Politik

Die geopolitische Bedeutung der Weltmeere: Der Aufstieg des Indischen Ozeans

Lesezeit: 5 min
31.07.2022 10:00
Die Weltmeere gewinnen massiv an Bedeutung. Im Indischen Ozean könnte sich das Gefüge einer künftigen Weltordnung entscheiden.
Die geopolitische Bedeutung der Weltmeere: Der Aufstieg des Indischen Ozeans
Indische Spezialkräfte bei einer Vorführung im Hafen von Mumbai. Der Indische Ozean wird künftig an Bedeutung gewinnen. (Foto: dpa)
Foto: Divyakant Solanki

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“Rule, Britannia! Britannia rule the waves! – Herrsche, Britannia! Beherrsche die Wellen!” gilt als die inoffizielle Nationalhymne Großbritanniens – und macht deutlich, worauf sich die Macht des Königreichs etwa 300 Jahre lang stützte. Aufgrund seiner Insellage war Großbritannien weitgehend unangreifbar. Und dominierte gleichzeitig mit seiner Flotte die Weltmeere.

Heute sind es die Vereinigten Staaten von Amerika, die das British Empire beerbt haben. Auch sie sind de facto eine Insel – zwischen dem Atlantischen und dem Pazifischen Ozean. Nur im Norden grenzen sie an Kanada und im Süden an Mexiko, und keiner dieser Staaten stellt eine Bedrohung für sie dar. Die USA definieren sich folgerichtig als eine atlantische und eine pazifische Macht. Doch welche Rolle wird der Indische Ozean in Zukunft spielen? Und wie wird sich das auf die Kräfteverhältnisse auf dem Globus auswirken? Eine Analyse.

Mit der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus im Jahr 1492 und die anschließende Schaffung zahlreicher - zunächst spanischer und portugiesischer - Kolonien in der westlichen Hemisphäre, begann Europas Aufstieg zur wirtschaftlich, wissenschaftlich und militärisch dominierenden Weltregion. Die schiffbaren Flüsse des Kontinents, vor allem aber seine Küstenlinie mit seinen Golfen und Nebenmeeren des Atlantischen Ozeans, wie der Nord- und Ostsee und dem Mittelmeer, begünstigten den Handel und als Folge dessen die Entwicklung der Seefahrt und Innovationen im Schiffbau. Ein eindrückliches Beispiel für die merkantile Macht der Europäer ist die Gründung der britischen Ostindien-Kompanie, welche die fast 200-jährige Kolonialherrschaft Großbritanniens über den indischen Subkontinent begründete. Die Welt war europäisch und blieb es bis zum Ende des Ersten Weltkrieges.

Mit dem Ende des Ersten, spätestens aber mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die USA zur führenden Weltmacht, das „amerikanische Jahrhundert“ hatte begonnen. Lange blieb dabei der Atlantische Ozean das wichtigste Meer: Einerseits, weil Westeuropa aus Ruinen auferstand und in der Wirtschaftswunderzeit der 50er Jahre zu bisher unbekanntem Wohlstand gelangte. Andererseits aber auch bedingt durch die Rivalität zwischen den USA und der Sowjetunion, infolge derer die europäischen Staaten verschiedenen Bündnissystemen – der NATO oder dem Warschauer Pakt – beitraten oder beitreten mussten. Im Fall der NATO – „North Atlantic Treaty Organization“ - verstärkte dies die Klammer zwischen den USA und Westeuropa. Der Atlantik verband die beiden in diesen Jahrzehnten potentesten Wirtschaftsräume.

Gleichzeitig erlebte die Welt in dieser Phase zum ersten Mal seit Jahrhunderten ein relativ stabiles Bündnissystem, das erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Aufstieg Chinas zu einer Wirtschaftssupermacht zu Ende ging. Seitdem richten die USA ihren Fokus verstärkt auf ihren Konkurrenten im Fernen Osten, der inzwischen – wie auch die anderen ostasiatischen Staaten - die wirtschaftlich erfolgreichste Region in der Welt darstellt. Aus der Konfrontation zwischen zwei Blöcken, und einigen Jahren einer unipolaren Weltordnung, in denen die USA ihre Macht ohne größere Widerstände weltweit projizieren konnten, entsteht nun eine multipolare Weltordnung, deren Geburtswehen wir an neuralgischen Punkten wie in Taiwan oder der Ukraine beobachten können. Dies wird auch eine Phase wechselnder Bündnisse einläuten, mit vier oder fünf maßgeblichen Akteuren: Den USA, China, Indien und Russland, zu denen sich möglicherweise auch die EU gesellen wird, sollte sie die nächsten Jahre überleben - wofür nach aktuellem Stand allerdings wenig spricht.

Der Filmemacher Marcus Goldeck beleuchtet in seiner kürzlich auf Arte ausgestrahlten TV- Dokumentation „Poker um eine neue Weltordnung – die neue Seidenstraße“ potentielle und möglichweise recht kurzlebige Allianzen zwischen den Blöcken, schenkt aber dem aufstrebenden Indien keine Beachtung. Dieser Subkontinent hat jedoch das Potential, im künftigen Konzert der Mächtigen mitzuspielen – und zum dominanten Faktor im Indischen Ozean zu werden. Und damit rückt nun – nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Aufstieg Ostasiens – neben dem Atlantik und dem Pazifik auch das dritte Weltmeer verstärkt in den Blickpunt: Der Indische Ozean. Warum ist das so?

