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29.07.2022 10:30
Vor 30 Jahren wurde der ehemalige DDR-Staats- und Parteichef an die Bundesrepublik ausgeliefert, verhaftet und vor Gericht gestellt. Ende einer Flucht, Anfang eines juristischen Drahtseilakts.
Honeckers Heimkehr
Der ehemalige DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker mit seiner Frau Margot auf dem Flughafen von Santiago de Chile. (Foto: dpa)

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Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

Kurz reckte Erich Honecker die Faust, als er die chilenische Botschaft in Moskau am Abend des 29. Juli 1992 verließ. Dann raste ein dunkler Volvo mit dem früheren DDR-Staats- und Parteichef zum Flughafen Wnukowo. Gut zwei Stunden später landete er in einer russischen Sondermaschine in Berlin-Tegel. Der krebskranke 79-Jährige wurde festgenommen und ins Haftkrankenhaus Moabit gebracht. Der Hauptvorwurf: Totschlag wegen der Mauertoten.

Für den einst mächtigsten Mann der DDR war es das Ende einer fast dreijährigen Flucht nach seinem Sturz 1989 - erst vor wütenden DDR-Bürgern, dann vor der Justiz. Die Bundesregierung hatte nach monatelangem diplomatischen Ringen Honeckers Auslieferung aus Russland erreicht. «In ersten Stellungnahmen Bonner Politiker wurde begrüßt, dass der frühere SED-Chef nun endlich einem rechtsstaatlichen Verfahren zugeführt werden könne», berichtete die Tagesschau. Dreieinhalb Monate später kam der Ex-Staatschef vor Gericht. Doch lässt der Fall Honecker bis heute viele Fragen offen.

«Der Versuch der strafrechtlichen Aufarbeitung des DDR-Unrechts hat gezeigt, dass hier eine unabhängige Justiz an ihre Grenzen gestoßen ist», sagt der damals mit Honecker befasste Berliner Richter Hansgeorg Bräutigam. Auch der Historiker Thomas Kunze meint: «Mit dem Strafgesetzbuch ein halbes Jahrhundert Weltgeschichte aufzuarbeiten, das funktioniert nicht.»

«Die berühmtesten Obdachlosen der DDR»

Honecker, seit 1971 an der Spitze des SED-Staats, hatte zu Beginn des Umbruchs in der DDR am 18. Oktober 1989 unter Druck seiner Genossen alle Ämter abgegeben: Generalsekretär des SED-Zentralkomitees, Staatsratsvorsitzender, Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats. Ende Januar 1990 machte DDR-Generalstaatsanwalt Hans-Jürgen Joseph den ersten Versuch, den gestürzten Machthaber zur Rechenschaft zu ziehen - wegen «Hochverrats» und anderer Vergehen.

Honecker, frisch operiert wegen eines Nierentumors, wurde am Krankenbett in der Berliner Charité von der Polizei abgeholt und in die Haftanstalt Rummelsburg gebracht. Nach wenigen Stunden kam er aus gesundheitlichen Gründen wieder frei, die Ermittlungen liefen weiter. Aber wohin jetzt?

Das Quartier in der Funktionärssiedlung Wandlitz hatten Honecker und seine Frau Margot räumen müssen. Sie seien «die berühmtesten Obdachlosen der DDR» gewesen, sagte der damals eingesetzte Kriminalbeamte Ralf Romahn in der ARD-Dokumentation «Der Sturz». Die Honeckers selbst verstanden ohnehin die Welt nicht mehr. «Wie kann man ein Staatsoberhaupt wegen Hochverrats anklagen, das war so irreal», sagte Margot Honecker in derselben Doku.

In einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Moskau

Es war der Liedermacher Reinhold Andert, der nach eigenen Angaben den Kontakt zur evangelischen Kirche und zu Pastor Uwe Holmer herstellte. Holmer, der als Kirchenmann jahrelang unter Repressalien gelitten hatte, nahm Erich und Margot in einem Akt der Großmut in sein Pfarrhaus im brandenburgischen Lobetal auf. Dort rückte das Volk dem ehemaligen Machthaber auf die Pelle. «Keine Gnade für Honecker», forderten wütende Demonstranten vor Holmers Haus.

Anfang April 1990 schließlich fand das Paar Zuflucht im sowjetischen Militärkrankenhaus in Beelitz. «Da war Honecker erstmal verschwunden», zumindest aus dem öffentlichen Blickfeld, sagt Historiker Kunze, der für die Konrad-Adenauer-Stiftung tätig ist und mehrere Bücher über Honecker verfasst hat. Auch die Justiz hatte keinen Zugriff, als nach der deutschen Einheit Haftbefehl gegen Honecker wegen gemeinschaftlichen Totschlags an Flüchtlingen erging.

