Nach monatelangen Drohgebärden möchte die britische Regierung die mit Brüssel vereinbarte Brexit-Regelung für Nordirland einseitig ändern. Mitte Juni veröffentlichte sie in London einen Gesetzentwurf, der beinhaltet, Teile des Nordirland-Protokolls auszusetzen. Die Begründung von Außenministerin Elizabeth Truss lautete: „Wir haben echte Probleme in Nordirland, und mit diesem Gesetz kehren wir zu den Prinzipien des Karfreitagsabkommens zurück, das Stabilität bringen soll.“ Unter anderem sollen Unternehmen demnach künftig die Wahl haben, Waren in Nordirland entweder gemäß den Warenvorschriften des Vereinigten Königreichs oder denen der EU auf den Markt zu bringen. England schütze so zugleich den EU-Binnenmarkt, heißt es von Seiten Londons, halte weiter an den Kernprinzipien des Nordirland-Protokolls fest und bewege sich durchaus im Rahmen internationaler Gesetze.
Doch die EU sieht das ganz anders und hat Konsequenzen angekündigt. EU-Kommissionsvizepräsident Maros Sefkovic betonte, solch einseitige Maßnahmen seien dem gegenseitigen Vertrauen abträglich. Kurz: Es droht ein regelrechter Handelskrieg. Schon warnt Premierminister Boris Johnson vor einer Überreaktion aus Brüssel – bloß wegen „einiger Details“. Dabei waren es vor allem „Brexit“-Hardliner, die den umstrittenen Gesetzentwurf mitformuliert hatten. Doch selbst parteiintern ist man keineswegs einig: Manche Tory-Abgeordneten sprechen von „komplettem Wahnsinn“ und fordern mehr Annäherung an die EU, ja angesichts steigender Inflation und schlechter Wirtschaftsdaten gar eine Rückkehr zum europäischen Binnenmarkt. Kurz gesagt: Der Brexit bleibt eines der Grundprobleme Europas.
Indes – haben nicht bis heute Debatten um eine nicht nationalstaatlich gewichtete Vision Europas so manche Gemüter beflügelt? Dem Europa der - angeblichen - Opportunisten und Spießbürger wird gerade jetzt, da auf dem Kontinent wider alles Erwarten wieder ein brutaler Krieg wütet, gern eine gesamteuropäische Friedensvision gegenübergestellt. Ein geeintes Europa müsse ein demokratisches Gegengewicht zu Russland, zu China und zur arabischen Welt bilden, hört man allenthalben. Doch die Fliehkräfte innerhalb Europas, die einander deutlich widersprechenden Konzepte der einzelnen Länder lassen skeptisch fragen: Woher soll eine überzeugende Realisierung des Ideals kommen? Etwa durch militärische Not?
Innereuropäische Konfliktlagen
Europa ist eigentlich der Name einer phönizischen Prinzessin, die Teil einer mythischen Erzählung war. Stellt nicht „Europa“ schon im Ansatz einen Mythos dar? Ein „Mythos“ ist eine Erzählung oder auch ein womöglich unbewusstes Gedankengebilde, mit dem Menschen und ganze Kulturen ihr Weltverständnis gesellschaftlich verbindlich zu fassen oder zu fühlen versuchen. Mythen werden „im Menschen gedacht, ohne dass er etwas davon weiß“, erklärte der berühmte Mythenforscher Claude Lévi-Strauss.
Wenn in unseren Tagen das Stichwort „Europa“ immer weiter als stechendes Argument für eine zur Vereinheitlichung drängende Europapolitik genannt wird, dann klingt das wie die Berufung auf einen „Mythos Europa“. Hier wird mit subtilen Appellen gearbeitet, ohne dass bewusst zum Ausdruck gebracht wäre, was oder welche Vision im tiefen Grunde da genauer gemeint sein soll. Man brauche ein starkes Europa als Gegengewicht gegenüber Russland, China und sogar den USA, wird oft gesagt – aber an welche innere, also nicht äußerlich diktierte oder aufoktroyierte Einheit Europas ist da gedacht? Jahrelang war man der Überzeugung, ein geeintes Europa verhindere jegliche Kriegsgefahr auf dem Kontinent, den doch früher bekanntlich viele Kriege durcheinander wirbelten und von dem zwei Weltkriege ausgingen. Doch der Ukraine-Krieg trägt aktuell dazu bei, bisherige Gewissheiten dieser Art infrage zu stellen – zumal sich der Aggressor Russland nicht zuletzt deswegen zu militärischem Vorgehen ermutigt sah, weil er mittel- und langfristig auf die Uneinigkeit der europäischen Staaten untereinander setzen zu können meinte.
