Weltwirtschaft

BERNEGGER ANALYSIERT: Die Welt steht vor einem noch nie dagewesenen Energie-Preisschock

Lesezeit: 10 min
12.06.2022 08:34  Aktualisiert: 12.06.2022 08:34
Die Inflation ist global innerhalb kürzester Zeit explosionsartig angestiegen, in Deutschland auf praktisch das höchste Niveau der Nachkriegszeit. Dafür ist eine Reihe von Faktoren verantwortlich.
BERNEGGER ANALYSIERT: Die Welt steht vor einem noch nie dagewesenen Energie-Preisschock
Die Fracht des japanischen Tankers "M. Star" ist jetzt schon viel wert - doch im Laufe der kommenden Monate wird sie sich noch erheblich verteuern. (Foto: dpa)

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Die Inflation ist global innerhalb kürzester Zeit explosionsartig angestiegen, in Deutschland auf praktisch das höchste Niveau der Nachkriegszeit. Dafür ist eine Reihe von Faktoren verantwortlich:

  • Die Politik der Notenbanken, die ungläubig und viel zu spät auf die sich anbahnende Krise reagiert haben.
  • Die weltweit verfolgte Corona-Politik, welche Lieferketten sowie Klein- und Mittelbetriebe zerstört hat. China ist als Fabrik der Welt mit seiner rigorosen Zero-Covid-Politik in den vergangenen zwei Jahren teilweise ausgefallen.
  • Die Energiemärkte: Wir stehen vor einem präzedenzlosen allgemeinen Energie-Preisschock, mit sekundären Effekten auf praktisch alle Rohstoff-Märkte. Mit den Energiemärkten befasst sich dieser Artikel.

Es wird behauptet, die hohen Erdöl- und Rohstoffpreise seien Putins Krieg gegen die Ukraine zuzuschreiben. Das ist jedoch Unsinn und verdreht die Tatsachen. Die Energie- und darüber hinaus viele andere Rohstoffmärkte sind strukturell aufgrund zu niedriger Preise im vergangenen Jahrzehnt von Kapazitätsengpässen und Unterinvestition auf der Angebotsseite gekennzeichnet. Dahinter stecken zwei fundamentale Treiber.

Wie in fast allen Bereichen der Wirtschaft hat die vorherrschende neoliberale Wirtschaftsdoktrin die Deregulierung und Privatisierung sowie die Globalisierung auch von Infrastrukturen, inklusive der Energie-Infrastrukturen, gefördert. Dies im markanten Bruch mit der Politik der Nachkriegszeit, zumindest in Europa. Staatliche Planung, Förderung und Umsetzung hatten bis in die 1970er Jahre eine Modernisierung der Infrastruktur ermöglicht, mit dem Ergebnis hohen gesamtwirtschaftlichen Wachstums und kräftiger Produktivitätsgewinne.

Das Resultat der Politik letzten Jahrzehnte besteht dagegen darin, dass die Energie-Infrastrukturen auf allen Ebenen zerbrechlich geworden sind. Der neoliberale Glaube an die privatwirtschaftliche Effizienz und das Abstellen auf die rein private Gewinn-Optimierung haben zu einer systemischen Instabilität geführt. Das Primat des finanziellen Gewinns hat im Energiesektor zu börsennotierten Unternehmen geführt, die einer unternehmensspezifischen Gewinnmaximierung nachhängen, nicht einer Systemoptimierung.