Am 13. März 1991 entzogen sich die Honeckers ganz: Die Sowjets flogen sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Moskau und gewährten Asyl. Damit war es allerdings mit dem Zerfall der UdSSR auch schon wieder vorbei. Ende 1991 rettete sich das Paar dann für 232 Tage in die chilenische Botschaft, bis Erich Honecker an jenem 29. Juli 1992 schließlich doch nach Berlin ausgeliefert wurde.

Heller Anzug, rote Krawatte

Am nächsten Tag um 11.00 Uhr erschien Honecker im hellen Anzug, mit roter Krawatte und einem unsicheren Blinzeln hinter der Hornbrille im Schwurgerichtssaal in Moabit, so beschreibt es der heute 85-jährige Vorsitzende Richter a.D. Bräutigam. Ein «schmerzhaftes Déjà-vu», schoss es dem Richter durch den Kopf. Denn der Kommunist Honecker war 1935 von den Nationalsozialisten schon einmal in Moabit festgesetzt worden. «Ich empfand das als ein bisschen beklemmend, es war nicht einfach, dem Mann einen Haftbefehl zu verkünden», sagt Bräutigam.

Fortan ging es nach Bräutigams Worten fast ausschließlich um die Gesundheit des krebskranken Häftlings. Der Richter gab nach eigener Erinnerung sofort medizinische Gutachten in Auftrag. Im Kern die Frage: «Kann man einem Mann den Prozess machen, von dem man glaubt, dass er das Urteil nicht erlebt?» Das Berliner Landgericht versuchte es - am 12. November 1992 begann die Hauptverhandlung gegen Honecker und fünf weitere frühere SED-Funktionäre wegen Totschlags an Flüchtlingen. 783 Seiten umfasste die Anklage.

Zum inhaltlichen Kern aber sei man wegen der Verfahrensfragen nie vorgestoßen, sagt Bräutigam. Honecker wehrte sich mit den Mitteln des Rechtsstaats gegen den Prozess und die Haft - und bekam Recht. Am 12. Januar 1993 entschied der Berliner Verfassungsgerichtshof, der Todkranke sei in seiner Menschenwürde verletzt. Honecker kam frei. Stunden später stieg er in ein Flugzeug nach Chile, wo seine Frau Margot schon seit dem Aufbruch in Moskau lebte. Am 29. Mai 1994 starb Erich Honecker im Alter von 81 Jahren in Santiago

«Du stellst plötzlich fest: Du hast für so einen Mann keine Lösung»

Was also bleibt von dieser Saga? Vom Versuch der Bundesrepublik, die Spitzen des untergegangenen sozialistischen Staats rechtsstaatlich zu richten? Honecker selbst bekundete nur Verachtung. Der Prozess sei «eine Farce», ein «politisches Schauspiel», gedacht zur Verunglimpfung der DDR, zum «Kampf gegen den Sozialismus», wetterte er in einer 70-minütigen Erklärung vor Gericht. Über die Mauertoten sagte er zwar, er trage «seit Mai 1971 die Hauptlast der politischen Verantwortung dafür» - aber nicht im strafrechtlichen Sinne. «Wenn Sie heute dennoch über uns zu Gericht sitzen, so tun Sie das als Gericht der Sieger über uns Besiegte.»

Der Vorwurf der «Siegerjustiz» hielt sich lange und das Argument, Vorgänge zu DDR-Zeiten könnten nicht nach bundesdeutschem Recht geahndet werden. Ebenso regelmäßig wehren sich die Beteiligten. «Den Vorwurf der Siegerjustiz möchte ich ganz energisch zurückweisen», sagt Richter Bräutigam. «Siegerjustiz hätte sicherlich anders ausgesehen.» Honecker sei nicht bestraft worden, andere Angeklagte milde.

Den Opfern von Willkür in der DDR stieß dies bitter auf. Der ehemalige Bürgerrechtler Arnold Vaatz hielt nach Honeckers Freilassung erbost fest, der Rechtsstaat sei mit dem Erbe des friedlichen Umbruchs in Ostdeutschland offenbar überfordert. Noch zu DDR-Zeiten war es aber auch nicht gelungen, den gestürzten Machthaber zur Rechenschaft zu ziehen. «Du stellst plötzlich fest, du hast für einen solchen Mann in einem solchen Staat in einer solch aufgebrachten Gesellschaft keine Lösung», bekannte der Linken-Politiker Gregor Gysi in der ARD-Doku «Der Sturz».

Die Leiterin der Forschung im Stasi-Unterlagen-Archiv, Daniela Münkel, sagt im Rückblick, immerhin habe man versucht, Gerechtigkeit herzustellen. Das habe starke symbolische Bedeutung. «Aber dass einige Opfer der SED-Diktatur die juristische Aufarbeitung unbefriedigend finden, kann man verstehen.»


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