Politik

Die Ukraine: Das ewige Grenzland

Lesezeit: 12 min
26.03.2022 15:21  Aktualisiert: 26.03.2022 15:21
Was sind die historischen, kulturellen und ideologischen Hintergründe des Ukraine-Konflikts? Der renommierte Schweizer Militärhistoriker und Russland-Kenner Hans Rudolf Fuhrer gibt Antworten auf diese Fragen.
Die Ukraine: Das ewige Grenzland
Die "Mutter-Heimat-Statue" in Kiew. (Foto: dpa)

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Der Name «Ukraine» bedeutet «Grenzland». Schon seit Jahrhunderten liegt die Region im Spannungsfeld verschiedener Mächte. Warum aber hat sie eine so herausragende geostrategische Bedeutung? Und was sind ihre kulturellen und historischen Besonderheiten? Der Schweizer Militärhistoriker Hans Rudolf Fuhrer, der in den frühen 90er Jahren mehrfach in der ehemaligen Sowjetunion war und deren Zusammenbruch hautnah miterlebte, gibt Antworten auf diese Fragen. Er zeichnet das anschauliche, faszinierende Porträt eines Landes, das seit einiger Zeit im Zentrum der weltweiten Aufmerksamkeit steht.

Viele Völker in vier Regionen

Das heutige ukrainische Territorium liegt zwischen den Karpaten im Westen, den Pripjet-Sümpfen im Norden, der zentralrussischen Platte im Osten und dem Schwarzen beziehungsweise Asowschen Meer im Süden. Die wichtigsten Flüsse des Landes sind der Pruth, der Dnjestr, die Bug, der Dnjepr sowie der Donez. Sie strukturieren das Land, das eine Ost-West-Ausdehnung von 1.100 und eine Nord-Süd-Ausdehnung von 800 Kilometern hat. Die fruchtbare Schwarzerde der Ukraine macht sie zu einer Kornkammer.

Die Ukraine besteht aus vier Großregionen:

  • Die Schwerindustrie-Gebiete des Ostens mit den Zentren Donec’k, Luhans’k, Charkiv, Dnipropetrovcs’k.
  • Der Süden, das heißt der Raum nördlich des Schwarzen Meeres mit der Hafenstadt Odessa und der inzwischen von Russland annektierten Halbinsel Krim.
  • Die zentrale und nördliche Ukraine auf beiden Seiten des Dnjepr mit der Landeshauptstadt Kiew.
  • Die eher ländlich geprägte Westukraine (Galizien, Westwolhynien, Bukowina und Transkarpatien).

Während im Osten und im Süden mehrheitlich russisch gesprochen wird, herrscht im Zentrum und im Westen das Ukrainische vor. Dabei ist die Bevölkerung der Ukraine bunt gemischt, es leben dort: Ukrainer, Russen, Belarussen, Rumänen, Ungarn und Slowaken, dazu Minderheiten, die es nur in der Ukraine gibt, wie die Russinen in den Karpaten sowie die Krimtataren. Die grossen Klammern, die die Bevölkerung zusammenhalten, sind die orthodoxe Religion und die historische Einheit in der Kiewer Rus bis ins 13. Jahrhundert. Es fehlt aber eine staatliche Identität.

