Das neue Jahrtausend hat die Menschheit vor neue und große Herausforderungen gestellt: Als die Vereinten Nationen 1945 gegründet wurden, belief sich die Weltbevölkerung auf 2,5 Milliarden Menschen, die sich politisch auf nur zwei Machtblöcke verteilten. 75 Jahre später wird die Erde wird von rund 7,8 Milliarden Menschen bevölkert, und die vormalige bipolare Weltordnung gehört der Vergangenheit an. Neue Staaten und Kräfte sind zum Konzert der großen Mächte hinzugestoßen, und ein Paradigmenwechsel scheint angesagt.
Alfred de Zayas ist Professor für Völkerrecht an der „Geneva School of Diplomacy“ und war in hohen Funktionen für die Vereinten Nationen im Sekretariat des Hohen Kommissars für Menschenrechte tätig. Ralf Paulsen hat ihn zur gegenwärtigen politischen Lage, möglichen künftigen Szenarien sowie wünschenswerten Entwicklungen befragt.
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Ralf Paulsen: Die Gründung der UN erfolgte nach Ende des 2. Weltkriegs, wobei ihre Satzung das Kräfteverhältnis unter den Siegerstaaten der damaligen Zeit widerspiegelt: Ganze fünf (Weltkrieg II-Sieger-)Staaten bilden bis heute die fünf ständigen Mitglieder des 15 Staaten umfassenden UN-Sicherheitsrates. Internationale Organisationen sind künftig noch stärker gefragt, und eine Reorganisation der UNO scheint nach 75 Jahren ihres Bestehens überfällig: Wo sehen Sie die größten Mängel, beziehungsweise welche Reformen schlagen Sie vor?
Alfred de Zayas: Eine Reorganisation der UNO und insbesondere des Sicherheitsrates ist überfällig. Eine UNO-Kommission studiert die Optionen seit mehr als zehn Jahren. Generalsekretär Kofi Annan hatte seinerzeit eine Erweiterung der Mitgliedschaft des Rates von 15 auf 25 Staaten vorgeschlagen, um eine bessere Beteiligung aller Regionen und Länder zu erwirken und Staaten wie Indien, Indonesien, Südafrika, Brasilien, Mexiko sowie auch Japan und Deutschland mehr Einfluss und Repräsentanz zu verschaffen. In meinem Bericht an die Generalversammlung aus dem Jahr 2013 habe ich eine Reihe konstruktive Reformvorschläge5 eingebracht und unter anderem ausgeführt:
Im Jahr 2013 veröffentlichte die Universität der Vereinten Nationen ein Buch von Joseph Schwartzberg mit dem Titel „Transforming the United Nations System: Designs for a Workable World“. Das Buch erörtert die Notwendigkeit einer Wahlreform in der Generalversammlung, die Möglichkeit eines gewichteten Wahlsystems, Vorschläge für eine vom Volk gewählte Weltparlamentarische Versammlung aus Vertretern der Zivilgesellschaft, Optionen für die Reform des Sicherheitsrates, wie die Erhöhung seiner Mitgliederzahl samt Abschaffung des Veto sowie eine Umwandlung des Wirtschafts- und Sozialrates in eine neue Struktur regionaler Versammlungen, ein gestärkter Menschenrechtsrat, die Koordinierung von Sonderorganisationen, Fonds und Kommissionen des Systems der Vereinten Nationen und weiter eine verstärkte Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen und anderen nichtstaatlichen Akteuren.
Ralf Paulsen: Was muss bei diesen Reformbestrebungen im Auge behalten werden?
Alfred de Zayas: Die Priorität für die Vereinten Nationen und für die Welt ist der Frieden – darum muss der Frieden als Menschenrecht anerkannt werden1. Bereits im November 1984 verabschiedeten die Vereinten Nationen eine Resolution zum Recht aller Völker, in Frieden zu leben: Res. 39/112, aber sie ist seither nicht weitergekommen: Seit dem Zweiten Weltkrieg haben sich hunderte neue Kriege ereignet. Die UNESCO hat eine Deklaration über die Kultur des Friedens3 verabschiedet und ebenso das „Konsultativ Komitee des Menschenrechtsrats“ im Jahre 2014. Jedoch ist die letzte Resolution des Menschenrechtrates zum Recht auf Frieden schwächer als die alte Resolution 39/11. Eine der wichtigsten Ursachen der Kriege ist die illegitime Verweigerung der Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes. Die Vereinten Nationen hätten konsequent sicherzustellen, dass Mechanismen entwickelt werden, um Referenda durchzusetzen, bevor Selbstbestimmungs-Streitigkeiten in lokale, regionale oder internationale Kriege umschlagen. Man muss endlich akzeptieren, wie im Absatz 80 des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs zum Kosovo ausgeführt, dass das Prinzip der territorialen Integrität die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker nicht aushebeln kann4. Tatsächlich stellt die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, wie im Artikel I des UNO Paktes zu den bürgerlichen und politischen Rechten stipuliert, eine eminent friedensfördernde Konfliktvermeidungsstrategie dar.
