Politik

Krise im Irak eskaliert: Schwere Gefechte in Bagdad

Im krisengeplagten Irak liefern sich der einflussreiche Prediger Muktada al-Sadr und seine Kontrahenten seit Monaten einen Machtkampf. Jetzt kommt es sogar zu Gefechten. Al-Sadr zieht die Notbremse.
30.08.2022 09:00
Aktualisiert: 30.08.2022 09:26
Lesezeit: 3 min
Krise im Irak eskaliert: Schwere Gefechte in Bagdad
Anhänger des schiitischen Klerikers Al-Sadr. (Foto: dpa) Foto: Hadi Mizban

Schusswechsel im Zentrum Bagdads, Raketeneinschläge in der eigentlich hoch gesicherten Grünen Zone der irakischen Hauptstadt, mehr als 20 Tote und Hunderte Verletzte: Die Bilder aus dem Irak wecken Erinnerungen an die dunkelsten Zeiten des Landes. Schon einmal versank der Irak in den 2000er Jahren in einem blutigen Bürgerkrieg. Auch der verlustreiche Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) liegt nur wenige Jahre zurück.

Hoffnungen auf bessere Zeiten nach dem Sieg gegen die Extremisten haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Iraks Elite hat das Land in eine Sackgasse manövriert. Die Eskalation in dieser Woche zeigt, dass die Lage jederzeit außer Kontrolle geraten kann. Immerhin hat der schiitische Geistliche Muktada al-Sadr, der im Zentrum des Konflikts steht, zunächst die Notbremse gezogen. Er befahl seinen Anhängern, ihren wochenlangen Protest vor dem Parlament zu beenden.

Monatelanger Machtkampf

Die Gewalt in Bagdad hatte sich in den vergangenen Monaten immer stärker abgezeichnet. Im Oktober 2021 gewann Al-Sadrs Bewegung bei der vorgezogenen Parlamentswahl mit Abstand die meisten Sitze. Den Sieg wollte der 48-Jährige nutzen, um mit jahrzehntealten politischen Gepflogenheiten im Irak zu brechen.

Bislang wurden die wichtigsten Ämter und Posten in der Regierung nach einem Proporzsystem unter den politischen Kräften aufgeteilt. Alle einflussreichen Parteien bekamen ihren Anteil an der Macht und damit Zugriff auf die Ressourcen des ölreichen Landes. Dieses System öffnete der Korruption Tür und Tor. Ein Großteil der Ressourcen fließt in Kanäle führender Politiker, die sich reichlich bedienen.

Al-Sadr hat sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr als Vorkämpfer gegen die Korruption inszeniert. Er versuchte dabei, sich populistisch und mit nationalistischer Rhetorik die Stimmung auf der Straße zunutze zu machen, wo der Frust über die politische Elite und die schlechte Wirtschaftslage groß ist. Nach dem Wahlsieg wollte Al-Sadr mit dem Proporzsystem brechen und kündigte an, eine Mehrheitsregierung ohne seine wichtigsten Kontrahenten zu bilden.

Unterstützung aus dem Iran für Al-Sadrs Gegner

Bei Al-Sadrs Gegnern handelt es sich ebenfalls um schiitische Parteien. Sie haben zwar bei der Parlamentswahl Sitze verloren, bleiben aber einflussreich. Eng verbunden sind sie mit dem schiitischen Nachbarland Iran, dessen langer Arm bis nach Bagdad reicht. Wie Al-Sadr verfügen auch seine Gegner über bewaffnete Milizen, die sie jederzeit für ihre Zwecke mobilisieren können.

Einer der wichtigsten Anführer der Gegner Al-Sadrs ist ein alter Bekannter im Irak: der frühere langjährige Ministerpräsident Nuri al-Maliki, den viele für den Vormarsch des IS im Jahr 2014 verantwortlich machen. Al-Maliki und seine Mitstreiter taten alles, um Al-Sadrs Mehrheitsregierung zu verhindern. Mit Erfolg.

Sturm auf das Parlament und den Regierungssitz

Weil Al-Sadr keine Mehrheit im Parlament für seine Ziele erreichen konnte, setzt er auf den Druck der Straße. Während die Abgeordneten des Predigers auf seinen Befehl ihre Mandate aufgaben, mobilisierte der Geistliche seine Anhänger. Im Juli stürmten Demonstranten das Parlament in der Grünen Zone Bagdads und errichteten ein Protestlager.