Spielball der großen Mächte

Es bleibt festzuhalten, dass die Ukraine seit der Eroberung durch die Mongolen im 13. Jahrhundert bis zu ihrer Gründung als unabhängiger Staat im Jahr 1991 praktisch immer von stets wechselnden Mächten beherrscht wurde. Dabei hatten die Teilgebiete sehr unterschiedliche Zugehörigkeiten. So gehörte die Region Galizien in der Westukraine vier Jahrhunderte zu Polen-Litauen, 150 Jahre zu Österreich, dann wieder Jahrzehnte zu Polen und wurde erst 1939 und dann - nach zwischenzeitlicher deutscher Besatzung - nach Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1945 ein zweites Mal Teil der UdSSR. Die Regionen am rechten Dnjepr-Ufer gehörten ebenfalls vier Jahrhunderte zum Grossfürstentum Litauen, dann zu Polen-Litauen, dann infolge der Teilungen Polens zu Russland und seit 1920 zur Sowjetunion. Die linksufrige Ukraine gehörte drei Jahrhunderte zu Polen-Litauen und seit 1654 zu Russland. Die Steppengebiete der Süd- und Ostukraine hingegen waren nie Bestandteil des Königreichs Polen-Litauen; sie gehörten ununterbrochen zu Russland oder zur Sowjetunion. Der Zankapfel Krim war erst osmanisch/tatarisch, seit 1774 russisch und erst seit 1954 Bestandteil der Ukraine. Nikita Chruschtschow hatte sie eigenmächtig der brüderlichen Sowjetrepublik geschenkt zu Ehren der 300-jährigen Zugehörigkeit zu Russland.

Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass in ihrer Geschichte die Ostukraine nie eine Aufklärung/Reformation erlebt hat und die Westukraine nur eine, die durch den römischen Katholizismus gefilterte war. Damit fehlt ein entscheidender Faktor, der die Staaten Westeuropas in unterschiedlichem Maße geprägt hat. Man sollte dies im Hinterkopf behalten, wenn man das Welt-, Menschen- und Gesellschaftsbild in dieser Region verstehen möchte.

Kulturell betrachtet gibt es zwischen der Ukraine, Russland und Belarus viele Gemeinsamkeiten. Auch Russland selbst sieht seine Ursprünge in der sogenannten Kiewer Rus, einem mittelalterlichen slawischen Großreich. Vor diesem Hintergrund ist die Aussage Wladimir Putins vom 12. Juli 2021 zu verstehen: «Die tausendjährige alte Rus ist der riesige Raum, in dem sich heute drei Staaten befinden, Russland, Ukraine und Belarus: Russen, Ukrainer und Weissrussen sind ein Volk.» Tatsache ist: Die Ukraine hat für die Russen eine besondere Bedeutung, sie ist mehr als irgendein Staat auf der Landkarte. Tatsächlich sind Russland und die Ukraine kulturell eng miteinander verflochten, was kriegerische Auseinandersetzungen zwischen ihnen höchst kompliziert erscheinen lässt.

Besonders die russische Revolution der Jahre 1917/18 hatte auf die Ukraine einen großen Einfluss. Am 7. November 1917 proklamierte die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, sich als «Ukrainische Volksrepublik» als Teil der russischen Föderation. Das aber wollten die Bolschewiki nicht akzeptieren. Lenin setzte eine ukrainische Sowjetregierung ein. Er wollte einen zentralisierten Staat und die alleinige Macht. Doch in den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk verfolgten nationalistische ukrainische Kreise weiterhin einen Unabhängigkeitskurs und hatten zu diesem Zweck eine Abordnung gesandt. Sie suchten zuerst Hilfe bei den Alliierten und nach deren zurückhaltenden Antworten bei den Mittelmächten. Hier fanden sie offene Türen, da die Mittelmächte nach einem Druckmittel gegen die noch junge Revolution suchten. In der Folge proklamierte die Rada im Januar 1918 die volle Unabhängigkeit der Ukraine. Die Mittelmächte schlossen am 9. Februar einen Separatfrieden, den sogenannten «Brotfrieden», der, wie der Begriff sagt, ukrainisches Getreide vorsah gegen Anerkennung des ukrainischen Staates als unabhängig. Nach Ablauf des Waffenstillstands am 17. Februar starteten die Mittelmächte zu der entscheidenden Grossoffensive «Faustschlag». Die Rote Armee leistete keinen Widerstand mehr. Die sowjetischen Führer fürchteten um die Revolution und waren unter Protest bereit, die deutschen Forderungen zu erfüllen. Am 3. März 1918 musste die Russische Sowjetrepublik im Frieden von Brest-Litowsk die Unabhängigkeit der Ukraine anerkennen. Eine neu eingesetzte, den Deutschen genehme Regierung unter Pavlo Skoropadskyj, einem russifizierten Nachkommen eines alten Kosakengeschlechtes, General und Grossgrundbesitzer, versuchte unter Protektion der Mittelmächte wieder Ruhe und Ordnung herzustellen. Die neue Regierung wollte zum Beispiel den Gutsbesitzern ihr Land zurückgeben, was aber von den ukrainischen Bauern vehement abgelehnt wurde. Zehntausende von Bauern erhoben sich und lieferten deutschen Truppen erbitterte Gefechte. Nach dem Abzug der deutschen Truppen am 14. Dezember 1918 wurde die Ukraine zu einem Hauptschauplatz des innerrussischen Bürgerkrieges. 1920 hatten die Bolschewiki die vollständige Kontrolle über die Ukraine wieder gewonnen.