Ralf Paulsen: Sollten überfällige Reformschritte der UNO unrealisierbar bleiben, könnte dies gegebenenfalls zu Gründungen von Parallelorganisationen führen?
Alfred de Zayas: Leider ja, und bereits jetzt sind die Geschicke der Welt zu sehr vom Weltwirtschaftsforum und anderen Globalisten beeinflusst. Besser und demokratischer wäre eine „Weltparlamentarischen Versammlung“. In meinem Bericht aus dem Jahr 2013 an die Generalversammlung5 führte ich aus:
Unter anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen ist besonders die Einführung einer Weltparlamentarischen Versammlung6 beziehungsweise einer Parlamentarischen Versammlung der Vereinten Nationen eine Überlegung wert. Der frühere Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali erklärte: „Eine parlamentarische Versammlung der Vereinten Nationen - ein globales Gremium gewählter Vertreter - könnte unsere Institutionen globaler Regierungsführung mit beispielloser demokratischer Legitimität, Transparenz und Rechenschaftspflicht ausfüllen.“ 7
Das erklärte Ziel wäre es, Demokratie-Defizite zu beseitigen, indem der globalen öffentlichen Meinung mit all ihren Bürgern bei globalen Entscheidungen durch gewählte Amtsträger eine Stimme verliehen würde. Eine solche Versammlung könnte entweder durch eine Abstimmung der Generalversammlung gemäß Artikel 22 der UN-Charta oder auf der Grundlage eines neuen internationalen Vertrags zwischen den Regierungen eingerichtet werden, flankiert von einem Abkommen, das sie mit den Vereinten Nationen verbindet. Keiner der Mechanismen erfordert eine Änderung oder Reform der UN-Charta. Beiträge von Bürgern mit ihrer Beteiligung an einer unabhängigen Weltversammlung oder parlamentarischen Versammlung der Vereinten Nationen in beratender Funktion, die sowohl Menschen als auch Staaten vertreten, würden globalen Entscheidungen erhöhte Legitimität verschaffen.
Ralf Paulsen: Die Arbeiten des Politwissenschaftler Arjun Chowdhury ergaben, dass zwei Drittel der Staaten dieser Welt ohne internationale Hilfe nicht in der Lage wären, ihre Grundversorgung sicherzustellen beziehungsweise ihrer Übernahme oder Auflösung entgegenzuwirken. Wie ließen sich die potentiellen Konfliktpotentiale jener Verhältnisse am besten entschärfen oder kontrollieren?
Alfred de Zayas: Internationale Hilfe bedeutet nicht Almosen. Es geht darum, Entwicklungsländern zu helfen, sich selbst zu ernähren. Bisher haben der Internationale Währungsfonds und die Weltbank weitestgehend versagt.8 Prävention von Konflikten ist die dringlichste Aufgabe der Vereinten Nationen. Sonderkommissionen und Komitees gibt es genug. Was fehlt, ist der politische Wille der reichen Staaten. Natürlich kann unser Planet Erde alle Menschen ernähren, doch es gilt, die richtigen Prioritäten setzen. Die Welt verschwendet Milliarden an kriegerischen Auseinandersetzungen, im Rüstungswettlauf und bei der Herstellung noch tödlicherer Waffen. In den Vereinigten Staaten werden ein großer Teil des Haushalts für militärische Ausgaben verschwendet. Das muss ein Ende haben. Unser Mantra sollte heißen: Abrüstung zur Entwicklung. Es gibt sehr wohl ein Menschenrecht auf Entwicklung – wie nach Artikel 1 der UNO Charta sowie in der UNO Erklärung zum Recht auf Entwicklung. Nun gilt es, die SDG - Sustainable Development Goals, zu Deutsch „Nachhaltige Entwicklungsziele“ – bis 2030 zu erreichen. Dies ist durchaus möglich, wird jedoch konsequente Arbeit erfordern.
