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England ist am Ende: Willkommen in der Realität!

Lesezeit: 6 min
24.09.2022 09:08  Aktualisiert: 24.09.2022 09:08
Das British Empire gibt es schon länger nicht mehr, doch musste das in England bisher niemand zur Kenntnis nehmen. Elisabeth II inszenierte sich bis zum letzten Tag ihrer sieben Jahrzehnte dauernden Amtszeit glaubhaft als Königin eines Weltreichs. Dieses Schauspiel ist nun zu Ende.
England ist am Ende: Willkommen in der Realität!
Großbritanniens Weltreich ist Geschichte, das Land muss sich ehrlich mit seiner geschwundenen Bedeutung auseinandersetzen. (Foto: dpa)

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Das British Empire gibt es schon länger nicht mehr, doch musste das in England bisher niemand zur Kenntnis nehmen. Elisabeth II inszenierte sich bis zum letzten Tag ihrer sieben Jahrzehnte dauernden Amtszeit glaubhaft als Königin eines Weltreichs. Dieses Schauspiel ist nun zu Ende. England muss oder besser: müsste also zur Kenntnis nehmen, dass das einstmals mächtige Land heute ein Land wie jedes andere ist. Wenn hier die Bezeichnung England verwendet wird, so ist dies kein Irrtum. Auch Schottland wurde von England unterworfen und trotz der offiziellen Bezeichnung „Vereinigtes Königreich“ wollen viele Schotten einen eigenen, unabhängigen Staat bilden. Und in Wales wird Englisch verdrängt und die keltische Sprache forciert. Daher: Gefordert ist England.

Die Queen und die Armee hielten die Illusion des British Empire aufrecht

Die Queen bildete aber nicht den einzigen Faktor, der den Schein eines Weltreichs aufrechterhielt: Mindestens so wirksam war und ist die Armee mit der British Army, der Royal Air Force und der British Navy. Das britische Militär rangiert im „Global Firepower Index“ auf Platz 5 der Weltrangliste. Großbritannien unterhält nach wie vor Truppen in vielen Ländern der Welt und beteiligt sich an der NATO-Einsatzgruppe an der EU-Ostfront. Diese Daten allein wären für das Bewusstsein der Briten noch nicht relevant. Entscheidend ist, dass die Streitkräfte tatsächlich aktiv Krieg führen.

Als prominenteste Beispiele seien die beiden Irak-Kriege 1991 und 2003 genannt, bei denen Großbritannien das größte Kontingent an Soldaten nach den USA stellte. Oder auch der Einsatz in Afghanistan. Und auf anderen Kriegsschauplätzen. Noch in lebhafter Erinnerung ist der Krieg um die abgelegenen, 12.000 Kilometer von England entfernten Falkland-Inseln im Südatlantik. 1982 wollte Argentinien die Inseln annektieren, die Armee verteidigte jedoch erfolgreich den britischen Besitz und unterhält bis heute auf den von 3.000 Personen bewohnten 200 kleinen Inseln Soldaten, Flugzeuge und Schiffe.

Es klingt etwas absurd, hat aber einen tieferen Sinn. Das Vereinigte Königreich besitzt weltweit eine Reihe von Inseln, die als Steuerparadiese eine wichtige Stütze des Finanzzentrums City of London bilden. Es soll niemand auf die Idee kommen, eine noch so entfernt liegende britische Insel zu attackieren.

Das Imperium Britannicum dominierte im 19. Jahrhundert den Globus, blieb auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Weltmacht, musste aber ab 1945 fast alle früher beherrschten Gebiete in die Unabhängigkeit entlassen. Das Imperium gibt es nicht mehr, aber die Armee, die die Eroberung der Welt ermöglicht hatte, gibt es bis heute.

In jeder britischen Familie sind Erinnerungen an ruhmreiche Einsätze der Vorfahren in beinahe allen Erdteilen präsent und diese erhalten durch die aktuellen Aktivitäten der Armee immer wieder neues Leben. Derzeit werden Luftabwehrsysteme, Drohnen und elektronische Geräte in die Ukraine geliefert. Britannia ist wieder im Einsatz.

„There is allerdings no free lunch“: Der jährliche Aufwand beträgt fast 70 Milliarden Dollar und ist größer als das durchschnittliche Budgetdefizit des Staates – außer in den Corona-Jahren, in denen die Defizite enorm angestiegen sind.

