Politik

Eskalation erhöht die Spannungen zwischen der EU und Russland

Lesezeit: 3 min
17.09.2022 08:43
Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan droht erneut zu eskalieren. Aserbaidschan hat armenisches Gebiet unter Beschuss genommen. Armenien hat den Bündnisfall ausgerufen und Russland um militärische Unterstützung ersucht. Von der EU können sich die Armenier keine Hilfe erhoffen, denn Aserbaidschan ist wichtiger Gaslieferant für Europa.
Eskalation erhöht die Spannungen zwischen der EU und Russland
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev bei einem Treffen im Juli 2022. Um sich von Energielieferungen aus Russland zu lösen, will die EU künftig deutlich mehr Gas aus der Südkaukasus-Republik Aserbaidschan beziehen. (Foto: dpa)
Foto: -

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Am vergangenen Dienstag kam es zu Kampfhandlungen im Südkaukasus zwischen Armenien und Aserbaidschan. Aserbaidschan hat das Nachbarland Armenien mit Artillerie und Drohnen angegriffen. Mittlerweile wurde eine Waffenruhe ausgerufen, doch die Lage bleibt angespannt. Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan bezifferte die vorläufige Zahl der Todesopfer auf armenischer Seite auf 105. Das Verteidigungsministerium in Baku meldete 50 gefallene Soldaten auf Seiten Aserbaidschans.

Die über Nacht ausgebrochenen Kämpfe an mehreren Stellen entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze sind so ernst, dass Eriwan seinen mächtigen Verbündeten Russland um Hilfe gebeten hat. Dies wurde wenige Stunden nach einem nächtlichen Telefongespräch des armenischen Premierministers mit dem russischen Präsident Wladimir Putin bekannt. Die armenische Regierung hat bestätigt, dass sie russische Militärhilfe angefordert hat, um die Aggression und den Beschuss Aserbaidschans abzuwehren, wie RIA Novosti berichtet. Darin heißt es:

„Während des Treffens wurden weitere Schritte besprochen, um den aggressiven Handlungen Aserbaidschans gegen das souveräne Territorium Armeniens zu begegnen, die um Mitternacht begannen. Im Zusammenhang mit der Aggression gegen das souveräne Territorium der Republik Armenien wurde beschlossen, sich offiziell an die Russische Föderation zu wenden, um die Bestimmungen des Vertrags über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand umzusetzen, sowie an die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit und den UN-Sicherheitsrat.“

Streit um Bergkarabach: Schon 2020 gab es Krieg

Seit Jahrzehnten tobt zwischen Armenien und Aserbaidschan ein Konflikt um die Region Bergkarabach, die mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird. Dort hat sich die Republik Arzach formal für unabhängig erklärt hat, wird jedoch international nicht als eigenständiger Staat anerkannt. Die Republik Arzach wurde bereits in einem Krieg gegen Aserbaidschan 1994 militärisch von Armenien unterstützt und konnte nach einem Sieg angrenzende Gebiete für sich beanspruchen.

2020 war der Konflikt in der Region erneut aufgeflammt, nachdem es an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze zu Kampfhandlungen kam zwischen Truppen Armeniens und der Republik Arzach auf der einen und Streitkräften Aserbaidschans auf der anderen Seite. Der Krieg endete nach vier Monaten mit einem Sieg Aserbaidschans, das in der Folge weite Teile der 1994 verlorenen gegangenen Gebiete zurückeroberte.

Als Ergebnis der Waffenstillstandsverhandlungen wurden russische Friedenstruppen in Bergkarabach stationiert – ein Schritt, der ausdrücklich die Zustimmung der UN und der EU erhielt. Dieses Mal fand der Angriff Aserbaidschans allerdings nicht im umstrittenen Bergkarabach statt, sondern richtete sich gegen Gebiete Armeniens, die innerhalb der international anerkannten Grenzen liegen.

Armenien ruft Bündnisfall aus und bittet Russland um militärische Unterstützung

Armenien befindet sich in einem Militärbündnis mit Russland, der sogenannten Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit (OVKS). In Folge des aserbaidschanischen Angriffs rief Armenien nun den Bündnisfall aus und ersuchte Russland offiziell um militärische Unterstützung. Ob es zur Entsendung weiterer russischer Soldaten in die Region kommt, ist aber zweifelhaft. Zum einen hat Russland derzeit kaum Kapazitäten für einen weiteren militärischen Konflikt, nachdem Moskau im Ukraine-Krieg zahlreiche Verluste hinnehmen musste. Zum anderen ist Russland mit beiden Seiten verbündet.

Das lässt sich schon an den Waffenlieferungen Russlands in beide Länder ablesen. Während Armenien im letzten Jahr Waffen aus russischer Produktion für umgerechnet eine Milliarde Euro kaufte, deckte sich Aserbaidschan sogar für fünf Milliarden Euro mit russischem Kriegsgerät ein. Zudem verbindet Russlands Präsident Putin eine Partnerschaft mit Aserbaidschans Staatsoberhaupt Ilham Aliyev, den Putin zuletzt kurz vor Beginn des Ukraine-Kriegs traf.