Ein uralter Traum der ukrainischen Nationalbewegung war in Erfüllung gegangen: die Vereinigung der West- mit der Dnjepr-Ukraine, aber: wieder unter Fremdherrschaft.

In den Pariser Friedensverträgen (1919) und im Frieden von Riga (1921) wurde der letzte Rest dieses Traums zerstört, denn die Grenzen im Westen wurden neu gezogen: Bestätigt wurden die Zugehörigkeit der nördlichen Bukowina (ehemals österreichisch) und Bessarabiens zu Rumänien, der Karpaten-Ukraine (seit dem Mittelalter Teil des Königreiches Ungarn) zur Tschechoslowakei sowie Galiziens (welches seit der ersten Teilung Polens österreichisch gewesen war) auf - vorerst - 25 Jahre zu Polen.

Radikaler Nationalismus

Die deutsche Besetzungszeit 1941–1944 während des Zweiten Weltkriegs führte dann dazu, dass der in der Westukraine immer vorhandene radikale Nationalismus starken Rückenwind erhielt. Zwei organisierte militärische Einheiten der OUN (Organisation ukrainischer Nationalisten) mit den Decknamen «Nachtigall» und «Roland» marschierten sogar mit der Wehrmacht in die Ukraine ein. Mitglieder der Bandera-Fraktion, benannt nach dem Anführer Stepan Bandera (1909 – 1959), proklamierten schon am 30. Juni 1941 in Lemberg einen souveränen ukrainischen Staat. Ein unbändiger Russenhass, gepaart mit einem rassistischen Judenhass waren zwei Elemente, welche diese nationalistischen Kämpfer mit den Invasoren verbanden. Der Russenhass hatte seine Wurzeln nicht zuletzt in der schrecklichen, von Stalin inszenierten Hungersnot (Holodomor) der 1930er Jahre, und der Judenhass durch den Umstand, dass zahlreiche Juden im Allgemeinen hohe Posten innehatten und zur Elite des Landes zählten.

Die radikalen ukrainischen Nationalisten haben Tausende von Menschenleben auf dem Gewissen und waren wegen ihrer grenzenlosen Brutalität gefürchtet. Allerdings reagierten die deutschen Behörden anders als erwartet: Bandera und seine Mitkämpfer wurden nach kooperativen Anfängen verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschickt. Das rassistische Denken der Nationalsozialisten, die in allen Slawen Untermenschen sahen, mag hier die Oberhand über strategische Überlegungen behalten haben. Ich zitiere einen Ausspruch des Reichskommissars Erich Koch: «Es gibt keine freie Ukraine. Das Ziel unserer Arbeit muss sein, dass die Ukrainer für Deutschland arbeiten, und nicht, dass wir das Volk hier beglücken. Die Ukraine hat das zu liefern, was Deutschland fehlt […] Für die Haltung der Deutschen im Reichskommissariat ist der Standpunkt massgebend, dass wir es mit einem Volk zu tun haben, das in jeder Hinsicht minderwertig ist. […] Das Bildungsniveau der Ukrainer muss niedrig gehalten werden […] Es muss ferner alles getan werden, um die Geburtenrate dieses Raumes zu zerschlagen. Der Führer hat besondere Massnahmen hierfür vorgesehen.» Wir werden auf rechtsextremes Gedankengut und rechtsextreme Strömungen in der Ukraine, die in den Jahren zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg ihren Ursprung haben, an späterer Stelle zurückkommen.

