Die Spekulationen schießen ins Kraut: Wird Russland die Ukraine angreifen? Wird es zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs einen zwischenstaatlichen Krieg in Europa geben, in dem schwerste moderne Waffen auf breiter Front zum Einsatz gelangen und Kampfflugzeuge um die Lufthoheit ringen werden?
Ich sage: Nein, das wird nicht geschehen. Und ich gehe sogar einen Schritt weiter: Es wird in absehbarer Zeit keinen Krieg mehr in Europa geben.
Betrachten wir zunächst die Ukraine-Krise: Wieviel hätte Russland zu gewinnen – und wieviel zu verlieren? Natürlich würde am Ende seines Feldzugs ein militärischer Sieg stehen. Aber dieser wäre teuer erkauft. Zum einen würde der Westen harte politische und vor allem wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland erlassen - Sanktionen, die seine Wirtschaft schwer treffen würden, eine Wirtschaft, die mit Ausnahme ihres Rohstoff-Sektors nur bedingt konkurrenzfähig und aufgrund ihrer mangelnden Diversifizierung stark auf Lieferungen aus dem Ausland angewiesen ist.
Zum anderen würden russischen Soldaten fallen. Noch verlustreicher wäre aber der nach dem Ende der regulären Kampfhandlungen einsetzende Partisanenkrieg, den die Ukrainer mit vom Westen gelieferten Waffen führen würden. Die weitreichendsten Folgen wären aber die Spuren, die der Partisanenkrieg in der russischen Gesellschaft hinterlassen würde. Dieser Krieg würde nämlich viel gnadenloser, unbarmherziger und grausamer geführt werden als ein Aufeinandertreffen zweier regulärer Armeen. Die russische Armee würde auf hinterhältige Weise bekämpft – und würde mit entsprechender Brutalität zurückschlagen. Die psychischen Wunden, die diese Barbarei schlagen, die Traumata, die sie auslösen würde, nähmen die russischen Soldaten mit in ihre Heimat zurück – und würden sie dort an sich selbst, an ihren Frauen, an ihren Mitmenschen auslassen. Wladimir Putin hat das Ende der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Der unglückselige Afghanistan-Krieg von 1979 bis 1989 trug in nicht geringem Maße zum Zusammenbruch der UdSSR bei, was Russland Präsident nur zu bewusst ist. Auch wenn der Einsatz in der Ukraine an Schrecken wohl nicht mit dem in Afghanistan zu vergleichen wäre – die aus der Eroberung des Nachbarlandes resultierenden gesellschaftlichen Verwerfungen wird Putin nicht riskieren.
Ich gehe aber, wie oben bereits erwähnt, noch einen Schritt weiter: Es wird auf europäischem Boden in absehbarer Zeit überhaupt keinen Krieg mehr geben. Der Grund: Unsere Gesellschaften haben sich zu sehr zivilisiert. Wir sind Friedensgesellschaften geworden. Konsum und das Streben nach individuellem Glück stehen im Vordergrund. Es mag diejenigen geben, in derem politischen Denken noch immer die eigene Nation das Maß aller Dinge ist, die sich von übersteigertem Nationalbewusstsein leiten lassen. Aber für ihr Land sterben, das wollen sie gleichwohl nicht. Und die Zahl derjenigen, die doch bereit dazu sind, ist so gering, dass sie kaum politischen Einfluss haben. Hinzu kommt die Globalisierung: Die Welt wird kleiner, wächst zusammen, Interaktionen über Grenzen hinweg nehmen in rasantem Maße zu. Und Menschen, die sich kennen, schießen nun mal in aller Regel nicht aufeinander, sondern lösen ihre Konflikte auf andere Weise. Fakt ist: Im Wettstreit der (zivilisierten) Nationen zählen politisches Geschick, ein möglichst großes BIP, die technologische Vorherrschaft. Kanonen, Panzer und Bomber spielen kaum noch eine Rolle.
Man muss nur mal einen Blick auf die Weltkarte werfen: Wo finden denn überhaupt noch Kriege statt? Auf vier Kontinenten, nämlich Europa, Nordamerika, Australien/Ozeanien und selbst in dem innerstaatlich so sehr von Gewalt geprägten Südamerika tun sie es nicht mehr. Auch in großen Teilen Asiens, nämlich dem russischen Teil des Kontinents, in Ostasien, auf dem indischen Subkontinent sowie in den Staaten des eurasischen Schachbretts herrscht Frieden. Nur im Mittleren Osten (Iran, Irak, Afghanistan), im Nahen Osten, in den ehemaligen russischen Republiken an der Grenze von Europa zu Asien (Armenien, Aserbaidschan, Georgien) sowie in Afrika sind Kriege noch ein Mittel der Politik. Das ist ein vergleichsweise kleiner Teil der Welt, ein zusammenhängender übrigens. Rund um ihn herum schweigen die Waffen.
