Politik

Bundesregierung: Süddeutsche Atomkraftwerke bleiben am Netz

Die Bundesregierung verlängert angesichts der Energie-Krise die Laufzeit der beiden süddeutschen Kraftwerke ein wenig. Der Standort Emsland soll abgeschaltet werden. Es gibt teilweise beißende Kritik.
06.09.2022 09:19
Aktualisiert: 06.09.2022 09:19
Lesezeit: 3 min

Das Atomzeitalter verlängert sich in Deutschland angesichts der Energiekrise. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck rückte am Montag von der endgültigen Abschaltung der letzten drei deutschen Atommeiler zum Jahresende ab. Die beiden süddeutschen Reaktoren Isar 2 und Neckarwestheim 2 sollten noch bis Mitte April und damit über den Winter als Reserve dienen können, kündigte der Grünen-Politiker an. Ein sogenannter Stresstest in seinem Auftrag hatte ergeben, dass die AKW in Extrem-Situationen im Winter hilfreich sein könnten. Der dritte verbliebene Reaktor Emsland werde aber wie geplant Ende des Jahres abgeschaltet. Umwelt- und Reaktorsicherheits-Ministerin Steffi Lemke nannte Habecks Vorschlag vernünftig. Nach Beginn des Ukraine-Kriegs hatte sie längere Laufzeiten noch als unverantwortbar abgelehnt. Der FDP ging Habecks Vorstoß nicht weit genug, sie verlangten längere Laufzeiten über Jahre.

Nach der Katastrophe von Fukushima wurde der Atomausstieg bis Ende des Jahres im Atomgesetz verankert. Habeck räumte ein, es bedürfe nun Gesetzes-Änderungen, um einen Reservebetrieb möglich zu machen. Zudem stellen sich Fragen der Sicherheit, da die großen Sicherheitsüberprüfungen mit Blick auf das geplante Aus zum Jahresende nicht mehr vorgenommen wurden.

Bei Umweltverbänden trafen Habeck und Lemke daher auf Empörung: "Mit seiner Entscheidung zu einer Reservebereitschaft für zwei Atomkraftwerke kündigt ausgerechnet der grüne Bundeswirtschaftsminister einen hart errungenen gesellschaftlichen Konsens auf", kritisierte Greenpeace-Deutschland-Chef Martin Kaiser. "Eine Bereithaltung der Atomkraftwerke über den 31. Dezember hinaus ist inakzeptabel und verhindert die notwendige Energiewende – gerade im Süden Deutschlands."

Die Anti-AKW-Bewegung gehört zu den Wurzeln der Grünen-Partei. Sie hatte in den vergangenen Jahren vehement gegen Laufzeit-Verlängerung gekämpft. Die Atom-Debatte nach dem Unglück von Fukushima 2011 trug dazu bei, dass mit Winfried Kretschmann erstmals ein Grünen-Politiker Ministerpräsident in einem Bundesland wurde.

Schwere Kritik an Habeck

Habeck dagegen sprach von einer angespannten Lage im Stromsystem in diesem Jahr. Er verwies auf die wegen Wartung abgeschalteten AKW in Frankreich, so dass Strom auch dorthin fließen werde. Die schwierige Versorgung von Kohlemeilern in Südwestdeutschland wegen des Rhein-Niedrigwassers verschlechtere die Lage. Zudem ist die Windkraft gerade in Süddeutschland nur schwach ausgebaut. Eine Laufzeitverlängerung über Mitte April hingegen schloss Habeck kategorisch aus.

CDU-Chef Friedrich Merz hält das geplante endgültige Abschalten von einem der drei noch laufenden Atomkraftwerke, dem Reaktor Emsland, für absurd. "Wir müssen nicht nur über die Netze und ihre Stabilität reden, wir müssen über die Stromerzeugungskapazitäten sprechen, und da hakt es an allen Ecken und Enden", sagt Merz im Deutschlandfunk. "Überhaupt noch daran zu denken, Stromerzeugungskapazitäten, die wir in Deutschland haben stillzulegen, ist völlig absurd." Das sei ein Fehler, der sich bitter rächen werde. "Wenn wir in diesem Jahr nicht genug Stromerzeugungskapazitäten haben, und wir werden nicht genug haben, dann steuern wir zusätzlich auf eine schwere wirtschaftliche Rezession zu."

Die Koalition lasse Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) machen, was er wolle. "Ich kann nur an den Bundeskanzler appellieren, diesen Irrsinn zu beenden." Habeck hatte angekündigt, dass die beiden süddeutschen Reaktoren Isar 2 und Neckarwestheim 2 noch bis Mitte April und damit über den Winter als Reserve dienen sollen. Ein sogenannter Stresstest in seinem Auftrag hatte ergeben, dass die AKW in Extrem-Situationen im Winter hilfreich sein könnten. Der dritte verbliebene Reaktor Emsland soll aber wie geplant Ende des Jahres abgeschaltet werden.