Mit dieser Strukturveränderung sind zwei weitere nachteilige Faktoren hinzugekommen. Erstens ist vielerorts im falschen Glauben an die privatwirtschaftliche Markteffizienz eine beinharte staatliche Sparpolitik in Bezug auf Infrastruktur einhergegangen. Man erachtete staatliche Ausgaben als überflüssig oder sekundär. Dies gilt gleichermaßen für die Vereinigten Staaten wie für Europa, gerade für die Europäische Union. Sie alle hängen seit Jahrzehnten diesem neoliberalen Wunsch- und Zerrbild an. Und zweitens ist in nicht wenigen Fällen eine Vereinnahmung der Regulierungsbehörden durch marktstarke Unternehmen erfolgt. Dies mit der unvermeidlichen Konsequenz, dass die Regulierungsbehörden die Schwachstellen und Mängel eines deregulierten Sektors, im konkreten Fall des Energiesektors, nicht durch Auflagen, Steuern und andere Steuerungsmechanismen kompensiert haben, sondern die unternehmensspezifischen Interessen marktstarker Unternehmen zur generellen Politik erklärt haben. Überhaupt hat sich der Staat aus einer langfristigen Planung und Optimierung seiner Infrastruktur zurückgezogen. Dies mit dem Ergebnis, dass angeblich führende Industrieländer wie Deutschland oder die Vereinigten Staaten allmählich auf den Status von Schwellenländern zurückgereicht werden.

Die Energiekrise, das muss mit aller Deutlichkeit hervorgehoben werden, ist nicht das Ergebnis von Putins Angriffskrieg, sondern von jahre- oder jahrzehntelangen falschen, bewusst vorgenommenen politischen Weichenstellungen im Westen selbst. Dies gilt ganz besonders in Europa, aber auch in den Vereinigten Staaten.

Nicht nur Finanzpolitik und Fehlregulierung, sondern auch die verfehlte Geldpolitik der letzten 15 Jahre haben kräftig dazu beigetragen. Der zentrale Faktor dahinter war die Finanzierung eines betrügerischen Schein-Booms in der amerikanischen Fracking-Industrie. Diese produzierte nur hohe Verluste und übte durch Überproduktion einen deflationären Druck auf die Weltmarktpreise für Erdöl und Erdgas aus. Ermöglicht wurde dies durch die Nullzins-Politik der amerikanischen Zentralbank, durch das Fehlen von zentralen Umweltvorschriften und durch klassischen Wallstreet-Betrug. Renditehungrige institutionelle Anleger mussten riskante Papiere (Junk bonds) – darunter solche von Fracking-Unternehmen – kaufen, um vertraglich oder implizit garantierte Erträge erwirtschaften zu können. Dieser Zwang zur Investition in Ramschpapiere wurde noch verstärkt durch eine andere Wirkung der Nullzinspolitik: Um die reduzierten Erträge aus Anlagen in Anleihen effizienter zu machen, wurde auch diese Anlageklasse mit passiven Anlage-Strategien und -Vehikeln wie ETFs überschwemmt, mit dem Ergebnis, dass der größte Zufluss in den größten Mist erfolgte – nur um einige Basispunkte Management-Gebühr zu sparen.

Dabei wurden im konkreten Fall die Indikatoren des Geschäftsgangs dieser Unternehmen wissentlich falsch dargestellt. Die Unternehmen dieses Sektors und Banken, welche ihre Papiere vermarkteten, präsentierten den Cash-flow ohne Abschreibungen als zentrale Erfolgsgröße. Das charakteristische für die Fracking-Industrie ist, dass viele Anlagen und Ausrüstungen technisch bedingt nur für zwei bis maximal drei Jahre herhalten, weil dann die Bohrlöcher erschöpft sind. Bei konventionellen Öl- und Gasfeldern dauert die Ausbeutung um ein Vielfaches länger. Die Investitionen und infolgedessen die Abschreibungen sind bei gefrackten Bohrlöchern aufgrund der tiefen und komplexen Bohrungen entsprechend sehr hoch. So wurde bis 2016 und darüber hinaus verschleiert, dass diese Industrie strukturell hoch defizitär und niemals dauerhaft überlebensfähig ist. Nicht nur wurde weltweit viel zu wenig investiert, nein, der Energie-Ertrag aus Investitionen des gesamten Sektors sank zusätzlich infolgedessen noch weiter markant ab. Bei diesen niedrigen und komprimierten Preisen konnte die Energie-Industrie weltweit nach 2013 nicht mehr in die Erweiterung und die Erneuerung von Anlagen investieren. Heute gibt es auf allen Stufen der Energieproduktion, -verarbeitung und -verteilung Engpässe und kritische Knappheit.