Nur wenige britische Produkte können sich auf den Weltmärkten behaupten

Das Vereinigte Königreich ist wirtschaftlich schwach und das bereits seit vielen Jahren. Die Probleme bestanden schon vor dem Beitritt zur EU, haben sich in der Zeit als Mitglied der EU nicht geändert und sind die gleichen nach dem Austritt aus der EU. Das Handelsbilanzdefizit beträgt Jahr für Jahr rund 230 Milliarden Dollar. Die Exporte bringen 465 Milliarden ins Land, die Importe kosten 695 Milliarden, also fließen jährlich 230 Milliarden netto ab. Die Globalisierung wurde nicht gemeistert: Nur wenige Betriebe schafften es, hochwertige und somit hochpreisige Waren im Inland zu produzieren und mit der Erzeugung von Massenware in Billiglohnländern zu kombinieren. Blickt man zurück ins 19. Jahrhundert, so kann man England als das Mutterland der Industrie bezeichnen, von dem die industrielle Revolution ausgegangen ist. Heute gibt es nur wenige Produkte, die sich auf dem Weltmarkt behaupten. Demgegenüber kaufen die Briten unglaublich viel ein.

Handelsbilanzdefizit ist nicht gleich Handelsbilanzdefizit

Die Daten erinnern paradoxer Weise an die Zeit des Britischen Empires. Trotz der industriellen Spitzenleistungen war auch im 19. Jahrhundert ein beträchtliches Handelsbilanzdefizit zu verzeichnen. Allerdings kamen damals die Waren aus den Kolonien, die die Herren des Reichs als Werkstätten betrachteten, in denen Untertanen arbeiten, während man selbst in feinen Klubs ein edles Nichtstun pflegte.

Tatsächlich die „Herren“. Obwohl die Königin Victoria eine entscheidende Triebkraft beim Aufbau des British Empire war, blieb Damen der Zutritt zu Klubs verwehrt. Kleine Bemerkung am Rande: In den 63 Jahren, in denen Victoria Königin war, erreichte das Imperium seine größte Bedeutung, in den 70 Jahren von Königin Elisabeth II fand der Bankrott des großen Reichs statt. Und in der Folge hat es heute einen enormen Handelsbedarf.

Mit der Wirtschaftsleistung auf Platz 29 der Weltrangliste

Die bescheidene Position auf den Weltmärkten war schon am Handelsbilanzdefizit zu demonstrieren. Der Internationale Währungsfonds hat im Oktober 2021 die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung der einzelnen Länder unter Berücksichtigung der Kaufkraft erstellt. In dieser Auswertung rangiert das Vereinigte Königreich mit einer Jahresleistung von 44.154 Einheiten auf dem 29. Platz. Zum Vergleich: Die USA liegen auf Platz 8 mit 63.358 Kaufkraft-Dollar-Äquivalenten, Österreich auf Platz 15 mit 55.453 und Deutschland auf Platz 18 mit 54.551. Vereinfacht ausgedrückt: Großbritannien ist mit seinen 67 Millionen Einwohnern gefordert, die Wirtschaftsleistung um rund 20 Prozent zu steigern.

Die City of London und der Tourismus können die Lücke in der Handelsbilanz nicht schließen

Manche Beobachter meinen, dass mit ein Grund für das Zurückbleiben der britischen Wirtschaft in der übertriebenen Konzentration auf den Dienstleistungssektor zu suchen ist: Der Umstand, dass nach wie vor die City von London das Weltfinanzzentrum ist, würde die Schwächen des Produktionsbereichs zudecken. Nicht zuletzt verlässt man sich auch auf die Macht der Sprache. England ist und bleibt die erste Adresse, um die Sprache zu lernen, wobei man am besten gleich ein komplettes Studium im Land absolviert. Und: Eine Reise nach London oder in eine andere Destination im Königreich ist immer ein Gewinn. Somit ist die Bilanz der Dienstleistungen zwar recht eindrucksvoll, aber nicht ausreichend, um das Loch in der Warenbilanz auszugleichen oder gar zu übertreffen. Der Überschuss in diesem Bereich beträgt etwa 175 Milliarden Dollar im Jahr, zu klein um das Warendefizit von 230 Milliarden zu kompensieren.