In einem beißenden Kommentar schreibt Tichy's Einblick:

Das ist der traurige Kompromiss des grünen Primaklima-Ministers Robert Habeck, der auch für Energie und das wenig Wirtschaft zuständig ist, was in Deutschland noch laufen darf, wenn das Gas aus der Röhre ist. Dafür sollen die AKWs über vier Monate in einem ungewohnten Reservebetrieb gehalten werden, obwohl Europa und Deutschland den Strom dringend brauchen: Das ist eine unfassbar verquere Schnapsidee. Hochfahrbar seien sie in „vielleicht ’ner Woche oder so“; wer so spricht wie Habeck, demonstriert seine komplette Unfähigkeit, der Wahrheit ins Auge zu schauen, die da lautet: Ein Kraftwerk, gleich welcher Bauart, ist kein Wasserkocher, den man schnell mal an- oder abstellt, wenn man grünen Tee für sein Müsli braucht. Moderne Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft sind komplizierter als eine Parteitagsregie. Man muss sie nicht wie Habeck gleich als „Hochrisikotechnologie“ verteufeln, aber verstehen: Abschalten und doch weiterlaufen lassen, wird nicht klappen. Man kann Habeck nicht verspotten. Man kann ihn nur zitieren: „Wir haben eine hohe Versorgungssicherheit. Wir haben genug Energie in Deutschland.“ Und wenige Momente später: „Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen.“

E.On reagiert zurückhaltend

Die Netzbetreiber als Autoren des Stresstests verlangten eine ganz Reihe von Instrumenten, um einen Stromengpass im Winter zu vermeiden. Dazu gehöre ausreichend Kapazität auch in Nachbarländern bis hin zur möglichen Abschaltung von großen Stromverbrauchern. "Insgesamt ist klar geworden, dass wir vor einer angespannten Situation in ganz Europa stehen", sagte der Chef des Netzbetreibers 50Hertz, Stefan Kapferer. "Unsere Botschaft ist ganz klar: Es ist sinnvoll und notwendig, alle Möglichkeiten zur Erhöhung der Strom-Erzeugung und der Transportkapazitäten zu nutzen." Sie legten daher den Einsatz aller drei verbliebenen AKW nahe.

Den Worten Habecks zufolge müssen die beiden süddeutschen Meiler jetzt auch für einen sogenannten Streckbetrieb nicht weniger produzieren. Die vorhandenen Brennstäbe reichten noch aus, um im Notfall die Reaktoren über eine Reihe von Wochen betreiben zu können. Sollten sie einmal angefahren werden, würden sie dann auch bis Mitte April laufen, sagte Habeck.

Der Energiekonzern E.ON als Betreiber von Isar 2 reagierte zurückhaltend. "Bei dem jetzt vorgestellten Plan wird es in aller erster Linie darauf ankommen, zu prüfen, ob und wie er technisch und organisatorisch machbar ist, denn Kernkraftwerke sind in ihrer technischen Auslegung keine Reservekraftwerke, die variabel an- und abschaltbar sind."

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Gold als globale Reservewährung auf dem Vormarsch

Strategische Relevanz nimmt zu und Zentralbanken priorisieren Gold. Der Goldpreis hat in den vergangenen Monaten neue Höchststände...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Hitzestress am Arbeitsplatz: Mehr Krankmeldungen bei Extremtemperaturen
02.07.2025

Extreme Sommerhitze belastet nicht nur das Wohlbefinden, sondern wirkt sich zunehmend auf die Arbeitsfähigkeit aus. Bei Hitzewellen...

DWN
Politik
Politik Europa vor dem Zerfall? Ex-Premier Letta warnt vor fatalem Fehler der EU
02.07.2025

Europa droht, zum Museum zu verkommen – oder zum Spielball von Trump und China. Italiens Ex-Premier Letta rechnet ab und warnt vor dem...

DWN
Politik
Politik Warum sprechen diese Woche alle über Trumps „Big Beautiful Bill“?
01.07.2025

Es ist Trumps größtes Prestigeprojekt. Doch welche Vor- und Nachteile hat das Gesetzespaket, das am Freitag unterschriftsreif auf dem...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Kernenergie-Aktien explodieren um 542 Prozent: Anleger warnen vor Blasenbildung
01.07.2025

Kernenergie-Aktien feiern ein spektakuläres Comeback – befeuert durch den steigenden Strombedarf für Rechenzentren. Die Branche erlebt...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Svenska Digitaltolk: Dolmetscher-Gigant kauft KI-Unternehmen – Millionenumsatz prognostiziert
01.07.2025

Schwedens Dolmetscher-Gigant will Europas Übersetzungsmarkt aufrollen – mit KI, Millionenplänen und dem Griff nach Deutschland. Doch...

DWN
Politik
Politik Grenze zu – zumindest teilweise: Polen kontrolliert ab Montag
01.07.2025

Polen wird ab kommendem Montag vorübergehend wieder Grenzkontrollen an der Grenze zu Deutschland einführen. Das kündigte...

DWN
Politik
Politik Krankenkassen schlagen Alarm: Zusatzbeiträge könnten deutlich steigen
01.07.2025

Die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) warnen vor Druck zu neuen Beitragserhöhungen ohne eine rasche Bremse für steigende Kosten....

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Thyssenkrupp-Umbau betrifft Tausende – Betriebsräte fordern Klarheit
01.07.2025

Angesichts weitreichender Umbaupläne bei Thyssenkrupp fordern die Beschäftigten klare Zusagen zur Zukunftssicherung. Betriebsräte pochen...