalt lebt, 77 Prozent. Ab dem siebten Bezugsmonat sind 80 und mit Kind 87 Prozent geplant. Dies gilt für Beschäftigte, die bis Ende März 2021 während der Pandemie Anspruch auf Kurzarbeitergeld hatten.

- Masern-Impfpflicht: Teil des Gesetzes ist auch eine Änderung bei der Masern-Impfpflicht, die seit März 2020 für Neuaufnahmen in Kitas und Schulen gilt. Die Frist zur Nachweis-Vorlage für Kinder, die davor schon dort waren, wird nun bis Ende Juli 2022 verlängert.

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