Nachdem Michail Gorbatschow im März 1985 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt worden war, läutete er eine Politik der Transparenz (Glasnost) und des Umbaus (Perestroika, ukrainisch Perebudova) ein. Und während im Westen die Ukraine weiterhin unbestritten als Teil der Sowjetunion und die Ukrainer als Russen wahrgenommen wurden, gewannen Unabhängigkeitsbewegungen verschiedener Nationalitäten innerhalb der Sowjetunion an Kraft, zunächst vor allem im Baltikum und in Transkaukasien. Gorbatschow gestand im Juli 1990: «Wir standen unvorbereitet da, als die akutesten Probleme, die sich unter der Kruste scheinbarer Eintracht angesammelt hatten, durchbrachen und hervorströmten.» Er versuchte an der Einheit der Sowjetunion festzuhalten, doch seine Politik hinkte hinter der dramatischen Entwicklung in der Peripherie hinterher, so dass er schliesslich scheiterte und im Dezember 1990 seinen Rücktritt bekannt gab.

Einen wichtigen Anstoss zu laut geäußerter Kritik - die in der Sowjetunion ja ansonsten kaum existierte - gab in der Ukraine im April 1986 die Katastrophe von Tschernobyl. Insbesondere die Verharmlosung des Unfalls und die Verschleppung von Gegenmassnahmen durch die sowjetischen Behörden in Kiew und Moskau mobilisierten erstmals breitere Kreise. Die Erweckung eines ökologischen Bewusstseins wurde zu einem wichtigen Element der politischen Opposition. 1990 erfolgte dann die Gründung einer «Partei der Grünen», welche auch die von der Industrie verursachten Umweltschäden in der Ost-Ukraine anprangerte.

Während die zentralen und regionalen Kader in den übrigen Teilrepubliken der Sowjetunion bis zu drei Vierteln erneuert wurden, behielten in der Ukraine die Mehrheit der alten Nomenklatura ihre Ämter. Insbesondere der konservative Parteichef Scerbyc'kyj blieb in Kiew und im Politbüro, wo er seit 1972 sass, an der Macht. Der Rücktritt erfolgte erst aus Alters- und Gesundheitsgründen im September 1989. Er wurde von Gorbatschow noch in Ehren verabschiedet. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass sich die oppositionellen Kräfte in der Ukraine nur mit Mühe entfalten konnten.

Soziales Unruhepotential entlud sich dann bei Massenstreiks der Bergleute im Sommer 1989 in den Kohlebergwerken des Donezk-Beckens. Die Überraschung war groß, weil sich dort auch die stark russifizierten und von der Partei kontrollierten Bergleute effizient organisiert hatten. Glasnost und Perestroika hatten also unterschwellig auch in der Ukraine das Aufleben oppositioneller Kräfte gestärkt.

