Politik

Affront gegen Nato: Türkei setzt im Ukraine-Krieg auf Neutralität

Die Türkei bemüht sich im Ukraine-Krieg um Neutralität. Dazu gehört auch, dass sie gemäß dem Vertrag von Montreux Kriegsschiffe vom Schwarzen Meer fernhält.
01.03.2022 17:54
Lesezeit: 2 min
Affront gegen Nato: Türkei setzt im Ukraine-Krieg auf Neutralität
Am 29. September empfing Wladimir Putin Recep Tayyip Erdogan in seiner Sommerresidenz Bocharov Ruchei. (Foto: dpa) Foto: Vladimir Smirnov

Der Krieg in der Ukraine wird für das Nato-Land Türkei zu einem Balanceakt. Besonders in ihrer Rolle als Hüterin der Meerengen zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer steckt das Land nach Ansicht von Experten derzeit in einer schwierigen Lage. «Die Türkei muss ihre Aktionen nun sehr sorgfältig einfädeln», sagte Serhat Güvenc, Professor für Internationale Beziehungen an der Istanbuler Kadir-Has-Universität am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur. Die Diplomatie Ankaras verglich er mit einem Akrobaten, der am Klippenrand tanze.

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte am Montag eine Warnung für Kriegsschiffe aller Länder ausgesprochen, die Meerengen nicht zu passieren. Er betonte, dass sich die Türkei an den sogenannten Vertrag von Montreux halte.

Darin geht es um Folgendes: Die Meerengen Bosporus und Dardanellen bilden die einzige Verbindung von Schwarzem Meer und Mittelmeer - und sind darum wichtige Wasserwege für Schwarzmeeranrainer wie die Ukraine - aber für allem für Russland. In dem Vertrag von Montreux wurde der Türkei nach dem Ersten Weltkrieg die Souveränität über die Meerengen zurückgegeben, in ihm sind auch die Zugangsrechte geregelt.

Der Vertrag sieht Regelungen für unterschiedliche Szenarien vor und gibt der Türkei Interpretationsspielraum. In Kriegszeiten, wenn die Türkei sich selbst im Krieg befindet oder sich bedroht fühlt, kann sie laut Vertrag recht frei über die Zufahrtswege verfügen. Von einer akuten Bedrohung hat die Regierung im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg bisher nicht gesprochen.

Wenn die Türkei - wie im aktuellen Fall - nicht am Krieg beteiligt ist, soll sie die Durchfahrt von Kriegsschiffen der Konfliktparteien verhindern (Artikel 19). Ausgenommen sind Kriegsschiffe, die durch die Meerengen in ihren Heimathafen zurückkehren. Experten sind der Ansicht, dass zurzeit faktisch Artikel 19 greift. Ob die Türkei ukrainischen oder russischen Kriegsschiffen die Durchfahrt durch die Meerengen tatsächlich verweigert, dürfte sich erst im konkreten Fall zeigen. Cavusoglu hatte am Montag betont, dass es zurzeit keine Anfragen für Durchfahrten gebe.

In der Praxis hat eine Verweigerung der Durchfahrt für den Krieg in der Ukraine ohnehin eher Symbolcharakter. Zum einen kann Russland von der Heimathäfen-Regelung Gebrauch machen. Zum anderen hat Moskau in den vergangenen Wochen bereits zahlreiche Kriegsschiffe über die Meerengen in das Schwarze Meer gebracht. «Russland braucht die Meerenge nicht», sagt Hüseyin Bagci, Professor für internationale Beziehungen an der Universität ÖDTÜ in Ankara. «Die Flotte im Schwarzen Meer ist stark genug, um die Ukrainer total zu zerstören.»

Die Türkei bleibt in ihrer Rhetorik zum Vertrag ungenau - das könnte gewollt sein, um sich offiziell auf keine Seite zu stellen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat den Einmarsch Russlands zwar verurteilt, ist aber bislang um eine neutrale Haltung bemüht.

