Politik

Im zweitgrößten Land der EU macht sich politisches Chaos breit

Lesezeit: 6 min
16.04.2022 09:16
Beim ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen zeigte sich eine Neuordnung der politischen Landschaft des Landes, die für die Zukunft der EU nichts Gutes verheißt.
Im zweitgrößten Land der EU macht sich politisches Chaos breit
Frankreichs Präsident Emanuel Macron bei einem Wahlkampfauftritt. (Foto: dpa)

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Beim ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen zeigte sich eine Neuordnung der politischen Landschaft des Landes, die für die Zukunft der EU nichts Gutes verheißt. Zwar konnte der amtierende und EU-begeisterte Präsident Emmanuel Macron mit 27,8 Prozent den ersten Platz erobern, auf dem zweiten Platz rangiert mit 23,1 Prozent die nationalistische und EU-kritische Obfrau des „Rassemblement National“, Marine Le Pen. Am 24. April entscheidet die Stichwahl, wer von den Beiden Präsident wird.

Betrachtet man die Ergebnisse der ersten Wahlrunde im Detail, so zeigt sich, dass die rechtsextreme Marine Le Pen bereits mit sicheren 30 Prozent in die nächste Runde startet, Macron aber noch nicht über eine solide Basis verfügt. Auch ist seine Gegnerin geschickt auf Stimmenjagd, wenn sie erklärt, trotz aller Kritik keinen EU-Austritt anzustreben, oder eine nationale Verteidigung einfordert, während Macron für eine EU-Armee wirbt. Glaubt man den Umfragen, wird Macron gewinnen. Neben den beiden Spitzenkontrahenten versinkt die politische Landschaft Frankreichs im Chaos.

Macron ­ ein Sozialdemokrat im liberal-bürgerlichen Gewand

Wie in den meisten westeuropäischen Demokratien ergab sich nach 1945 eine grobe Aufteilung zwischen den Konservativen, die Charles de Gaulle als ihren geistigen Vater sehen, und den Sozialisten, die sich an Francois Mitterand orientieren. Wirklich Platz für eine dritte Kraft war kaum.

Macron selbst kommt ursprünglich von den Sozialisten, siegt aber seit 2017 mit seiner Partei „La République en marche“ auf der Basis einer sozialdemokratischen Politik, die sich an den wirtschaftlichen und sozialen Reformen der SPD in Deutschland unter Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Jahrtausendwende orientiert. Mit dieser Ausrichtung hält er die Mehrheit im Parlament, kam aber bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen nur auf 27,8 Prozent. Macrons liberal-bürgerliche Politik stößt auf vehementen Widerstand in breiten Kreisen der Bevölkerung wie die monatelangen Protestaktionen der „Gelben Westen“ gezeigt haben.

Mélenchon – ein erfolgreicher Sozialist der alten Schule

Mit Jean-Luc Mélenchon demonstrierte das alte sozialistische Lager bei der Wahl Präsenz. Mélenchon hat, wie Macron, die alte SPF verlassen und eine eigene Partei gegründet „La France insoumise“, „Frankreich, das sich nicht unterwirft“. Er übernahm die Proteste der „Gelben Westen“ gegen die Reformen Macrons, kam bei den Präsidentschaftswahlen im ersten Wahlgang auf beachtliche 22 Prozent und belegte den dritten Platz. Dieses Ergebnis ist paradoxer Weise dennoch ein Vorteil für Macron: Viele Linke lehnen die rechtsextreme Position von Marine Le Pen rundweg ab und misstrauen ihrer neuen, liberaleren Linie. Macron kann also aus diesem Kreis mit vielen Stimmen rechnen. Interessant für die politische Entwicklung Europas ist der Umstand, dass Mélenchon, im Gegensatz zu vielen anderen sozialistischen Politikern, mit alten, linken Parolen Erfolg hat und viele Unzufriedene anspricht.

Die SPF, die frühere Partei von Macron und Mélenchon, ist kaum noch wahrnehmbar. Die Kandidatin der SPF, die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, kam auf 1,8 Prozent der Stimmen.