Ralf Paulsen: Wäre ein Sicherheitsrat globaler Allianzen mit untereinander ausgewogeneren Machtverhältnissen eine geeignete Alternative, um vorhandene Blockaden zu durchbrechen?
Alfred de Zayas: Ich sehe das skeptisch. Jedenfalls sollte man China und Indien stärker einbinden. Es handelt sich um 2,7 Milliarden Menschen, die man nicht ignorieren kann. Beide Staaten sind verstärkt in Maßnahmen zur Friedenssicherung einzubeziehen. Friedenssicherung durch die Vereinigten Staaten und die NATO hat nicht funktioniert. Dazu haben die Vereinigten Staaten das größte Verbrechen gegen den Frieden seit den Nürnberger Prozessen begangen, nämlich die Invasion des Iraks im Jahr 2003, die Kofi Annan als “illegalen Krieg” brandmarkte. Schlimmer noch – die USA hatten das System derart korrumpiert, dass eine “Koalition der Willigen” von insgesamt 43 Staaten entstand, die in diese Revolte gegen die UNO-Charta und das Völkerrecht teilnahmen. Dies sind alles UNO-Mitgliedsstaaten, die an die UNO-Charta, insbesondere Art. 2(4) gebunden sind. Eine groteske Verletzung des Völkerrechts und ein Megaverbrechen gegen den Frieden.
Ich möchte die Kompetenzen des UNO-Generalsekretärs erweitert sehen, sodass er über ein Initiativrecht verfügen würde und zum Beispiel juristische Fragen direkt an den Internationalen Gerichtshof zur Begutachtung weiterleiten könnte. Es gibt viele Mechanismen in der UNO, die viel zu wenig ausgenützt werden. Die UNO könnte viel proaktiver auftreten - vielleicht geschieht dies in der Zeit der gegenwärtigen US-Administration.
Ralf Paulsen: Die asiatischen Staaten stehen innerhalb der Weltbank und dem IWF nur im zweiten Glied, doch bestimmen das Weltwirtschaftswachstum maßgeblich: Sehen Sie auch Reformbedarf bei diesen internationalen Organisationen, deren Statuten das Gründungsjahr 1945 – genau wie der UNO – ebenfalls noch stark noch anzuhaften scheint?
Alfred de Zayas: Die Bretton Woods-Institutionen müssten reformiert oder abgeschafft werden. In Prinzip dienen sie vor allem den Interessen der Vereinigten Staaten, aber nicht der Weltgemeinschaft. Man kann andere multilaterale Vereinbarungen treffen. Leider handeln die Weltbank wie auch der IWF zu oft nur gegen die UN-Charta. Die Politik der sogenannten „Sparmaßnahmen“ im Sozialbereich wären endgültig einzustellen. Allerdings müsste „Sparen“ in den militärischen Bereich Einzug halten: Das hieße kein Wettrüsten, keine „Regime-Putsche“, wie zum Beispiel in der Ukraine 2014 oder in Bolivien 2019 und keine Kriege mehr. Zusätzlich wären die Bedingungen der Kreditvergaben durch den IWF radikalen Reformen zu unterwerfen9.
Ralf Paulsen: Die globalen Verhältnisse heute spiegeln extreme Disparitäten wider. Die Agenda 21 – ein Aktionsplan der UN aus dem Jahr 1992 - sollte den drohenden Verwerfungen entgegenwirken. Was konnte bisher erreicht werden? Was ist mit dem Plan schiefgelaufen? Wo sehen Sie die heutigen Prioritäten und den wichtigsten Handlungsbedarf?
Alfred de Zayas: Die Agenda 21 war eine noble Idee. Sie entstand zur Zeit der Euphorie um Francis Fukuyamas Idee vom “Ende der Geschichte” und nach der Implosion der Sowjetunion. Doch die Probleme bestehen weiter und sind noch viel größer geworden. Die Entwaldung, wie wir sie aus Studien des WWF kennen, schreitet in Brasilien, Afrika und Asien stetig voran. Biden lässt die USA wieder an der Pariser Klimavereinbarung teilnehmen, und vielleicht werden die Klimawandel- und Biodiversität-Konventionen gestärkt werden. Ferner muss man die bestehenden Mechanismen des UN-Umweltprogramms (UNEP) noch besser durchfinanzieren. Doch leider werden zu viele Mittel mit Wettrüsten und Kriegen verschwendet. Dazu existiert mein Bericht an den Menschenrechtsrat aus dem Jahr 201410.