Diese Situation wurde durch die von Erdölinteressen geprägte amerikanische Außenpolitik verschärft. Große Produzentenländer wie der Irak, der Iran, Venezuela, Russland, alles Länder mit Erdölsorten, die sich sehr gut für die Verarbeitung zu Mitteldestillaten eignen, wurden serienweise mit Sanktionen belegt, ihre Fähigkeit zur Investition und zum Export dadurch eingeschränkt. Der Irak und Libyen wurden zusätzlich durch amerikanische Angriffskriege zerstört und teilweise ausgeplündert. US-Präsident Biden hat seinerseits dies noch verschärft, indem er die geplante Keystone-Pipeline gleich zu Beginn seiner Amtszeit ersatzlos gestrichen hat. Sie hätte erlaubt, größere Mengen kanadischen Teersandöls zu den Raffinerien im Südosten zu befördern. Kanadisches Öl eignet sich ebenfalls für die Produktion von Mitteldestillaten.

In den letzten zwei Jahren sind zum einen die Coronakrise, zum anderen der Great Reset und das ESG-Gütesiegel für die Investoren hinzugekommen. In den USA ist die Raffineriekapazität in der Coronakrise deutlich zurückgegangen. Im größten Standort der Welt gibt es also deutlich reduzierte Kapazität. In Europa datiert dieser Trend zu rückläufiger Kapazität schon seit längerem.

Aufgrund der neu eingegangenen Verpflichtungen der Regierungen zum Ausstieg aus fossilen Energien mit drastischen und verbindlichen Zielen für den Zeitpfad ist es klar, dass Neuinvestitionen in konventionelle Energien sich für Energie-Unternehmen vielfach nicht mehr rechnen. Die Reifungszeit für viele konventionelle Projekte ist zu lange, um die Investition über die verbleibende Zeit rentabel hereinzubekommen. Westliche Erdöl-Unternehmen verhalten sich deshalb wie früher die Zigaretten-Hersteller: Sie kaufen Aktien zurück und zahlen Dividenden aus, aber investieren nicht mehr in konventionelle neue Projekte. Sie wären auch weniger kapitalmarktfähig, weil sie für diese konventionellen Projekte im Zeitalter des ESG-Investierens weniger oder kein Kapital mehr erhalten. Einige versuchen, sich umzuorientieren und in grüne Energien zu investieren.

Auch in diesem letzten Punkt, nämlich in der Bewältigung des Klimawandels und mit der Verlagerung zu klimafreundlichen Energiequellen, ist eine chaotische, ausschließlich auf die Kräfte des Marktes vertrauende Politik der Ursprung der Verknappung von Energie. Das Ganze wird noch ergänzt durch eine absolut irrsinnige Selbstkasteiung im Rahmen des Pariser Klimaabkommens: China als dominanter Emittent sowie große Schwellenländer wie Indien und andere asiatische Staaten erhalten einen Freifahrtschein für ein volles Jahrzehnt und darüber hinaus, während Europa und die USA bis 2030 die gesamte Anpassungsleistung tragen sollen. Hinzuzufügen ist, dass diese isolierte Opferleistung in Bezug auf die Gesamtemissionen - nur diese sind wichtig - praktisch nichts bringen wird und im schlechtesten Fall noch kontraproduktiv ist. Sie erhöht nämlich die Emissionen in Asien, die ohnehin kumuliert fast 60 Prozent der globalen Emissionen ausmachen.

Zur Tatsache, dass konventionelle oder fossile Energien über längere Zeiträume vernachlässigt worden sind, gesellt sich die unangenehme Wahrheit, dass global gesehen auch nicht besonders viel in erneuerbare Energien investiert worden ist. Am ehesten gilt dies noch für China seit 2015. Anderswo ist viel diskutiert, geplant oder angekündigt, aber aus verschiedenen Gründen vornehme Zurückhaltung in der Praxis appliziert worden.