Die konservativen Erben de Gaulles haben keine Wähler mehr

Das konservative Lager, das sich gerne auf de Gaulle beruft, steckt in einer ähnlichen Krise wie die sozialistische Partei. Die Gruppierung, die lange das politische Geschehen dominierte und durch Präsidenten wie Jacque Chirac und Nicolas Sarkozy repräsentiert wurde, war dieses Mal durch Valéry Pécresse vertreten. Als die Präsidentin des Regionalrats der Region Paris und Umgebung im Dezember nominiert wurde, stieß sie auf große Zustimmung. Die Konservativen hofften auf eine Renaissance, die Umfragewerte gingen in die Höhe. Der positive Zug dauerte nicht lange. Dazu kam eine Verurteilung des früheren Präsidenten Nicolas Sarkozy wegen versuchter Einflussnahme in einem Gerichtsverfahren und wegen Verletzung der Regeln bei der Finanzierung seines Wahlkampfs. Zudem vertritt die Gaullistin eine Politik der Mitte, die bereits von Macron besetzt ist.

Somit musste sich Valéry Pécresse mit bescheidenen 4,8 Prozent der Stimmen begnügen. Die Konservativen hatten auch nicht, wie die Sozialisten mit Mélenchon, eine Alternative im Rennen. Die Erben des legendären Präsidenten Charles de Gaulle stehen nun gleichsam bei null. Nicolas Sarkozy gab sogar schon eine Wahlempfehlung für Macron ab.

Das rechtsextreme Lager kann mit sicheren 30 Prozent rechnen

In diesem Umfeld punktet die Kandidatin der Nationalisten und Rechtsextremen, Marine le Pen, und erreichte mit 23,1 Prozent den zweiten Platz hinter Macron und vor Mélenchon. Die Vorsitzende der von ihrem Vater Jean-Marie Le Pen gegründeten Partei „Front National“ ist für viele wählbar. Sie hat ihren Vater aus der Partei ausgeschlossen, den Namen der Organisation in „Rassemblement National“ geändert, die Aggressivität reduziert und sich vom militanten Antisemitismus verabschiedet. Sie verfolgt nun eine nationalistische und EU-kritische, aber eher gemäßigte Politik und plädiert auch nicht mehr für einen Austritt Frankreichs aus der EU. Gerade noch rechtzeitig vor dem Ukraine-Krieg ist sie auf Distanz zu Russlands Präsident Wladimir Putin gegangen, der die Partei seit langem fördert, um die EU von innen zu schwächen.

Lange dominierte Le Pen das rechtsextreme Spektrum alleine. Bei den aktuellen Präsidentschaftswahlen vertritt ein weiterer Kandidat betont nationalistische und vor allem islamfeindliche Positionen: Dem Journalisten Eric Zemmour ist es in den vergangenen Monaten gelungen, größte Aufmerksamkeit zu erregen. Er schaffte aus dem Stand, ohne eine politische Vergangenheit zu haben, 7,1 Prozent der Stimmen und kam auf den vierten Platz. Le Pen und Zemmour gehen zwar eigene Wege, doch werden die Wähler von Zemmour vermutlich Le Pen ihre Stimme geben, sodass das nationale Lage mit sicheren 30,2 Prozent in die Stichwahl startet, während Macron nur mit seinem Ergebnis vom vergangenen Sonntag mit 27,8 Prozent in das nächste Rennen geht.

Der deutsche Ausstieg aus der Atomkraft wird zum Wahlkampfthema in Frankreich

Jetzt, in diesen Tagen zwischen dem ersten und dem zweiten Wahltag, besetzt zudem Le Pen zwei Themen, die Macron unter Druck bringen können – die Atomenergie und die Landesverteidigung.

Die französische Energiepolitik beruht auf der Stromerzeugung aus Atomkraftwerken. Deutschland verabschiedet sich gerade in Etappen von der Kernkraft, kann aber seine Stromversorgung nicht aus anderen Quellen decken, da man gerade dabei ist, auch die Produktion aus Kohle und Öl zu beenden. Wind und Sonne sind nicht in der Lage, eine verlässliche Versorgung zu garantieren und so steht Erdgas im Vordergrund, das vor allem aus Russland kommt und derzeit Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen ist. Im Ukraine-Konflikt mit Moskau kann es jederzeit zu einem Lieferstopp und einem Zusammenbruch des deutschen Energiemarkts kommen.