Ein Großteil des weltweiten Handelsverkehrs, darunter rund 80% des Ölhandels, wird heute über den Indischen Ozean abgewickelt. Öltanker passieren dabei in der Regel zwei Nadelöhre: Die Straße von Hormuz, die den Persischen Golf mit dem Ozean verbindet, und die Straße von Malakka zwischen der Malaiischen Halbinsel und Sumatra, hinter der sich der Indische Ozean und das Südchinesische Meer vereinen. Oft wird vergessen, dass das überwiegend chinesische Projekt der „Neuen Seidenstraße“ auch eine maritime Seidenstraße umfasst, und damit ist vor allem die Durchquerung des Indischen Ozeans gemeint, teilweise auch die des Roten Meeres und des Suezkanals, bis ins Mittelmeer, um chinesische Waren nach Europa zu liefern. Hier spielt inzwischen dem Hafen von Piräus eine führende Rolle als Umschlagplatz. Aber auch die Länder im Osten Afrikas stehen vor einem wirtschaftlichen Aufschwung, was die Bedeutung des Indischen Ozeans weiter wachsen lässt – und damit seine geopolitische Bedeutung.

Dabei ist ein zunehmender Antagonismus zwischen China und Indien nicht auszuschließen: Denn China muss darauf bedacht sein, seine Handelswege abzusichern. Entweder über verschiedene Infrastrukturmaßnahmen wie den Bau von Häfen mit anschließenden Nutzungsverträgen, wie beispielsweis auf Sri Lanka, oder die Errichtung von Militärbasen, wie in Dschibuti, strategisch günstig gelegen an der Meerenge Bab al-Mandab, wo das Rote Meer in den Indischen Ozean mündet. Indien wiederum, das aufgrund seiner Größe und seiner geographischen Lage dazu bestimmt scheint, eine vorherrschende Stellung im Indischen Ozean einzunehmen, dürfte versucht sein, den chinesischen Einfluss dort einzudämmen.

Spiegelbildlich zu dem Bedeutungszuwachs des Indischen Ozeans ist ein relativer Bedeutungsverlust des Atlantischen Ozeans absehbar. Erwirtschafteten die USA kurz nach dem Zweiten Weltkrieg noch rund 50% des Weltbruttosozialprodukts und waren ihre bevorzugten Handelspartner die Staaten Westeuropas, so ist der US-amerikanische Anteil inzwischen, kaufkraftbereinigt, auf etwa 15% des Welt-BIP zurückgegangen. Mit weiter fallender Tendenz. Gänzlich bedeutungslos dürfte der Atlantik hingegen nie werden: Sollte die Eisdecke einige Breitengrade unter dem Nordpol weiter abschmelzen und infolgedessen die dortigen Rohstoffe zu fördern sein, dürfte dies zu einem Gerangel unter den sogenannten arktischen Mächten führen, unter ihnen Russland und die USA. Die Aufnahme Finnlands und Schwedens in die NATO erfolgt sicherlich auch mit Blick auf diese Entwicklung.

Zwei Faktoren, die einander bedingen, werden allerdings langfristig dafür sorgen, dass sich das Epizentrum der Weltwirtschaft nicht nur in den Fernen Osten, sondern auch nach Indien verlagert: Der Zugriff auf Rohstoffe – Öl, Gas und seltene Erden – und die Schwächung des US- Dollars und längerfristig das absehbare Ende seiner Rolle als Weltleitwährung. Diese Entwicklung wird durch den aktuellen Krieg in der Ukraine beschleunigt.

Die Sanktionen gegen Russland führen zu einer Umlenkung der russischen Öl- und Gaslieferungen gen China, was dazu führen wird, dass die westeuropäische Industrie gegenüber ihren asiatischen Konkurrenten in weiten Teilen nicht mehr konkurrenzfähig ist. Darüber hinaus engagiert sich die russische Gazprom verstärkt in der Entwicklung und Ausbeutung iranischer Gasfelder. Mittelfristig könnte also iranisches Gas über Pipelines nach Indien strömen, während russisches Gas nach China fließt. Gleichzeitig arbeiten die BRICS-Staaten – unter ihnen Russland, China und Indien – an einer alternativen rohstoffgedeckten Reservewährung. Sollte die an Bedeutung gewinnen, wären die Möglichkeiten der USA, sich über Schulden zu finanzieren und so auch ihre auf den Weltmeeren übermächtige Marine zu unterhalten, stark eingeschränkt.

In der oben erwähnten TV- Dokumentation von Marcus Goldeck wird über die Herzland-Theorie des britischen Geographen Halford Mackinders ausgiebig diskutiert. Diese besagt, dass derjenige, der das Herzland des eurasischen Kontinents beherrscht, auch die Welt beherrschen könne.

Mackinder stellte seine Theorie im Jahr 1904 auf der Königlichen Geographischen Gesellschaft in London vor. Sie dürfte zu einem guten Teil von dem damaligen Antagonismus zwischen dem British Empire und dem russischen Zarenreich beeinflusst worden sein und wirkt aus heutiger Zeit euro-zentristisch. Ein weitere einflussreicher Marinestratege, heute vielleicht weniger bekannt als MacKinder, war der Amerikaner Alfred Thayer Mahan, der zwischen 1840 und 1914 lebte. Er sagte voraus: „Wer immer den Indischen Ozean erobert, wird ganz Asien beherrschen.“ Während die Welt heute gebannt auf den sich anbahnenden Showdown zwischen den beiden Giganten USA und China wartet, wird auch Indien früher oder später aus deren Schatten treten. Und einiges spricht dafür, dass Alfred Thayer mit seiner Prognose nicht danebenlag.


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