Ralf Paulsen: In dem Report “Die Krisen der Demokratie - über die Regierbarkeit von Demokratien“ an die Trilaterale Kommission (Quelle: Crozier, Michel/Huntington, Samuel P./Watanuki, Joji: The Crisis of Democracy. Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission. New York: New York University Press 1975) stellen die drei Autoren fest, dass der demokratische Prozess in den USA nicht von externen Faktoren…, vielmehr jedoch von der „internen Dynamik der Demokratie selbst, durch eine hochgebildete, mobile teilhabende Gesellschaft“, bedroht wäre. Stellt jene Empfehlung aus dem Jahr 1975 an die Auftraggeber besagten Reports den Startschuss beziehungsweise die schriftliche Kampfansage transnationaler Kreise an die lästige Konkurrenz „Mittelstand“ als die tragende Säule einer erfolgreichen Industriegesellschaft dar?
Alfred de Zayas: Wir kennen keine Demokratie in den Vereinigten Staaten – es ist eine leere Schale, eine Etikette, eine Farce. Eine Semi-Demokratie genießen wir in der Schweiz, wo wir Schweizer Bürger Initiativrecht besitzen und neue Gesetzgebungen vorschlagen können. In der Schweiz üben wir das Referendum-Recht kontinuierlich aus. In den Vereinigten Staaten regieren Lobbyismus, der militärisch-industrielle Komplex und natürlich auch Wall Street. Zwar besteht die Möglichkeit, alle zwei oder vier Jahre zur Urne zu schreiten, aber das Wahlrecht ist nicht demokratisch – es ist keine echte Wahl, nur eine zwischen Pest und Cholera. Ein progressiver Kandidat hat absolut keine Chance – wie zum Beispiel Kongressfrau Tulsi Gabbard, die von der Presse fertig gemacht wurde. Die Wahlen in den USA gleichen Sportveranstaltungen, um auf die Mannschaft A oder B zu setzen. Zugleich versagt jene “Repräsentative Demokratie”, weil ihre Repräsentanten nicht die Bürger, sondern nur Lobbys vertreten. Der Mittelstand bleibt mehr oder weniger machtlos. Dazu kommt eine Lügen- und Lückenpresse, die die Massen einer täglichen Manipulation und Indoktrination unterzieht.
Ralf Paulsen: In den Jahrzehnten nach jener Kampfansage aus dem Jahr 1975, wurde das Wachstum der Mittelklasse in den westlichen Staaten tatsächlich umgedreht. Die gegenwärtigen „Lockdown“ scheinen einmal mehr auf den Mittelstand zu zielen. Wem nützt dieser Trend?
Alfred de Zayas: Den transnationalen Großkonzernen – sie wachsen und bedienen sich. Es war unverfroren, wie Banken, die in den Jahren 2007 und 2008 die große Wirtschaftskrise verursachten, gerettet wurden, anstatt die verantwortlichen „Banksters“ vor Gericht zu stellen.
Ralf Paulsen: Vor den heißen Kriegen kommt es vielfach zu sogenannten „Sanktionen“ – wie sehen Sie dieses Instrument eines Krieges mit anderen Mitteln?
Alfred de Zayas: Für mich zählen Sanktionen zu den Methoden Nicht-zielgerichteter-Waffen, die wahllos töten und als „kollektive Bestrafung“ gelten - beides ist nach Völkerrecht beziehungsweise internationalem humanitären Recht verboten. Die Wirtschaftssanktionen, die von den USA gegen Kuba, Venezuela, Syrien und den Iran verhängt worden sind, stellen Verletzungen gegen die UN-Menschenrechtsabkommen und Genfer Konventionen durch die USA dar. Sie verletzen das Recht auf Leben unter den Ärmsten der Armen und haben abertausenden Opfern das Leben gekostet, wie beispielsweise 40.000 Tote allein in Venezuela im Jahr 2018 zeigen10 - die Opfer der nachfolgenden Jahre noch gar nicht eingerechnet. Solche Sanktionen fallen unter den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit unter Verletzung von Artikel 7 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs. Sie können auch als „Staatsterrorismus“ bezeichnet werden, der unzähliges Leid und Willkür über die Menschen bringt.