«Erdogan hält die Beziehungen zu Russland aufrecht und geht in keiner Weise auf Konfrontation», sagt Günter Seufert, Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) in Berlin. So habe die Türkei auch keine Sanktionen gegen Russland verhängt und ihren Luftraum im Gegensatz zu Europa nicht gesperrt. Es gebe mehrere Gründe für den Balanceakt, so Seufert - unter anderem wirtschaftliche, aber auch das Bestreben, sich unabhängig vom Westen zu machen.

Wirtschaftlich ist die Türkei, wie andere Länder auch, von russischem Gas abhängig. 2020 stammten fast 34 Prozent der Gasimporte und rund 65 Prozent der Weizenimporte aus Russland. Eine Verschlechterung der Beziehungen könnte die Einfuhren verteuern. Dabei ist die Türkei ohnehin schon von einer Währungskrise gebeutelt. Auch im Syrien-Krieg und in weiteren Konflikten der Region ist Ankara auf ein gutes Verhältnis zu Moskau angewiesen.

Die Warnung Cavusoglus von Montag richtete sich nach Ansicht Seuferts eher gegen Länder, die keine Schwarzmeer-Anrainer sind, wie etwa die USA. Das erschwere es den Nato-Staaten, Kriegsschiffe in das Schwarze Meer zu bringen, so Seufert. «Die Türkei verfolgt eine Politik, die Russland nicht weh tut», aber stelle sich auch nicht gegen die Nato.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Panorama
Panorama Reichsbürger-Verbot: Dobrindt zerschlägt "Königreich Deutschland"
13.05.2025

Sie erkennen den Staat nicht an, verbreiten Verschwörungstheorien und zahlen häufig keine Steuern. Die Szene der Reichsbürger war...

DWN
Politik
Politik Geopolitischer Showdown in der Türkei: Selenskyj, Putin – und Trump im Anflug
13.05.2025

Ein historisches Treffen bahnt sich an: Während Selenski den russischen Präsidenten zu direkten Friedensgesprächen nach Istanbul...

DWN
Panorama
Panorama Umwelt? Mir doch egal: Klimaschutz verliert an Bedeutung
13.05.2025

Klimaschutz galt lange als gesellschaftlicher Konsens – doch das Umweltbewusstsein in Deutschland bröckelt. Eine neue Studie zeigt, dass...

DWN
Immobilien
Immobilien Wohntraum wird Luxus: Preise schießen in Städten durch die Decke
13.05.2025

Die Preise für Häuser und Wohnungen in Deutschland ziehen wieder deutlich an – vor allem in den größten Städten. Im ersten Quartal...

DWN
Finanzen
Finanzen Wird die Grundsteuer erhöht? Zu viele Ausgaben, zu wenig Einnahmen: Deutsche Kommunen vorm finanziellen Kollaps
13.05.2025

Marode Straßen, Bäder und Schulen: Fast neun von zehn Städten und Gemeinden in Deutschland droht in absehbarer Zeit die Pleite. Bereits...

DWN
Politik
Politik EU im Abseits: Trump bevorzugt London und Peking – Brüssel droht der strategische Bedeutungsverlust
12.05.2025

Während Washington und London Handelsabkommen schließen und die USA gegenüber China überraschend Konzessionen zeigen, steht die EU ohne...

DWN
Panorama
Panorama Nach Corona nie wieder gesund? Die stille Epidemie der Erschöpfung
12.05.2025

Seit der Corona-Pandemie hat sich die Zahl der ME/CFS-Betroffenen in Deutschland nahezu verdoppelt. Rund 600.000 Menschen leiden inzwischen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Machtkampf der Tech-Eliten: Bill Gates attackiert Elon Musk – „Er tötet die ärmsten Kinder der Welt“
12.05.2025

Ein milliardenschwerer Konflikt zwischen zwei Symbolfiguren des globalen Technologiekapitalismus tritt offen zutage. Der frühere...