Stattdessen konzentrierte Russland sich in den folgenden Tagen auf eine Vermittlerrolle. Außerdem beschloss das Militärbündnis OVKS die Entsendung einer Erkundungsmission in das Gebiet. Nach zweitägigen Kampfhandlungen wurde eine vorläufige Waffenruhe verkündet, die seit Mittwoch 20 Uhr gilt. „Unter Teilnahme der internationalen Gemeinschaft ist eine Vereinbarung über eine Waffenruhe erzielt worden“, sagte der Sekretär des armenischen Sicherheitsrates, Armen Grigorjan, im armenischen Fernsehen. Aserbaidschan bestätigte die Waffenruhe zunächst nicht. Doch das armenische Verteidigungsministerium teilte mit, dass der Beschuss abgenommen habe.

Eine Verurteilung des Angriffs seitens der EU bleibt aus

Die EU insgesamt und Deutschland im Speziellen haben den Angriff Aserbaidschans auf seinen Nachbarn bis heute nicht verurteilt. Zwar forderte Bundeskanzler Scholz beide Seiten auf, die Kampfhandlungen umgehend zu beenden. Doch auf die Frage des Journalisten Thilo Jung, ob die Bundesregierung in dem Konflikt einen klaren Aggressor ausmachen könne, antwortete ein Sprecher des Auswärtigen Amts ausweichend. Mangels unabhängiger Beobachter vor Ort ließe sich der Sachverhalt nicht überprüfen.

Dabei kommen unabhängige Medienberichterstatter klar zu dem Ergebnis, dass der Angriff am vergangenen Dienstag von Aserbaidschan ausging. Der tatsächliche Grund für die deutsche und auch europäische Zurückhaltung bei einer Verurteilung Aserbaidschans dürfte dabei viel mit Gaslieferungen zu tun haben. Zwar rangiert Aserbaidschan in punkto Pressefreiheit, Menschenrechte und Korruption teilweise noch hinter Russland. Doch es verfügt über das in der EU dringend benötigte Gas.

Erst im Mai vermeldete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass die Handelsbeziehungen zu Aserbaidschan ausgebaut werden sollen. Im Juli unterzeichnete die EU dann ein Gasabkommen mit Aserbaidschan. Um sich von russischen Gaslieferungen unabhängiger zu machen, soll in den nächsten fünf Jahren doppelt so viel Gas wie bisher aus dem Südkaukasus nach Europa fließen. Zurzeit importiert die EU jährlich rund 8 Milliarden Kubikmeter Gas aus Aserbaidschan. Ab 2027 soll die Importmenge auf 20 Milliarden Kubikmeter anwachsen. Von der Leyen kommentierte das Abkommen mit den Worten: „Die EU wendet sich an vertrauenswürdige Energielieferanten“.


Mehr zum Thema:  

Anzeige
DWN
Panorama
Panorama Kostenloses Experten-Webinar: Die Zukunft der personalisierten Medizin aus der Cloud - und wie Sie davon profitieren

Eine individuelle Behandlung für jeden einzelnen Menschen - dieser Traum könnte nun Wirklichkeit werden. Bei der personalisierten Medizin...

DWN
Politik
Politik DWN-Kommentar: Eine Welt ohne Europa?
04.05.2024

Der Krieg in der Ukraine und die Spannungen im Nahen Osten gefährden die Zukunftsfähigkeit der EU. Nun steht sie an einem Scheideweg:...

DWN
Politik
Politik Angriff auf SPD-Europapolitiker: Matthias Ecke in Dresden schwer verletzt
04.05.2024

Schockierende Gewalt: SPD-Europaspitzenkandidat Matthias Ecke wurde brutal angegriffen. Politiker verurteilen den Angriff als Attacke auf...

DWN
Finanzen
Finanzen Platzt die ETF-Blase – was dafür, was dagegen spricht
04.05.2024

Kaum eine Investmentform konnte in den zurückliegenden Jahren die Gunst der Anleger derart erlangen wie dies bei Exchange Traded Funds,...

DWN
Immobilien
Immobilien Streikwelle auf Baustellen droht: Gewerkschaft kündigt Massenstreiks an
04.05.2024

Die Bauindustrie steht vor Massenstreiks: Gewerkschaft kündigt flächendeckende Arbeitsniederlegungen mit rund 930.000 Beschäftigten an.

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Chinas Einfluss in Südostasien: Herausforderung für deutsche Firmen
04.05.2024

Deutsche Unternehmen suchen verstärkt nach Alternativen zum chinesischen Markt und richten ihr Augenmerk auf die aufstrebenden...

DWN
Technologie
Technologie CO2-Speicherung: Vom Nischenthema zum Wachstumsmarkt
04.05.2024

Anreize durch die Politik, eine neue Infrastruktur und sinkende Kosten: CO2-Speicherung entwickelt sich zusehends vom regionalen...

DWN
Politik
Politik Wahljahr-Turbulenzen: Biden im Kreuzfeuer der Gaza-Proteste
04.05.2024

Seit Monaten sind bei fast jedem öffentlichen Auftritt von Präsident Joe Biden propalästinensische Demonstrationen zu sehen, die sich im...

DWN
Politik
Politik Mindestlohn: Neues Streitthema köchelt seit dem Tag der Arbeit
04.05.2024

Im Oktober 2022 wurde das gesetzliche Lohn-Minimum auf zwölf Euro die Stunde erhöht. Seit Jahresanfang liegt es bei 12,41 Euro, die von...