Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wäre ein Eintritt der Ukraine in die NATO jetzt oder zu einem späteren Zeitpunkt denkbar, oder würde die NATO mit einem solchen Schritt einen Krieg mit Russland riskieren?
Harald Kujat: Russland fordert, dass die NATO eine Mitgliedschaft der Ukraine rechtsverbindlich ausschließt. Das ist mit dem Nordatlantikvertrag nicht vereinbar. Nur die NATO-Mitgliedstaaten haben das Recht, im Konsens zu entscheiden, wer Mitglied wird. Dieses Recht kann weder an Russland noch an die Ukraine abgetreten werden. Dass die Ukraine ihre Forderung ständig wiederholt, ist eine der Ursachen für die Spannungen zwischen der NATO und Russland, bringt die Ukraine ihrem Ziel jedoch keinen Schritt näher.
In der Zusammenarbeit mit der Ukraine seitens war es von Anfang an das Ziel, die ukrainischen Streitkräfte zu reformieren und sie der politischen Kontrolle zu unterstellen, verbunden mit der Erwartung, dass diese eine Reform zu einem innenpolitisch befriedeten, demokratischen Rechtsstaat durchführt. Davon ist die Ukraine noch weit entfernt. Auch die im Minsk-Abkommen vereinbarte Verfassungsreform ist bisher nicht erfolgt, was eigentlich bis Ende 2015 hätte geschehen sollen. Damit sollten die überwiegend von Russen bewohnten Landesteile größere Autonomie erhalten. Im Gegenzug sollte Russland seine Unterstützung der Separatisten beenden. Entscheidend ist aber, dass jeder neue Mitgliedsstaat ein Zugewinn an Sicherheit für alle NATO-Staaten bedeuten muss. Das ist der Sinngehalt eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Es darf nicht sein, dass die NATO durch die Mitgliedschaft der Ukraine einen potenziellen Krieg mit Russland in das Bündnis importiert. Und für die Vereinigten Staaten hat die Ukraine aus strategischer Sicht keine große Bedeutung im Vergleich zu dem Risiko eines Krieges mit der Nuklearmacht Russland.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Gibt es Ihrer Meinung nach Ansätze für eine Einigung mit Russland?
Harald Kujat: Das gemeinsame Bemühen um einen Interessenausgleich ist der einzige Weg aus einer jahrelangen Sachgasse, an deren Ende ein Konflikt steht, den niemand will.
Die NATO, einschließlich der Vereinigten Staaten, sollten mehr Verständnis für die russisch-ukrainischen Geschichte aufbringen und Russlands Sicherheitsinteressen respektieren, soweit sie nicht die eigene Sicherheit und die internationale Stabilität gefährden. Um Meinungsverschiedenheiten zu beseitigen, sollten die im NATO-Russland-Grundlagenvertrag vereinbarten Regeln und Verfahren angewendet werden. Die NATO sollte erklären, dass sie für die vorhersehbare Zukunft weder eine Mitgliedschaft der Ukraine noch die Stationierung von NATO-Truppen in der Ukraine beabsichtigt.
Die Ukraine sollte sich verpflichten, in Kürze die überfällige Verfassungsreform – wie im Minsk-Abkommen beschlossen – einzuleiten und der russischen Minderheit im Rahmen eines Bundesstaates größere Autonomie einzuräumen. Weiterhin sollte die Ukraine feststellen, dass sie weder beabsichtigt, ein Vorposten der NATO noch Russlands zu werden, sondern sich als Brücke zwischen beiden versteht. Sie sollte eine konsolidierte Neutralität, etwa wie Finnland, als ihr Ziel erklären, was übrigens Henry Kissinger schon vor einigen Jahren vorgeschlagen hat.
Russland sollte erklären, dass es nicht beabsichtigt, die Ukraine anzugreifen oder deren territoriale Integrität auf andere Weise zu verletzen. Russland sollte sich verpflichten, keine regulären Truppen in der Ostukraine einzusetzen und die Unterstützung der Separatisten einzustellen, sobald die ukrainische Verfassungsreform mit den daraus folgenden strukturellen und konstitutionellen Reformen implementiert ist.
Die NATO und Russland sollten erklären, dass sie die Zusammenarbeit, zu der sie sich im Grundlagenvertrag verpflichtet haben, wieder aufnehmen und ihre Absicht, „auf der Grundlage gemeinsamen Interesses, der Gegenseitigkeit und der Transparenz eine starke, stabile und dauerhafte Partnerschaft zu entwickeln“, erneuern.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Lassen sich die Verwerfungen zwischen der NATO und Russland in einen breiteren geopolitischen Kontext einordnen, der auch die Position Chinas berücksichtigt?