Wichtig ist, dass damit schon die ökonomischen Grundvorstellungen der Bewältigung des Klimawandels illusorisch sind: Der Aufbau einer neuen Infrastruktur, welche die bisherige, über viele Jahrzehnte gebaute ersetzt, saniert, entlastet und/oder entschärft, erfordert sehr hohe Investitionen in einem historisch gesehen relativ kurzen Zeitraum von 10-25 Jahren. Solche Infrastruktur-Vorhaben sind an sich schon energie-intensiv. Die Bautätigkeit mit ihren wichtigen Grundstoffen - Zement, Stahl, Aluminium, Kupfer, verschiedene andere Buntmetalle - ist äußerst energie-intensiv, sowohl was die Förderung der Rohstoffe als auch die Produktion der Baumaterialien anbelangt. Alle diese Bauzuliefer-Industrien erfordern kontinuierlich Prozess-Temperaturen von bis zu tausend Grad Celsius und mehr. Wenn weltweit alle Länder gleichzeitig auf diesen Kurs erneuerbarer Energie und Ersatz / Sanierung der existierenden Infrastruktur einschwenken, die einen mehr, die andern weniger, dann explodiert der globale Energiebedarf. Tendenziell werden deshalb die 2020er und 2030er Jahre einen sehr hohen und rasch steigenden Energiebedarf zeitigen.

Die NATO-Sanktionen gegen Russland: Die Lunte wird gezündet

Diese Ausgangslage beschreibt, was jetzt aufgrund der Sanktionen der NATO-Staaten gegen Russland geschehen wird. Aufgrund der langen Periode von Unterinvestition in konventionelle fossile Energien und der – zurückhaltend ausgedrückt – bescheidenen Investitionen in erneuerbare Energien, sind wir mit einem auf allen Stufen begrenzten Energieangebot konfrontiert, und zwar kombiniert mit dem Willen zu sehr hohen Infrastruktur-Investitionen, die ihrerseits einen sofortigen hohen Energiebedarf zeitigen.

Der bereits effektive oder in Planung befindliche Boykott von russischen Energielieferungen betrifft den zweitgrößten Erdöl- und größten Erdgas-Exporteur der Welt, und dies in einer Situation einmalig angespannter Märkte mit sehr niedrigen Lagern an Erdöl, raffinierten Produkten wie Benzin und vor allem an Mitteldestillaten (Dieselkraftstoff, Heizöl, Flugbenzin) sowie auch für Erdgas. Das Embargo hat die gleiche – oder vielleicht sogar noch stärkere – makroökonomische Wirkung wie der Lieferstopp Saudi-Arabiens im Jahr 1973. Es ist kein isolierter Erdöl-Schock wie damals, eine zeitlich kurze Unterbrechung der Produktion in einer Phase extremen Kapazitätsausbaus, sondern ein umfassender Energieschock, der alle Formen von Energie umfasst, und der von einem praktisch unelastischen Angebot ausgeht. Gekoppelt mit einer nachhaltig starken Nachfrage befördert dies insbesonders Diesel-, Kerosin-, Benzin- und Erdgaspreise in statistisches Neuland. Im Unterschied zur Vergangenheit werden auch die Strompreise bereits in kurzer bis mittlerer Frist teils erhebliche, teils dramatische Preisanpassungen sehen, vor allem in Europa und dort vor allem in Deutschland und einigen Ländern Ostmitteleuropas. Neben diesen gewaltigen Preissprüngen wird es zu echten Energielücken kommen, das heißt, es wird auch bei immens hohen Preisen über längere Phasen hinweg schlicht kein Angebot zur Verfügung stehen.

Die Nachfrage nach Erdöl ist auch 2022 stark, nur vorübergehend geschwächt durch die Lockdowns in China. Die Produktion ist viel schwächer, weil verschiedene Länder (Angola, Nigeria, Libyen, vorübergehend Russland) nicht liefern können. Das Ungleichgewicht zwischen Nachfrage und Angebot hat sich zugunsten der Nachfrage geneigt. Die Öffnung der Wirtschaft in China ab Juni und die traditionell hohe Sommer-Nachfrage in den USA dürften ab Juni einen Aufwärtsdruck auf die Erdölpreise ausüben. Denn dann befeuern zusätzlich die Wirkungen des reduzierten russischen Angebots die Preise. Große Erdölhändler wickelten bis Ende Mai ihr Russland-Geschäft ab und werden nicht mehr als Käufer russischen Erdöls auftreten. Schätzungen zufolge könnte dies den Absatz russischen Erdöls um 1-2 Millionen Barrel pro Tag zusätzlich reduzieren.