Hohe Inflation, ein starker Wechselkurs und steigende Zinsen – kein Honiglecken für die Briten

Aktuell kämpft auch Großbritannien mit einer extrem hohen Inflation von knapp 10 Prozent. Die Bank of England hat bereits reagiert und den Leitzins auf 1,75 Prozent angehoben, womit man über dem Euro-Leitzins von 1,25 Prozent liegt. Der Pfund-Kurs bewegt sich bereits seit längerem leicht über dem Euro und über dem Dollar. Beide Elemente wirken als Wirtschaftsbremse, weil die Geldkosten schwer zu verkraften sind und die ohnehin bescheidenen Exporte unter dem Kurs leiden. Somit kommt auch aus der Finanzseite kein Impuls zur Stärkung der britischen Wirtschaft.

Diese Faktoren werden allerdings meist überschätzt. Viel entscheidender ist die Psychologie, die Frage nach der Leistungsbereitschaft, nach dem Willen, die Schwierigkeiten zu meistern. Ein hoher Wechselkurs kann sogar ein Ansporn sein, Waren herzustellen, die so gut sind, dass selbst hohe Preise auf den Märkten akzeptiert werden.

Übrigens, ein zumindest scheinbar positives Kennzeichen ist zu beobachten. Die Arbeitslosigkeit ist mit 4 Prozent gering, allerdings auch, weil viele nach Corona nicht auf den Arbeitsmarkt zurückgekehrt sind und viele EU-Bürger nicht mehr in Großbritannien arbeiten wollen oder keine Erlaubnis bekommen.

Das Psychogramm eines Landes, das einst eine Weltmacht war

Zwei Faktoren sind in der britischen Gesellschaft zu beachten. Der Tod der Queen und der Austritt aus der EU

  • Mit dem Tod der Queen endet der Traum vom Weltreich. Trotz des neuen Königs Charles III und des immer noch aktiven Heeres wird man die Realität zur Kenntnis nehmen müssen. Somit rücken die Erfahrungen anderer, ehemaliger Weltreiche in den Fokus des Interesses. Österreich ist da ein lehrreiches Beispiel. Die Donaumonarchie löste sich nach dem Ersten Weltkrieg 1918 in Kleinstaaten auf und das einst bestimmende Österreich war plötzlich ein unbedeutendes Land. Die Bevölkerung verkraftete diesen Absturz nicht und es dauerte fast dreißig Jahre, bis nach dem Zweiten Weltkrieg die Chancen erkannt wurden, die ein kleiner Staat bietet. Die Folge war ein beachtenswerter Aufstieg zu einem der erfolgreichsten Länder. Wird England auch vier Jahrzehnte brauchen um sich zu erholen?
  • Der Austritt aus der EU spaltet immer noch das Land, nach aktuellen Umfragen wollen 52 Prozent zurück in die EU, 48 Prozent befürworten den BREXIT. Um den 50-Prozent-Wert schwanken die Ergebnisse seit Jahren. Diese Stimmung ist nicht geeignet, einen Aufstieg zu fördern.

Die Politik ist in der Realität angekommen, die Bevölkerung noch nicht

Die konservativen Tories, die den Ausstieg aus der EU abgewickelt haben, befinden sich durch die Turbulenzen rund um den bisherigen Premierminister Boris Johnson in einem Umfrage-Tief, das die neue Regierungschefin Liz Truss nicht leicht korrigieren wird. Ihre Botschaften lauten allerdings, dass man sich nun von den Korsetten der EU endlich befreien und den Aufschwung schaffen werde.

Und nicht anders argumentiert der derzeit im Umfrage-Hoch liegende Chef der Labour-Partei, Keir Starmer: „Mit Labour wird Großbritannien nicht zurück in die EU gehen. Wir werden dem Binnenmarkt nicht beitreten. Wir werden nicht in eine Zollunion eintreten. Nichts an der Wiederaufnahme der bekannten Auseinandersetzungen wird dazu beitragen, das Wachstum anzukurbeln, die Lebensmittelpreise zu senken oder der britischen Wirtschaft zu helfen, in der modernen Welt zu gedeihen.“

Beide Großparteien sind schon in der Realität angekommen, haben begriffen, dass es nicht um BREXIT ja oder nein geht, sondern um die gravierenden Strukturprobleme der britischen Wirtschaft. Die Stimmung in der Bevölkerung ist noch nicht so weit. Schließlich hat Britannien mit Charles III einen neuen König, der auch Oberhaupt von vierzehn weiteren, allerdings unabhängigen Staaten und Vorsitzender des 56 Staaten umfassenden Commonwealth of Nations ist. Also alles wie eh und je! Oder doch nicht?

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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