Im Übrigen hat sich eine Theorie - deren Ursprünge auf die Schriften von Immanuel Kant und den amerikanischen Philosophen Thomas Paine zurückgehen, die ihre Wurzeln also im 18. Jahrhundert hat -, bis zum heutigen Tag als empirisch nicht widerlegbar erwiesen: Die Theorie des demokratischen Friedens. Ja, tatsächlich: Noch nie in der Geschichte haben zwei demokratisch organisierte Staaten gegeneinander Krieg geführt.
Nun kann man einwenden, dass die Zahl der demokratischen Staaten geringer ist als die der autoritär regierten. Nach dem sogenannten „Demokratie Index“ des renommierten britischen Magazins „Economist“ waren im Jahr 2020 75 von 167 untersuchten Staaten Demokratien, in Prozent ausgedrückt: 45, also weniger als die Hälfte.
Es existiert allerdings eine weitere Theorie, nach der bestimmte Staaten nicht gegeneinander Krieg führen. Aufgestellt 1996 von dem amerikanischen New York Times-Journalisten Thomas Friedman besagt sie, dass Länder mit McDonald´s-Restaurants nicht gegeneinander kämpfen. Will man exakt sein, hat sich die Theorie als falsch erwiesen: Der Jugoslawien-Krieg, der dreimonatige Kargil-Krieg zwischen Indien und Pakistan von Mai bis Juli 1999 sowie der Kaukasus-Krieg von 2008 wurden zwischen „McDonald´s-Ländern“ geführt. Aber: Dies sind eben nur wenige Ausnahmen. Das heißt, die Theorie trifft nicht uneingeschränkt zu, zeigt aber eine klare Tendenz auf: Nämlich, dass Länder, in denen eine Mittelklasse existiert, die groß genug ist, damit McDonald´s die Eröffnung eines Restaurants als profitabel und als sicher ansieht, einen solch hohen Wohlstand sowie einen Grad an Integration in das globale System erreicht haben, dass ihre Bevölkerungen einen Krieg nicht mehr als annehmbare Option ansehen. Oder, wie Friedman es ausdrückt: „Menschen in McDonald´s-Ländern wollen nicht in den Krieg ziehen. Sie wollen für Hamburger anstehen.“ Um das, was ich oben geschrieben habe, noch einmal zu wiederholen: Diese Menschen mögen sich durchaus dafür aussprechen, dass ihr jeweiliger Heimatstaat seine nationalen Interessen verfolgt, möglicherweise sogar mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln – nur eben mit Ausnahme der militärischen.
Zu hoffen bleibt, dass es in Hinblick auf die McDonald´s-Theorie nicht zu einer weiteren Ausnahme kommen wird: In Form eines Krieges im Fernen Osten zwischen China und den USA. Um auf Friedmans Aussage zurückzukommen: Große Teile der chinesischen Gesellschaft sind noch nicht im Wohlstand angelangt (die durchschnittliche Kaufkraft eines Chinesen beträgt ein Drittel der eines Deutschen), ihre Begegnungen mit der Welt außerhalb der Grenzen der Volksrepublik sind gering (und selbst innerhalb ihres riesigen Heimatlandes dürften viele Chinesen nur wenig herumkommen). Diese Hinderungsgründe für einen Krieg fallen also weg. Auch ein weiterer tut es: Der Aspekt der Rasse. Der amerikanische Historiker Michael H. Hunt hat in einem vielbeachteten Buch aufgezeigt, wie in amerikanischen Propaganda-Bildern während des Zweiten Weltkriegs Deutsche und Japaner dargestellt wurden: Die Deutschen als grausame Barbaren – aber eben als Menschen, die Japaner jedoch als Affen. Die Atombombe wurde über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen – ein Abwurf über Hannover und Nürnberg wäre niemandem in Washington in den Sinn gekommen. Man muss sich auch nur mal die Art und Weise ins Gedächtnis rufen, wie die Wehrmacht kämpfte – sie führte den Krieg im Osten um ein Vielfaches grausamer als den an der Westfront.
Im Fernen Osten ist ein Waffengang also weiterhin möglich – und zwar zwischen den beiden höchstgerüsteten Ländern der Welt. Bleibt zu hoffen, dass der Menschheit diese Katastrophe erspart bleibt.
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