Die Folge wäre, dass Deutschland weit mehr noch als bisher auf die Absicherung der Stromversorgung im europäischen Verbund angewiesen wäre. Unweigerlich würde dies die französische Produktion fordern und vermutlich sogar überfordern. Das heikle Thema meidet Macron, weil er als amtierender Präsident des Rats der EU-Regierungen keine Belastung der Achse Berlin-Paris aufkommen lassen will. Diese Problematik besetzt nun Marine Le Pen und greift Deutschland scharf an. Es sei unverantwortlich, eine Politik zu betreiben, die die Sicherheit der Stromversorgung im eigenen Land und in der gesamten EU gefährde. Sie betont die Notwendigkeit der bestehenden Atomkraftanlagen und sieht die Zukunft in der Weiterentwicklung des Wasserstoffs als Energieträger. Übrigens: Der grüne Präsidentschaftskandidat Jadot ist zwar gegen Atomkraft, plädiert aber nur für einen langfristig angelegten Ausstieg und nicht für das deutsche Modell.

Le Pen für eine eigene, starke Armee – Macron für eine EU-Armee

Le Pen nimmt die deutsche Energiepolitik zum Anlass, um generell die Kooperation zwischen Paris und Berlin zu kritisieren und eine Neudefinition einzufordern. So stellt sie die derzeit betriebene Rüstungskooperation in Frage, bei der die gemeinsame Entwicklung von neuen Waffensystemen erfolgt. Frankreich sollte diese Aktivitäten allein betreiben. Man müsse das Verteidigungskonzept des eigenen Landes weiterentwickeln und bei aller Partnerschaft mit der NATO und Deutschland die nationale Armee in den Vordergrund stellen. Mit diesen Äußerungen trifft sie den Nerv der de-Gaulle-Anhänger, die bis heute die Politik des Generals vertreten. Zur Erinnerung: De Gaulle hat vor sechzig Jahren veranlasst, dass Frankreich innerhalb der NATO einen eigenen Weg geht und die so genannte „force de dissuasion“ die Abschreckungskraft, mit atomarer Ausrüstung aufbaut. Das Hauptquartier der NATO musste von Paris nach Brüssel verlegt werden.

Marine Le Pen spielt diese Karte in diesen Tagen vor der Stichwahl aus, während Macron sich für den Aufbau einer europäischen Verteidigung mit einer EU-Armee stark macht.

Die Grünen finden mehr Beachtung, haben aber kaum Wähler

Auffallend ist, dass in Frankreich die Grünen zwar in letzter Zeit größere Beachtung finden, aber letztlich kaum Wähler haben. Yannick Jadot, der Kandidat der Grünen kam bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen nur auf 4,6 Prozent. Jadot gehört zu den eher pragmatischen Grünen und verfolgt daher keinen fundamentalistischen Kurs. Allerdings deckt sich sein wirtschaftspolitisches Konzept einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft mit den Prinzipien des von der EU-Kommission unter Ursula von der Leyen verfolgten „Green Deals“. Es ist bezeichnend für die EU-kritische Stimmung in Frankreich, dass das große Projekt der amtierenden EU-Kommission den französischen Grünen keinen Auftrieb gibt.

Die Startbedingungen für den zweiten, entscheidenden Wahlgang sind unübersichtlich

Die traditionellen Wähler der Nachfolger von der Gaulle fühlen sich nun von Le Pen und Macron gleichermaßen angesprochen. Bei Le Pen sehen sie ihren Nationalstolz angesprochen und finden sich in ihrem Bestreben, Frankreich wieder als führende Nation zu sehen, bestätigt. Macron entspricht wiederum ihren Vorstellungen von einem bürgerlichen Präsidenten, der sich auf der Weltbühne behauptet. Mit großer Wahrscheinlichkeit dürfte Macron die Stichwahl am kommenden Sonntag mit Stimmen aus dem heimatlosen, konservativen Lager und aus dem Kreis der linken Mélenchon-Anhänger gewinnen, doch erschweren die Stimmungsschwankungen der Wähler jede Prognose.

Frankreich ist heute von einem sozialliberalen, EU-Freundlichen Lager unter Macron und einem nationalistischen, ausländerfeindlichen Anti-EU Lager unter Le Pen geprägt. Beide Gruppen kommen auf jeweils etwa sichere rund 30 Prozent der Wähler. Folglich weiß man bei 40 Prozent nicht, wie sie wählen, welche Entwicklung, welche Stimmung ihr Verhalten bestimmt. Man darf in diesem Zusammenhang nie die Abstimmung über eine Verfassung für Europa vergessen, bei der 2005 die Franzosen mit 54,7 der Stimmen gegen eine Stärkung der EU votiert haben. Es zeigt sich deutlich, dass die Haltung der Franzosen gegenüber der EU in wenigen Worte zu fassen ist: Mitglied bleiben, aber einen eigenen Weg gehen und die französische Identität bewahren.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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