Harald Kujat: Während des Kalten Krieges war die Eindämmung der kommunistischen Sowjetunion das überragende politische Ziel des Westens. Nach dem 11. September 2001 verkündete Präsident Bush den globalen Krieg gegen den Terror als neue Strategie. Seit 2017 ist die Rivalität der großen Mächte – die Vereinigten Staaten, China und Russland - zum bestimmenden Faktor der Weltpolitik geworden. Manche sprechen auch von einer neuen Weltordnung. Europa spielt dabei eine eher nachgeordnete Rolle. Das besondere Charakteristikum dieser neuen Weltordnung ist die Interdependenz von politischer, wirtschaftlicher und militärischer Macht im Verhältnis der großen Mächte zueinander. China ist in diesem Wettbewerb die Großmacht, die potenziell in der Lage ist, mit ihrem wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Potential die globale Vormachtstellung der Vereinigten Staaten zu gefährden. Deshalb haben der Pazifik und Ostasien für die Vereinigten Staaten künftig größere Bedeutung als Europa. Für die Europäer bedeutet dies, dass sie größere Anstrengungen für ihre Sicherheit, die internationale Stabilität und ihr Verhältnis zu Russland unternehmen müssen. Russland ist entschlossen, seinen globalen Einfluss zu verstärken und ist nach wie eine militärische Großmacht, verfügt jedoch nicht über das demographische und wirtschaftliche Potential, um die globale Stellung der Vereinigten Staaten zu gefährden. Dabei spielt der Wettlauf um die Beherrschung neuer Technologien wie Künstliche Intelligenz, Quanten-Computer und hypersonische Trägermittel ebenso eine wichtige Rolle wie die ökologische Globalisierung, die globalen Klimaveränderungen und die Beherrschung künftiger Pandemien.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was bedeutet die sich abzeichnende stärkere Fokussierung der US-amerikanischen Geopolitik auf den pazifischen Raum (man erinnere sich nur an Obamas berühmten Ausspruch: „pivot to Asia“) für die Bedeutung und den Fortbestand der NATO?
Harald Kujat: Die Vereinigten Staaten sind sich bewusst, dass die massive Aufrüstung Chinas hinsichtlich der amerikanischen Beistandszusagen gegenüber Taiwan eine große Herausforderung ist. Sie suchen deshalb die Unterstützung von Verbündeten, auch in einer starken und geschlossenen NATO. Japan, Südkorea und Australien stehen an ihrer Seite. Auch mit Großbritannien können sie rechnen. Der NATO als Bündnis wächst allerdings größere Verantwortung im Verhältnis zu Russland und für die Aufrechterhaltung einer europäischen Sicherheitsarchitektur in dem Maße zu, wie die Vereinigten Staaten ihr militärisches Engagement in Europa reduzieren. Zudem setzt die präzise geographische Definition des NATO-Gebietes dem Einsatz der NATO-Grenzen. Deshalb sollten die Europäer es nicht allein den Vereinigten Staaten überlassen, zu Russland zu einem modus vivendi in der Ukrainefrage zu kommen. Es geht um die europäische Sicherheitsarchitektur und die europäischen Sicherheitsinteressen. Deshalb ist die NATO der Ort für einen Interessenausgleich mit Russland, die Entschärfung der Krise und für eine sichere Zukunft der Ukraine.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie beurteilen Sie die Überlegungen Emanuel Macrons, der eine strategische Autonomie der EU ins Gespräch brachte?
Harald Kujat: Macron hat dazu konkrete Vorschläge gemacht, die jedoch von der alten Bundesregierung nicht aufgenommen wurden. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung wird an mehreren Stellen der Begriff „strategische Souveränität“ verwendet. Das geht in die gleiche Richtung und ist in Frankreich positiv aufgenommen worden. Ich ziehe es jedoch vor, von der Selbstbehauptung Europas zu sprechen, und zwar in politischer, technologischer, wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht. Denn ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, Europa ist Teil der Rivalität der großen Mächte. Die sich verschärfende Rivalität der Vereinigten Staaten mit China, einschließlich eines möglichen Konflikts um die Unabhängigkeit Taiwans, erfordert eine Priorisierung amerikanischer Ressourcen. Um die transatlantische sicherheitspolitische Schicksalsgemeinschaft vital und belastbar zu erhalten, sollte Europa mehr Verantwortung für den eigenen Kontinent übernehmen. Die Stärkung der militärischen Fähigkeiten des europäischen Pfeilers würde zudem den politischen und militärischen Einfluss der Europäer in der Allianz in konzeptionellen und strategischen Fragen vergrößern. Und im Grunde könnte so der Nukleus einer europäischen Armee entstehen, die Macron vorgeschlagen hat, wenn die politischen Voraussetzungen dafür geeignet sind.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Glauben Sie, dass die Spannungen zwischen der NATO und Russland zu einer immer stärkeren Annäherung Russlands an China führen? Droht die Welt in ein „westliches“ und ein „östliches“ Lager zu zerfallen?
Harald Kujat: Diese Annäherung ist bereits erfolgt. Ich halte es für sehr besorgniserregend, dass sich diese Zusammenarbeit auf ein breites militärisches Spektrum erstreckt, darunter auch auf Nuklearwaffen und Raketentechnik. Russland intensiviert auch die militärisch-technologische Zusammenarbeit mit Indien. Indien hat erst kürzlich russische Waffen im Wert von sechs Milliarden Dollar bestellt. Das Risiko des Blockdenkens, mit China und Russland auf der einen Seite und den Vereinigten Staaten und Europa auf der anderen Seite besteht in der Tat. Andere Staaten werden sich aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen gezwungen sehen, sich der einen oder anderen Seite anzuschließen. Dies wäre ein gefährlicher Rückschritt in den internationalen Beziehungen und eine historische Fehlentwicklung der Völkergemeinschaft.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Kujat, vielen Dank für dieses Gespräch.
Zur Person: Harald Kujat (Jg. 1942), General der Luftwaffe a. D., war von 2000 bis 2002 als Generalinspekteur der Bundeswehr Deutschlands ranghöchster Soldat und von 2002 bis 2005 als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses der ranghöchste Nato-General.
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