Was Interventionen anlangt, habe ich in zahlreichen meiner Berichte an die UN-Generalversammlung und den Menschenrechtsrat klar festgestellt: Die verbrecherische Doktrin R2P – Pflicht zum Eingreifen – gemäß „Orwell´schem Neusprech“ ist ein reiner Schwindel, um das Gewaltverbot nach Artikel 2(4) der UN-Charta auszuhebeln. Doch sie stellt lediglich eine Resolution (Res. 60/1) aus dem Jahr 2015 dar, welche das ius cogens – das zwingende Recht – des übergeordneten Gewaltverbots nach der UN-Charta nicht zu schwächen vermag.
Eine Intervention ohne Genehmigung des Sicherheitsrates, wie zum Beispiel im Jugoslawien-Konflikt 1999, Irak 2003 oder in Bergkarabach durch Aserbaidschan mit der Türkei im Jahr 2020, stellt darüber hinaus das Verbrechen der Aggression nach dem Statut von Rom dar, welches unter die Jurisdiktion des Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag fällt, der Untersuchungen eröffnen und einen ordentlichen Prozess mit Verurteilungen anstrengen kann.
Ralf Paulsen: Die Weltbevölkerung wächst, wie auch die immensen Herausforderungen aufgrund wachsender globaler Probleme. Welche Rolle beziehungsweise welchen Beitrag zur Lösung erwarten Sie von den Weltreligionen?
Alfred de Zayas: Die Weltreligionen tragen eine Mitverantwortung für die Misere, die wir erleben. Religion ist nicht nur Ritus - nicht nur der Glauben an Jehova, Christus oder Allah. Religion bedeutet Verpflichtung, bedeutet nicht nur Anbetung, sondern auch pro-aktive Nächstenliebe. Ich selbst bin Katholik und bedauere, dass die katholische Kirche zu wenig unternommen hat, um den „Desaster-Kapitalismus“ - nach Naomi Klein - stärker zu bekämpfen und als total inkompatibel mit dem Neuen Testament zu erklären. Ich mache mir große Sorgen über die Radikalisierung des Islams, eine Religion, die sehr reformbedürftig scheint. Es gibt natürlich gute Priester, Bischöfe und Päpste. Es gibt gute protestantische Pastoren, Rabbiner und gute Imame, aber ich glaube nicht, dass die Mehrheit ihrer Verantwortung gerecht wird. Ich habe Sorge, dass die Religionen noch einmal dazu missbraucht werden könnten, nicht den Frieden zu fördern, sondern zu Kreuzzügen oder Jihads gegen Andersgläubige anzustiften.
Ralf Paulsen: Sind die Weltreligionen noch ausreichend eingebunden, oder werden sie von säkularen und übermächtigen politischen Kräften aus dem Geschehen immer weiter hinausgedrängt?
Alfred de Zayas: Die Weltreligionen sind längst hinausgedrängt worden. Tatsächlich gibt es eine neue “Säkular-Religion” bzw. “Ersatz-Religion”, und die heißt “Menschenrechte”. Derartige Menschenrechte werden dogmatisch missbraucht. Ich habe in meinen Berichten an die Generalversammlung und an den Menschenrechtsrat oft von den “zur Waffe gemachten Menschenrechten” gesprochen und konnte es belegen. Der Gedanke an die “Menschenwürde” – die Quelle aller Menschenrechte - scheint verloren gegangen zu sein. Man sieht, wie Menschenrechte selektiv eingesetzt werden: einmal so - einmal anders. Man sieht, wie menschenverachtende Handlungen, die von unseren “Verbündeten” begangen werden, ignoriert oder toleriert werden, und nur die Menschenrechtsverletzungen unserer “Feinde” beziehungsweise unserer geopolitischen Herausforderer angeprangert werden. Ich nenne das “Menschenrechte à la carte”. Überall ist zu beobachten, wie gewisse Menschenrechte missbraucht werden, um wichtigere Menschenrechte zu marginalisieren oder abzuschaffen. Im Westen gilt vor allem das Recht auf Privateigentum. Man kümmert sich herzlich wenig um das Recht auf Nahrung, Wasser oder Unterkunft. Es gibt auch die Zeitgeist-Menschenrechte, die enorme Popularität genießen. Ich empfinde das ähnlich einem “Zeitgeist-Geschmackt”, wie zum Beispiel die neuen LGBT-Rechte. Warum so etwas – sind wir nicht alle gleich? Haben wir nicht alle dieselben Rechte, oder will man Spezialrechte beziehungsweise Privilegien schaffen? Alle, die nicht vorbehaltlos mitgehen, werden sofort in die Ecke gestellt. Was ist vom Recht auf die Meinungsfreiheit heute geblieben? Müssen wir alle eine Einheitsmeinung vertreten, um bei Zuwiderhandlung soziale Diskriminierung beziehungsweise soziale Ausgrenzung zu erleiden?
