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Neutraler Sieger: Wie geschickt die Türkei durch den Ukraine-Krieg navigiert

Lesezeit: 4 min
29.04.2022 11:00
Auf geschickte Weise wahrt die Türkei im Ukraine-Konflikt Neutralität. Dies bringt dem Land nicht nur wirtschaftliche Vorteile, sondern ist auch ein gelungener politischer Schachzug.
Neutraler Sieger: Wie geschickt die Türkei durch den Ukraine-Krieg navigiert
Der Westen ist daran gescheitert, den Präsidenten der Türkei Erdogan von seiner Neutralität im Ukraine-Konflikt abzubringen. (Foto: dpa)
Foto: Michael Kappeler

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Der Türkei ist es bisher gelungen, im Ukraine-Krieg Neutralität zu wahren, und befindet sich nun in einer einzigartigen Position. Zwar hat das Land den russischen Angriff auf die Ukraine als "inakzeptabel" und als "Verletzung des Völkerrechts" verurteilt. Doch zugleich hat Ankara es seitdem beharrlich abgelehnt, sich den umfangreichen Sanktionen des Westens gegen Russland anzuschließen. Dafür hat die Türkei nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Gründe.

"Die Türkei ist ein Nachbar beider Länder [Ukraine und Russland], mit denen sie intensive wirtschaftliche Beziehungen unterhält", sagt Halil Akinci, der von 2008 bis 2010 als türkischer Botschafter in Russland tätig war, gegenüber der Epoch Times. "Es liegt also in Ankaras Interesse, mit beiden Ländern auf gutem Fuß zu stehen". Die Neutralität versetze die Türkei auch in die perfekte Position, um zu vermitteln und so ihr internationales Profil zu schärfen, "da wir die einzigen sind, die für beide Seiten akzeptabel sind".

Auf die Frage, ob die Nato Druck auf die Türkei ausübe, damit das Land eine härtere Linie gegenüber Russland einschlägt, sagt Akinci, dass niemand vernünftigerweise von Ankara Sanktionen erwarten könne - vor allem angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Realitäten. Aufgrund ihrer "massiven Handelsabhängigkeit von Russland" sei die Türkei nicht in der Lage, Sanktionen zu verhängen. "Wie der Rest der Welt kann auch die Türkei die enormen natürlichen Ressourcen Russlands nicht ignorieren", so Akinci.

Derzeit stammen schätzungsweise 45 Prozent der türkischen Erdgasimporte aus Russland sowie mehr als 75 Prozent des importierten Weizens. Dies stellt eine ernste Situation für ein Land dar, dessen Währung im Jahresvergleich um mehr als 80 Prozent abgestürzt ist, wodurch die Preise für viele Grundnahrungsmittel wie Brot in die Höhe geschnellt sind. Zugleich hat die Türkei starke Handelsbeziehungen zur Ukraine, die 10 bis 15 Prozent ihrer Weizeneinfuhren liefert. Ankara und Kiew kooperieren auch in der Rüstung, etwa bei der Produktion von Drohnen.

Nach Ansicht von Mehmet Seyfettin Erol, dem Leiter der Denkfabrik Ankara Center for Crisis and Policy, hat die Türkei "vernünftige Gründe" dafür, die Sanktionen gegen Russland abzulehnen. "Die Türkei positioniert sich als Vermittler, indem sie die Kommunikationskanäle mit Russland offen hält", so Erol. Ankara und Moskau würden in einer Vielzahl von Fragen auf der Grundlage von "Kooperation und Wettbewerb" eng zusammenarbeiten würden.

Die türkische Neutralität im Ukraine-Krieg hat dazu beigetragen, das Profil des Landes zu schärfen, indem es sich als idealer Vermittler präsentiert - eine Rolle, die das Land mit Begeisterung übernommen hat. Am 10. März trafen sich der russische und der ukrainische Außenminister in der türkischen Urlaubsstadt Antalya, und am 29. März führten Delegationen beider Länder Gespräche in Istanbul. Obwohl die Gespräche von allen Seiten als "konstruktiv" bezeichnet wurden, brachten sie keine greifbaren Durchbrüche.