Tatsächlich konfligieren innerhalb Europas liberale mit konservativeren Lagern, reichere mit ärmeren Staaten, demokratisch hochmotivierte mit eher pseudodemokratisch ausgerichteten Ländern, flüchtlingsfreundliche mit eher flüchtlingsunfreundlichen Regierungen. Die EU krankt im Kern daran, dass sie von ihrer Konstruktion her ein primär ökonomisch konstruiertes Projekt darstellt – ganz im Sinne des umstrittenen Satzes: „Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa“. Was wird erst noch aus der EU, wenn einst der digitale Euro eingeführt sein wird, den 2021 der Rat der Europäischen Zentralbank in Eckpunkten beschlossen hat? Mit der Grundlage der gemeinsamen Geldpolitik ist und bleibt die europäische Einheit eine ziemlich äußerlich gestützte – mit immer noch zu wenig auf einen Nenner zu bringenden Werten.
Menschen- und Freiheitsrechte haben der Mentalität nach nicht überall in Europa das gleiche Gewicht. Zwar kennen die europäischen Staaten ein Diskriminierungsverbot gegenüber Minderheiten. Aber warum wird es in Bezug auf manche Minderheiten wie beispielsweise elektrosensible Mitmenschen nicht konsequent angewendet? Dieses Beispiel illustriert: Viele Betroffene sehen sich um zentrale Grundrechte gebracht – und zwar auf der Grundlage des Vereins ICNIRP (Internationale Kommission für den Schutz vor nichtionisierender Strahlung), dessen reduktionistischen Richtlinien für Mobilfunk-Grenzwerte in der EU immer noch gelten, obwohl ihre verdächtige Industrienähe bekannt ist und 2019 im Berliner Tagesspiegel dank gründlicher journalistischer Recherchen unübersehbar offengelegt wurden. 2020 wurde bekannt, dass die EU-Kommission den Corona-Wiederaufbaufonds der EU gerade auch dem Ausbau der Mobilfunknetze auf den umstrittenen 5G-Standard zu widmen gedenkt. Inzwischen wächst in Europa aber die Einsicht, dass 5G-Mobilfunk nicht nur eine wirtschaftspolitische, sondern auch eine sicherheits- und geopolitische, ja wohl doch auch eine gesundheitspolitische Dimension hat. So stellt der Europäische Wirtschafts- und Sozial-Ausschuss in seiner EU-Veröffentlichung „Digitalisation – Challenges for Europe“ 2019 fest, dass etwa 13 Millionen Europäer an Elektrohypersensibilität leiden, und seit August 2021 setzt sich die Europäische Bürgerinitiative signstop5g.eu/de für die Rechte der Betroffenen ein – doch welchen Erfolg wird sie zeitigen?
Insgesamt setzt sich die EU entschieden für die Digitalisierung ein, ohne in angemessener Weise nicht nur auf die Chancen, sondern auch auf die damit verbundenen Risiken und Benachteiligungen zu schauen. Inzwischen schlug der Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments sogar vor, intelligente autonome Roboter als elektronische Personen zu begreifen und deren „elektronische Persönlichkeit“ anzuerkennen. Und wenn die EU-Kommission im April 2021 das Ziel ausgab, Europa solle „das globale Zentrum für vertrauenswürdige künstliche Intelligenz (KI) werden“, so sind die viel diskutierten Vorbehalte gegenüber der sich exponentiell, womöglich autonom weiterentwickelnden KI-Technologie damit keineswegs erledigt – zumal der Regelungsentwurf sich als Verbotsgesetz darstellt, das den Einsatz von KI-Systemen lediglich in bestimmten Anwendungsszenarien verbietet beziehungsweise von bestimmten technisch-organisatorischen Voraussetzungen abhängig macht, während zivilrechtliche Fragen beim Einsatz von KI durch diese Verordnung nicht geregelt werden. Ist Europa zunehmend auf transhumanistischem Trip? Welch ein „Mythos Europa“ ist es denn eigentlich, der nicht aufhört, einem naiven Fortschrittsglauben zu frönen, energisch gigantische Milliarden-Opfer an Geldern einzufordern und seit langem allerlei bürokratische Gängelungen festzulegen? Und nochmals: Welche Spaltungen durchziehen diesen Mythos?