In Galizien kam es unterdessen zu Manifestationen der ukrainischen Nationalbewegung. Sie kämpfte in der ersten Phase für die Wiederzulassung der mit Rom unierten Griechisch-Katholischen Kirche. Der dagegen gerichtete Widerstand der Russisch-Orthodoxen Kirche war nicht erfolgreich. Ein Besuch Gorbatschows Ende 1989 im Vatikan hatte zur Folge, dass die Griechisch-Katholische Kirche in Galizien wieder zugelassen wurde. Deren Oberhaupt Kardinal Ljubacivs'kyj kehrte aus dem Exil in Rom nach Lemberg zurück. Der Kampf für die Unierte Kirche gab der nationalen Bewegung in der Westukraine wichtige Impulse und war wesentlich dafür verantwortlich, dass sie in Galizien eine erheblich breitere Massenbasis fand als in der übrigen Ukraine. In der engen Verbindung von Konfession und Nation und in der Vorreiterrolle der Westukraine zeigten sich am Ende des 20. Jahrhunderts erstaunliche Parallelen zur Nationalbewegung nach dem Ersten Weltkrieg. Es kam zum Zusammenschluss verschiedener oppositioneller Gruppen in einer «Volksbewegung der Ukraine für die Perestroika» (ukrainisch «Ruch»). Die «Ruch» verfolgte zunächst nur mässige, meist kulturpolitische Zielsetzungen. So stellte sie den sowjetischen Bundesstaat nicht infrage, sondern organisierte beispielsweise im Januar 1990 zum Gedenken an die Vereinigung der Westukrainischen mit der Ukrainischen Volksrepublik des Jahres 1919 eine Menschenkette von über 400.000 Personen zwischen Kiew und Lemberg. Sie brachte jedoch die blaugelbe Nationalfahne der Volksrepublik Ukraine und andere nationale Symbole vermehrt in die Öffentlichkeit. Ihr Programm orientierte sie an den Zielen von Demokratie und Menschenrechten westlicher Art. Im März 1990 gewann sie in den Wahlen zum Obersten Sowjet der Ukraine in der von ihr geführten «oppositionellen Allianz» 117 von 450 Mandate. Das war kein durchschlagender Erfolg. Ihre Wählerschaft kam aus der Westukraine und aus Kiew. Die Mehrheit der Abgeordneten im ukrainischen Parlament stammte aber weiterhin aus der alten kommunistischen Nomenklatura.

Unabhängigkeit

Nach der Aufhebung des Monopols der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) im Jahr 1990 entstanden unter dem Schirm der «Ruch» politische Parteien. Ihr Spektrum reichte nun von Kommunisten über Grüne bis zu nationalistischen Gruppierungen, auch wenn sie noch relativ klein blieben und die Masse der Bevölkerung nicht erreichten. Trotzdem gewann die «Ruch» zunehmend an Bedeutung und wurde zu einer nationalen Unabhängigkeitsbewegung, welche die Politik in der Ukraine immer stärker beeinflusste. Ukrainisch wurde 1990 zur Staatssprache erklärt. Wesentlich war, dass auch Teile der alten Parteielite wesentliche Punkte des Ruch-Programmes übernahmen und nun ebenfalls Kurs auf eine Unabhängigkeit der Ukraine nahmen.

Am 16. Juli 1990 erklärte der Oberste Rat der Ukraine die Souveränität der «Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik». Eine ähnliche Entwicklung erfolgte zeitgleich unter anderem in den Baltischen Staaten, Transkaukasien, Moldau und auch in Slowenien und Kroatien. Das bedeutete zwar noch nicht die Unabhängigkeit der Ukraine. Die Erklärung betonte aber deren Neutralität und ihr Recht auf eigene Streitkräfte. Die Ukraine begann außenpolitisch aktiv zu werden, schloss in der Folge eine Reihe von bilateralen Abkommen mit anderen Unionsrepubliken und gelangte auch zu einem wichtigen Vertrag vom 19. November 1990, in welchem sich die Russische- und die Ukrainische Republik gegenseitig ihre Grenzen und ihre Souveränität anerkannten. Damit war erstmals von russischer Seite die politische Existenz der Ukraine offiziell anerkannt worden. Zu beachten ist, dass in diesen ersten Jahren eine nationalistische Russlandphobie, die grosse Bevölkerungskreise mitgetragen hätten, kein Thema war. Diese zeigte sich aber bald. Ein Studentenstreik erzwang den Rücktritt des kommunistischen Ministerpräsidenten. Ein weiterer Schritt war die Erklärung des Vorranges der Republik-Gesetze gegenüber denjenigen der Union. In einem Referendum vom März 1991 sprachen sich 70 Prozent der ukrainischen Stimmbürger für die Erhaltung der Sowjetunion aus, aber 80 Prozent bejahten gleichzeitig die nur der Ukraine gestellte Frage, dass die Ukraine Bestandteil einer Union souveräner Staaten auf den Prinzipien der Souveränitätserklärung sein solle. Damit war im Kern bereits die Ende 1991 entstehende «Gemeinschaft unabhängiger Staaten» (GUS) anvisiert.