Russland scheint weiterhin militärisch die Oberhand zu haben und verlangt Garantien dafür, dass die Ukraine niemals der Nato beitreten wird. Zudem verlangt Moskau von Kiew die Anerkennung der russischen Souveränität über die Krim, die im Jahr 2014 von Russland annektiert worden ist, sowie die Anerkennung der beiden russischsprachiger Gebiete in der ostukrainischen Region Donbas als unabhängige Volksrepubliken Donezk und Luhasnk.

Aufgrund der jüngsten Signale aus beiden Lagern hält es Denkfabrik-Chef Erol für wahrscheinlich, dass die Ukraine "zuerst eine Nato-Mitgliedschaft aufgeben wird und Moskau dann im Gegenzug eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine akzeptieren wird". Der wichtigste Knackpunkt ist seiner Meinung nach die Donbass-Region. "Russland fordert die Anerkennung der so genannten Republiken, aber die Kiewer Verwaltung und die internationale Gemeinschaft scheinen dies nicht zu akzeptieren."

Da große Mächte wie Russland und die Nato involviert sind, könnte der Konflikt zu einem lange schwelenden Stellvertreterkrieg werden, der Monate oder sogar Jahre dauern könnte, warnt Erol und verweist auf frühere russische Verwicklungen in Afghanistan und Tschetschenien. Ex-Botschafter Akinci stimmt zu, dass das Erreichen einer Verhandlungslösung "sehr lange" dauern könnte. Allerdings könnten sich die diplomatischen Positionen seiner Ansicht nach auch ändern, wenn sich die militärische Lage erheblich ändern sollte.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sowohl dem russischen Präsidenten Wladimir Putin als auch seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Zelenskyy eine offene Einladung zu weiteren Gesprächen in Istanbul ausgesprochen. "Ich bin der festen Überzeugung, dass eine friedliche Lösung im Dialog gefunden werden kann", sagte er am 18. April. Drei Tage später eroberten russische Streitkräfte die Hafenstadt Mariupol am Schwarzen Meer.

Das osmanische Reich und das russische Reich sind historische Rivalen, die sich im Laufe von vier Jahrhunderten mindestens ein Dutzend großer Konflikte lieferten - zuletzt im Ersten Weltkrieg, als sie im Kaukasus, in Ostanatolien und im Schwarzen Meer Krieg gegeneinander führten, bis Russland 1917 aus dem Krieg ausschied. Doch dies ist Vergangenheit. Heute bemüht sich die Türkei - auch nach 70 Jahren Mitgliedschaft in der Nato - um eine gute Nachbarschaft mit Russland.

Dennoch bestehen zwischen den beiden Ländern starke Differenzen, insbesondere im Nahen Osten nach dem Arabischen Frühling. So unterstützt die Türkei in Syrien bewaffnete Anti-Assad-Gruppen, während Russland die Regierung von Präsident Bashar al-Assad unterstützt. Auch in Libyen stehen die beiden Länder auf entgegengesetzten Seiten. Ihre Beziehungen erreichten Ende 2015 einen Tiefpunkt, als eine türkische F-16 ein russisches Suchoi-Kampfflugzeug in der Nähe der türkischen Grenze zu Syrien abschoss.

Im Jahr 2016 erholten sich die Beziehungen wieder, nachdem ein Putschversuch gegen Erdogan scheiterte, für den Ankara Fetullah Gülen verantwortlich machte, einen in den USA ansässigen Prediger. Die Weigerung der USA, ihn an die Türkei auszuliefern, führte zum Abbruch der Beziehungen zu den USA und gleichzeitig zu verbesserten Beziehungen zu Moskau. Im Jahr 2017 kündigte die Türkei den Kauf des S-400-Raketenabwehrsystems aus Russland an. Der Schritt führte sogar dazu, dass die USA begrenzte Sanktionen gegen die Türkei verhängten.

Akinci zufolge sind die Differenzen zwischen der Türkei und den USA, zumindest in Bezug auf den Nahen Osten, "eigentlich tiefer" als die mit Russland. "Unsere amerikanischen Verbündeten haben zum Beispiel eine Organisation unterstützt, die sich gegen die territoriale Integrität der Türkei richtet, und tun dies auch weiterhin." Tatsächlich unterstützen die USA den syrischen Zweig der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). "In diesem Fall stellt die US-Politik tatsächlich eine größere Gefahr für die Türkei dar als alles, was die Russen tun", so Akinci.


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