Am Montag kündigte Al-Sadr dann - zum wiederholten Male - seinen Rückzug aus der Politik an, nur damit seine Anhänger kurz darauf in den Regierungspalast eindrangen - die nächste Stufe der Eskalation. Die Lage geriet danach außer Kontrolle. Al-Sadrs Miliz lieferte sich in Bagdad Gefechte mit den Gruppen der Iran-treuen Kräfte.

Das politische System ist am Ende

Nach Al-Sadrs Aufruf an seine Anhänger, sich zurückzuziehen, scheint eine länger anhaltende Welle der Gewalt zunächst gebannt. Es mache ihn traurig, was im Irak passiert sei, sagte der Geistliche. Er habe auf friedliche Proteste gehofft. «Ich entschuldige mich beim irakischen Volk.» Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie Anhänger seiner Bewegung ihre Protestzelte abbauten.

Doch der politische Konflikt bleibt. Beide Lager liegen weiterhin weit auseinander. Al-Sadr will die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen - seine Gegner berufen sich auf die Verfassung und verlangen, es müsse eine Regierung gebildet werden.

Mit dem Machtkampf und der Gewalteskalation wird allzu deutlich, dass das politische System dem Irak keine dauerhafte Stabilität bringt. Errichtet worden war es einst von den USA nach dem Sturz von Langzeitdiktator Saddam Hussein im Jahr 2003. Es sollte die Demokratie in den Irak bringen, schuf aber stattdessen eine Kleptokratie, die von der Mehrheit der Schiiten im Irak kontrolliert wird und starkem iranischen Einfluss unterliegt.

«Es ist nahezu unumstritten, dass das System den irakischen Bestrebungen nicht gerecht wird», sagt der irakische Analyst Farhad Alaaldin. Eine Änderung der Verfassung sei notwendig: «Das jedoch ist nicht einfach.» Zumindest erwartet Alaaldin keinen «offenen Bürgerkrieg». Gewaltsame Zusammenstöße seien aber immer möglich.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.

E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung sowie die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Politik
Politik EU plant Ukraine-Hilfe: Kann Russlands eingefrorenes Vermögen helfen?
13.11.2025

Die Europäische Union steht vor einer heiklen Entscheidung: Sie will die Ukraine weiterhin finanziell unterstützen, sucht jedoch nach...

DWN
Politik
Politik Zollfreigrenze in der EU: Billigwaren künftig ab dem ersten Euro zollpflichtig
13.11.2025

Billige Online-Waren aus Asien könnten bald teurer werden. Die EU plant, die 150-Euro-Freigrenze für Sendungen aus Drittländern...

DWN
Politik
Politik EU-Politik: Fall der Brandmauer öffnet Tür für Konzernentlastungen
13.11.2025

Das EU-Parlament hat das Lieferkettengesetz deutlich abgeschwächt. Künftig sollen nur noch sehr große Unternehmen verpflichtet sein,...

DWN
Politik
Politik Wehrdienst-Reform: Union und SPD einigen sich auf Kompromiss
13.11.2025

Union und SPD haben ihren Streit über den Wehrdienst beigelegt – und ein Modell beschlossen, das auf Freiwilligkeit setzt, aber eine...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Google: Milliardenstreits um Marktmissbrauch
13.11.2025

Google steht erneut unter Druck: Die Preissuchmaschine Idealo verlangt Milliarden, weil der US-Konzern angeblich seit Jahren seine...

DWN
Finanzen
Finanzen Bitcoin-Kurs aktuell: Stabilisierungsversuch nach Kursverlusten
13.11.2025

Nach der kräftigen Korrektur in den vergangenen Tagen zeigt sich der Bitcoin-Kurs aktuell moderat erholt – was steckt hinter dieser...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Gender Pay Gap in der EU: Was die neue Richtlinie wirklich fordert
13.11.2025

Die EU hat mit der Richtlinie 2023/970 zur Gehaltstransparenz die Gender Pay Gap im Fokus. Unternehmen stehen vor neuen Pflichten bei...

DWN
Finanzen
Finanzen Telekom-Aktie: US-Geschäft treibt Umsatz trotz schwachem Heimatmarkt
13.11.2025

Die Telekom-Aktie profitiert weiter vom starken US-Geschäft und einer angehobenen Jahresprognose. Während T-Mobile US kräftig wächst,...