Nach dem gescheiterten, gegen Gorbatschow gerichteten Moskauer-Putsch vom August 1991 erfolgte – wie in zahlreichen anderen Sowjetrepubliken – auch in der Ukraine die Unabhängigkeitserklärung vom 24. August 1991. In der Abstimmung vom 1. Dezember 1991 wurde der Unabhängigkeitskurs des Parlamentes von 90 Prozent der Bevölkerung bestätigt, also nicht nur der Ukrainer ukrainischer Muttersprache, welche lediglich 73 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Im galizischen Gebiet waren es 98,7 Prozent Ja-Stimmen, im ostukrainischen Gebiet Charkiv 75,8 Prozent und auf der Krim bei geringer Wahlbeteiligung lediglich 54,2 Prozent.

Bei der Wahl des ersten freien Präsidenten der Ukraine standen sich der Parlamentspräsident Leonid Kravcuk und Vjaceslav Cornovil, der seit den 1960er Jahren in der Opposition aktiv gewesen und dafür viele Jahre in sowjetischen Straflagern und Gefängnissen verbracht hatte, gegenüber: Gewählt wurde mit 61 Prozent der Stimmen Leonid Kravcuk; Cornovil erhielt 23 Prozent, die meisten davon in der Westukraine.

Die Ukrainer erreichten die Unabhängigkeit also rasch und ohne größere Konflikte und Rückschläge. Im Gegensatz zu den Litauern, Esten oder Georgiern fiel ihnen der neue Staat kampflos in den Schoss. Für die Staatsbildung fehlte ihnen deshalb aber die integrative Wirkung des gemeinsamen Befreiungskampfes. Die alte kommunistische Nomenklatura zog sich einfach ein demokratisches Mäntelchen an.

Zudem war mit der Unabhängigkeit das wichtigste Ziel, auf das die Opposition hingearbeitet hatte, überraschend schnell verwirklicht, und die wichtigsten Probleme schienen automatisch gelöst zu sein. Diese Annahme erwies sich jedoch wie in anderen Fällen der Entstehung von Nationalstaaten als Trugschluss. Viele vom Hauptziel der Unabhängigkeit verdrängte Probleme traten jetzt mit besonderer Schärfe hervor.

Die jetzt unabhängige Ukraine stand nämlich vor der Aufgabe, die Transformation des kommunistischen Staates zu einer neuen Ordnung nach dem Vorbild des Westens zu vollziehen. An die Stelle der sieben Jahrzehnte herrschenden autoritären Partei-Diktatur sollten parlamentarische Demokratie und Rechtsstaat treten. Die zentral gerichtete Planwirtschaft sollte durch marktwirtschaftliche Prinzipien abgelöst werden. Dabei standen die politische und ökonomische Transformation in enger Wechselwirkung. Das musste mit einer weitgehend in kommunistischen Denkstrukturen verhafteten, oft korrupten und eigennützigen alten Nomenklatura realisiert werden. Gerade in der rohstoffreichen Ukraine blühte die Korruption auf und ist bis heute übermächtig.