In dieses delikate Gleichgewicht ist zunächst die Drohung eines Erdöl-Embargos der Europäischen Union gekommen, des größten Kunden Russlands. Bis Jahresende 2022 sollen die Lieferungen russischen Erdöls, die über Tanker erfolgen (rund zwei Drittel) eingestellt werden. Zusätzlich verzichten mit Deutschland und Polen zwei große Abnehmer auf die Lieferungen von Erdöl über den nördlichen Zweig der Druzhba-Pipeline. Insgesamt sollen so gemäß Aussagen der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen 90 Prozent der bisher gelieferten Volumina in die EU mit dem Embargo belegt werden. Auf absehbare Zeit vom Embargo ausgenommen bleiben lediglich Länder, welche am südlichen Zweig der Druzhba-Pipeline aus Russland partizipieren und die keinen Hafen als Alternative haben - Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Bulgarien.

Im Kern bedeutet dies, dass die Europäische Union 2023 fast drei Millionen Barrel pro Tag Erdöl ersetzen muss. Eine entsprechende Überkapazität dürfte es im Markt gegenwärtig nicht geben, so dass mit einem längerfristigen Aufwärtsdruck auf die Erdölpreise zu rechnen ist. Umgekehrt wird Russland einen großen Teil (über 50 Prozent) seiner Exporte von insgesamt rund fünf Millionen Barrel pro Tag auf einen Schlag an einen anderen Abnehmer verkaufen müssen, hat aber genügend Zeit zur Vorbereitung dafür. In der Praxis wird es darauf hinauslaufen, dass teilweise russisches Erdöl über Umwege und zusätzliche Stationen gleichwohl seinen Weg nach Europa finden und zu deutlich erhöhten Preisen an die Kundschaft ausgeliefert werden wird. Den Rest werden die EU-Länder anderswo beschaffen müssen. Schlicht nicht ersetzbar sind vor allem raffinierte Produkte wie Diesel und Kerosin, ist aber auch Erdgas, weil es keinen Ersatz für die russischen Raffinerien und das russische Erdgas gibt.

Aggregierte Daten über Erdölproduktion und -export können zudem ein irreführendes Bild abgeben. Es gibt global gesehen eine bedeutende Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage nach verschiedenen Erdölsorten und, damit verbunden, einen Mangel an Raffineriekapazität. Der globale Rohöl-Produktionszuwachs der 2010er Jahre fand hauptsächlich in der amerikanischen Fracking-Industrie statt. Diese produziert ein hochwertiges, sogenanntes süßes Erdöl mit sehr geringem Schwefelgehalt, aber hohem Paraffingehalt und feinen Verunreinigungen durch kleine, wechselnde Partikel. Es liefert ein hochwertiges Benzin. Wegen der ungleichen und schwankenden Zusammensetzung von gefracktem Öl sind komplexe Raffinerieprozesse notwendig, um damit genügend Diesel und Kerosin zu produzieren. Im Effekt ruft die Verarbeitung dieses sogenannten „tight oil“ tendenziell einen Benzin-Überschuss in den USA hervor. Wir werden dafür gleich Belege finden. Die für die Verarbeitung zu Diesel und Kerosin erforderliche Raffinerie-Kapazität ist zu gering oder nicht möglich, und sie ist in den USA infolge der Coronakrise noch zusätzlich reduziert worden. Aus diesem Grund importieren die USA noch heute sehr hohe Mengen an schweren und sauren Erdölsorten (aus Kanada, Mexiko, Russland, und früher Venezuela), um Diesel, Heizöl und Kerosin für den Binnenmarkt zu produzieren. Schaltet man russisches Erdöl und darüber hinaus in Russland raffinierte Erdölprodukte aus, so fehlt schlicht die Raffinerie-Kapazität, um global gesehen genügend Diesel und Kerosin zu produzieren.