Ralf Paulsen: Noch vor der Epoche der großen Säkularisierung unterstellte Jean-Jack Rousseau dem Christentum, mit seinem Autoritätsanspruch und seiner Jenseitsbezogenheit die staatliche Geschlossenheit zu untergraben. In seinem Werk „Der Gesellschaftsvertrag (1760)“ mahnte Rousseau eine `staatlich republikanische Religion` - eine `Zivilreligion` - an, um vermeintlicher staatlicher Schwäche entgegenzuwirken. Haben überstark säkular-industrielle Entwicklungen seither gegebenenfalls zu der umgekehrten Problemlage geführt?
Alfred de Zayas: Genau - Christentum ist die Bergpredigt (Matthäus V, 1-9). Christentum sind die sieben Werke der Barmherzigkeit (Matthäus XXV, 36-37). Rousseaus “sozialer Kontrakt” beruht auf einer gewissen Idealisierung des Menschen, aber man erkennt durchaus eine Moral und Ethik. Rousseau glaubte an die Menschenwürde, an das Gute im Menschen. Heute zollt man der Menschenwürde Lippenbekenntnisse - mehr aber nicht. Es ist schockierend, wie aus guten Ideen und Beweggründen schreckliche Dystopien geworden sind. Man denke an “La Terreur” (Schreckensherrschaft unter der französischen Revolution) unter dem Comité de Salut Public (dem Wohlfahrtsausschuss) oder den “Tugend-Meister” Maximilien François Marie Isidore de Robespierre. Man denke an Pol Pot in Kambodscha. Fanatiker wird es leider immer wieder geben.
Ralf Paulsen: Im Jahr 2011 wies eine wissenschaftliche Studie der ETH Zürich nach: 147 supervernetzte transnationale Konzerne kontrollieren mehr als 40 Prozent der Weltwirtschaft. Versucht diese Minderheit transnationaler Monopolisten eine ähnliche Kontrolle auch über die Politik zu erlangen?
Alfred de Zayas: ...
LESEN SIE MORGEN DEN ZWEITEN TEIL DES GROSSEN INTERVIEWS MIT ALFRED DE ZAYAS:
- Welches "System" Alfred de Zayas als Experte des UN-Menschenrechtsrats aufgedeckt hat
- Wen er als "Feinde der Menschheit" bezeichnet
- Was er Klaus Schwab vorwirft
[1] Alfred de Zayas “Peace” in William Schabas (ed.) Cambridge Companion to International Criminal Law, Cambridge, 2016, S. 97-116.
2 digitallibrary.un.org/record/74608?ln=en
3 unitingforpeace.com/unesco-declaration-on-a-culture-of-peace/
4 A de Zayas, Bericht an die Generalversammlung 2014, A/69/272, undocs.org/A/69/272 , www.icj-cij.org/en/case/141
5 undocs.org/A/68/284 paras 15 et seq.
6 Siehe Joseph Schwartzberg, Creating a World Parliamentary Assembly (Committee for a Democratic United Nations, Berlin, 2012); Richard Falk and Andrew Strauss, “Toward Global Parliament”, Foreign Affairs (Jan/Feb 2001). See ssrn.com/abstract=1130417.
7 Siehe [www.opendemocracy.net] undocs.org/A/HRC/36/40, siehe meinen 2017er-Bericht an den Menschenrechtsrat; siehe auch meinen Bericht über den IMW an die Generalversammlung [undocs.org] undocs.org/A/72/187
10 Jéffrey Sachs/Mark Weisbrot, “Collective Punishment” cepr.net/report/economic-sanctions-as-collective-punishment-the-case-of-venezuela/