Der junge Staat stand weiter vor der Aufgabe, die Grenzen seines Territoriums zu sichern sowie die einzelnen Regionen mit ihrer jeweils anderen Geschichte und mit ihrer polyethnischen Bevölkerung zu einem Staatsvolk, zu einer politischen Nation, zu integrieren. Das hat bis heute nicht funktioniert. Die Regelung der Sprachenfrage und der Umgang mit Minderheiten ist hierfür ein eklatantes Beispiel. Das soll ein Vergleich mit der Schweiz zeigen: Es wäre der deutschschweizerischen Mehrheit nie eingefallen, den Welschen in der Romandie, den Rätoromanen oder den Tessinern ihre Sprache zu verbieten. Die Schweiz hat einen föderalistisch-kooperativen Ansatz. Denn Demokratie nach eidgenössischem Verständnis ist nicht die Herrschaft der 50,1 Prozent über die 49,9 Prozent, sondern die Kunst der Mehrheit, die Interessen der Minderheit angemessen zu berücksichtigen. Ganz anders in der Ukraine. Das demokratieverachtende Denken zeigt sich hier beispielsweise im Unterdrücken der vorwiegend russischsprachigen Bevölkerung auf der Krim und im Donezbecken. Die ukrainische Regierung hat anfangs Juli 2021 ein Gesetz erlassen, dass Leute je nach Abstammung andere Rechte haben. Nur die richtigen Ukrainer sind im Besitz aller Rechte. Das erinnert an die Nürnberger Rassengesetze von 1935. Putins berühmter historischer Exkurs vom Juli war eine Antwort auf dieses Gesetz.

Die oben genannten ukrainischen faschistischen militanten Nationalisten spielen in diesem unseligen Prozess, der mit dem Maidan-Putsch im Jahr 2014 begonnen hat und seither bei der Durchsetzung ukrainischer Interessen gegen alles Russische eine bestimmende Rolle. Zwar weist die Mehrheit der Meinungsumfragen darauf hin, dass Rechtsextreme in der Ukraine politisch bedeutungslos sind. Andererseits gelten beispielsweise das «Regiment Asow» und seine Gesinnungsgenossen als tragendes Element der paramilitärischen Freiwilligenformationen. Sie sind in die Nationalgarde integriert, somit dem Innenministerium und nicht der Armee unterstellt. Sie kämpfen seit 2014 gegen prorussische Separatisten im Osten des Landes und waren auch in der Maidan-Revolution im Verborgenen aktiv. Die Verwendung entsprechender Symbole (unter anderem eine blaue oder schwarze Wolfsangel auf gelbem Grund) weist auf ihre Ideologie hin.

Eines ihrer Zentren ist bei Mariupol, wo sie seit Beginn der Kämpfe 2014 gegen Russlandfreundliche Menschen gewaltsam vorgehen und Freiwilligenschulung betreiben.

Die Hassreden auf sozialen Medien sind eines ihrer Kampfmittel. Von einem Augenzeugen weiss ich, dass sie in Mariupol eine Polizeistation mit zu wenig patriotischen Beamten angezündet haben. Wer sich ins Freie retten wollte, wurde erschossen. Es ist nicht verwunderlich, dass die SS-Division «Das Reich» ihr Vorbild ist, von der solche Schandtaten bekannt sind und die auch die Wolfsangel auf ihrer Fahne hatten. Die Parallele zu den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg ist nicht von der Hand zu weisen, doch mit einer faschistischen und nicht mit einer kommunistischen Ideologie. Ihre relative politische Bedeutungslosigkeit ist an der Front irrelevant.

LESEN SIE MORGEN DEN ZWEITEN TEIL DES GROSSEN UKRAINE-PORTRAITS VON HANS RUDOLF FUHRER:

  • An welcher Linie man die Ukraine aufteilen könnte
  • An welche Vereinbarungen Kiew sich nicht hielt
  • Was man Putin anlasten muss - und was dem Westen

Zum Autor: 

Hans Rudolf Fuhrer (Jg. 1941) war bis 2006 Dozent für Militärgeschichte an der Militärakademie der ETH Zürich sowie Privatdozent an der Universität Zürich. Er schrieb mehrere Bücher, veröffentlichte Artikel in der Neuen Züricher Zeitung und verfasste Beiträge für das Standardwerk «Historisches Lexikon der Schweiz». Fuhrer ist Oberst a. D. der Schweizer Armee.


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