Darüber hinaus dürfte es in Europa ganz erhebliche chemische und technische Probleme bei der Umstellung von russischem Rohöl auf andere Rohölsorten geben. Rohöl ist nicht gleich Rohöl, wie die meisten Ökonomen glauben. Für Raffinerie- und andere industrielle Verarbeitungsprozesse etwa in der chemischen Industrie sind umfangreiche Tests mit Anpassungen für die Mischung verschiedener Erdölsorten erforderlich. Eine solche Umstellung innerhalb weniger Monate dürfte jedenfalls kein einfaches Unterfangen darstellen, in vielen Fällen sogar unmöglich sein. Heute laufen die Raffinerien auf Höchsttouren, und dies wird über kurz oder lang seinen Tribut in Form von längeren Produktionsunterbrechungen und Instandsetzungsarbeiten fordern.

Das Ergebnis dieser Embargo-Maßnahmen wird ein Hochbleiben oder sogar ein scharfer Anstieg der Erdölpreise und vor allem eine Explosion der Diesel-, Kerosin- und Benzinpreise sein. Die folgende Graphik zeigt, wie die Benzin- (blaue Kurve) und die Dieselpreise (rote Kurve) in den USA seit rund anderthalb Jahren praktisch senkrecht in die Höhe gegangen sind, auch und gerade drei Monate nach dem bisherigen Höchstpreis für Erdöl vom 8. März 2022. Der Diesel erreicht inzwischen den größten je realisierten Preisaufschlag gegenüber Benzin, ein Anzeichen für dessen produkt-spezifische Knappheit. Diesel- wie Benzinpreise liegen heute in den USA weit über den höchsten vorher je erreichten Niveaus.

Früher lagen Benzin- und Dieselpreise praktisch auf gleichem Niveau. Seit der Ausdehnung des Frackings ungefähr um 2010/11 hat sich dies geändert. Diesel ist systematisch teurer als Benzin geworden. Doch so hoch wie heute ist die Differenz beider Preise noch nie gewesen.

Vor allem die Dieselpreise sind wichtig für die Ausbreitung der Inflation. Diesel wird einmal auf allen Stufen des Transports verwendet. Im internationalen Transport ist die früher übliche Verwendung von schwerem Bunkeröl bei Tankern, Container- und Frachtschiffen abgeschafft, die Vorschriften sehen seit 2020 Diesel mit einem geringen Schwefelgehalt von maximal 0.5 Prozent (früher 3.5 Prozent) vor. Dies ist ein zweiter, nachfrageseitiger Grund für die spezifische Dynamik der Dieselpreise. Auf einen Schlag hat die Nachfrage nach Diesel einen starken Zuwachs erfahren. Notabene gilt dieselbe Dynamik wie bei Diesel auch für Flugzeug-Kerosin (grüne Kurve).

Weltweit sind Dieselmotoren bei Lastwagen und bei leichten Nutzfahrzeugen Standard, so dass auch die interregionale und Nah-Verteilung gleichermaßen betroffen sind. Dieselmotoren kommen bei Baumaschinen, Traktoren und allen Formen von Landwirtschaftsmaschinen zum Einsatz. In Europa läuft darüber hinaus der große Teil des PKW-Bestandes (aber nicht mehr der Neuzulassungen) mit Dieselmotoren. Diese Bedeutung des Diesels und sein raketenhafter Preisanstieg implizieren, dass alle Güter (Vor-, Zwischen- und Endprodukte) im internationalen Handel sich verteuern, ebenso in der nationalen und lokalen Distribution wie auch in Europa für alle Unternehmen. In Deutschland, wo der Flottenmarkt eine große Rolle spielt, erhöhen sich die Unternehmenskosten für die von den Arbeitgebern zur Verfügung gestellte Firmenfahrzeuge dort, wo es eine vom Arbeitgeber gestellte Tankkarte gibt ...

Teil 1 der Analyse finden Sie hier.

Teil 3 der Analyse finden Sie hier.


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