Überwachtes Europa
Andreas Voßkuhle sagte vor Jahren als damaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts einmal (es war zu Beginn der Eilverhandlung über die Klagen gegen eilige Rettungsfonds- und Fiskalpakt-Beschlüsse): „Europa fordert den demokratischen Verfassungsstaat ebenso, wie der demokratische Verfassungsstaat Europa fordert.“ Aber wo steht das eigentlich geschrieben, dass der demokratische Verfassungsstaat ein „Europa“ erfordere? Und wenn ja: welch ein Europa bitte? Und was, wenn solch ein Europa-Postulat – wie schon damals die Kläger in Karlsruhe befürchteten – kraft seines vereinheitlichenden Zuges am Ende Freiheit und Demokratie eher zu gefährden als zu stützen droht? Wenn der „Mythos Europa“ im Zuge einer global um sich greifenden Überwachungskultur womöglich seinerseits zunehmend totalitäre Tendenzen zeitigt? Warnen nicht längst Bücher wie „Digitale Diktatur“, „Die digitalisierte Freiheit“ oder „Smarte Diktatur“ vor den politischen Gefahren der digitalen Transformation? Shoshana Zuboff hat mit guten Gründen in einem Interview bekräftigt, dass selbst das europäische „Datenschutzrecht und das Kartellrecht, so wie wir sie kennen, einem Outlaw-Überwachungskapitalismus keinen Einhalt gebieten werden“.
Die Befürwortung einer starken europäischen Bastion sollte erst einmal den unscharfen „Mythos Europa“ zu entmythologisieren versuchen, um dann sorgfältig zu überlegen, welche inneren Werte wie glaubwürdig gegenüber Staaten und Machtzentren außerhalb der EU einheitlich vertreten werden können und sollen. Hätte man darauf früher geachtet, wäre es vielleicht gar nicht zu einem „Brexit“ gekommen. Diese inneren Werte bilden dann, so sie ethisch sauber gedacht und formuliert sind, das Fundament eines Europas eher für die Menschen als für die Staaten – was die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot in ihrem Buch „Wie hältst du`s mit Europa?“ (2019) fordert.
Dass Europa auch als „christliches Projekt“ verstanden werden müsse, hat schon Kardinal Reinhard Marx betont. Aber was wiegt solch ein Statement im religiösen und weltanschaulichen Pluralismus unserer Zeit noch? Es spricht jedenfalls zurecht von einem „Projekt“ und erklärt Europa mitnichten zum Selbstzweck. Angesichts einer europäisch schwächelnden Christenheit käme es darauf an, dass diese wieder stärker zu ihrer eigenen Identität findet, statt einer zweifelhaften Selbstsäkularisierung zu frönen. Nur dann könnte sie nachhaltig in der Lage sein, wie einst in früheren Zeiten geistlich wie politisch inspirierend und just in unserer Zeit apokalyptischer Zuspitzungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten wahrheits- und friedensfördernd zu wirken. Ihr Glaube an den Mensch gewordenen Gott steht menschheitsübergreifend, also welt- und europaweit ein für Menschenfreundlichkeit und Bewahrung der Schöpfung. Dieser Glaube ist imstande, alte wie neue Mythen zu brechen. Dass er in Europa präsent ist, genügt nicht – er müsste in ganz Europa wieder erstarken. Und danach sieht es derzeit leider nicht aus. Vielmehr nehmen die Mitgliederzahlen der großen Kirchen stetig ab, und daran dürfte auch deren zunehmend begeisterter Tanz ums digitale Kalb wenig ändern.