Weltwirtschaft

Die totale Krise könnte verhindert werden. Jetzt. Heute.

Lesezeit: 5 min
22.10.2022 11:29  Aktualisiert: 22.10.2022 11:29
Zwar wäre es durchaus möglich, die Krise der Weltwirtschaft in wenigen Monaten zu überwinden. Doch Politik und Notenbanken werden die Katastrophe wohl weiter befeuern.

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Auf Englisch würde man von einem „window of opportunity“ sprechen. Während alle Anzeichen auf einen unvermeidlichen Absturz der Weltwirtschaft in eine Katastrophe hinweisen, werden die Chancen übersehen, die sich jetzt bieten. Diese Chancen bestehen verblüffender Weise im Nichtstun. Würden die Währungspolitiker in den Zentralbanken und die Finanzpolitiker in den Regierungen ab sofort nichts tun, keine Maßnahmen gegen die Teuerung und die Rezession ergreifen, dann wäre die Krise in wenigen Monaten überwunden. Werden aber die Zinsen weiter in die Höhe gejagt und Milliardengeschenke verteilt, dann muss die Krise tatsächlich dramatische Ausmaße annehmen und lange dauern. Leider ist zu befürchten, dass die Akteure, die oft nichts tun, wenn Handlungsbedarf besteht, den bereits begonnenen, gefährlichen Aktionismus fortsetzen werden.

Die bisherigen Maßnahmen haben durchaus verträgliche Konsequenzen

Beim Thema Zinsen ist in erster Linie die US-amerikanische Zentralbank Federal Reserve Board angesprochen. Die Fed hat den Leitzins im September auf 3,25 Prozent angehoben. Die Rendite der zehnjährigen Staatsanleihen der US ist mittlerweile auf historisch übliche 4,2 Prozent gestiegen. Rund um diese beiden Werte bildet sich die gesamte Zinslandschaft der Einlagen, Kredite und Anleihen. Dieses Zinsniveau hat einen positiven Effekt: Die Anleger flüchten nicht mehr, wie bei Nullzinsen, in andere Bereiche und treiben mit ihren Käufen die Aktienkurse und Immobilienpreise in unrealistische Höhen. Nun haben wieder alle Investitionsmöglichkeiten ihren Platz,

Der Markt hat auch schon entsprechend reagiert. Die übertriebenen Börsenkurse wurde korrigiert, der maßgebliche Index der New Yorker Börse, der Dow Jones, ist von astronomischen 36.000 Zählern gefallen und bewegt sich nun bei 30.000. Die Relation der Kurse zu den erwirtschafteten Gewinnen ist vom 23fachen vor einem Jahr auf das 19fache gesunken. Wenn die Preise der Aktien dem 19fachen des Gewinns pro Aktie entsprechen, dann ist das immer noch hoch, zumal derzeit die Gewinne zurückgehen. Allerdings nähern sich die Kurse gewohnten Relationen, man muss mit weiteren Kursrückgängen rechnen, die aber nicht dramatisch sein dürften. Um wieder einen englischen Ausdruck zu strapazieren, das Motto lautet „back to normal“.

Ein Zinstsunami der US-Zentralbank hätte dramatische Folgen

Treibt allerdings die Fed die Zinsen weiter in die Höhe, und Fed-Präsident Jay Powell ist wild entschlossen das zu tun, dann kippt die Situation. Powell glaubt, wie die meisten Währungspolitiker, dass Zinserhöhungen die Wunderwaffe gegen die Teuerung bilden. Das stimmt, wie die Praxis zeigt, nur sehr bedingt. Die Kreditnehmer können sich tatsächlich weniger leisten und bremsen die Konjunktur sowie die Fähigkeit der Anbieter die Preise zu erhöhen. Neue Kredite werden nach Möglichkeit nicht aufgenommen. Die kleine Lücke in der Logik: Es gibt nicht nur Kreditnehmer, Leute mit Geld können sich bei hohen Zinsen mehr leisten. Die große Lücke in der Logik: Die Anhebung der Zinsen hat Zweit- und Drittwirkungen.

Ab einem, nicht genau definierbaren Niveau lösen hohe Zinsen einen Aktiencrash aus. Wenn aktuell die Rendite der Anleihen 4,2 Prozent beträgt und die Dividendenausschüttungen in Relation zu den Kursen im Schnitt bei 2,5 Prozent liegt, dann ergibt sich eine plausible Rechnung. Die Anleihen sind Nominalwerte, werden von der Inflation entwertet und weisen keine Kursphantasie auf, haben aber den Vorteil der verlässlichen Zahlung von Zinsen. Die Aktien repräsentieren Realwerte, die Kursgewinne neutralisieren in der Regel die Entwertung durch die Inflation. Ein Vorteil, den auch Grundstücke haben. Steigen aber die Anleihezinsen auf 5, 6 und mehr Prozent, dann geht die Rechnung zugunsten der Anleihen aus und die Aktienkurse stürzen ins Bodenlose und reißen die Immobilienpreise mit.

Also Herr Präsident Powell, Nichtstun und Ruhe bewahren ist angesagt. Auch kann man die Zinsen nicht nur als Instrument der preisdämpfenden Konjunkturbremse sehen. Mit 4,2 Prozent auf dem Anleihemarkt wird die Inflation von 10 und mehr Prozent bei weitem nicht ausgeglichen, da bleibt ein realer Geldwertverlust von 6 Prozent. Erst ab Geldkosten von 10 Prozent und mehr ist die Teuerung ausgeglichen, doch diese Sätze würden die US-Wirtschaft vollends in die Katastrophe treiben, weil dann Finanzierungen über Kredite unmöglich wären.

Auch für die Europäische Zentralbank gilt – Nichtstun ist angesagt

Der Präsident der US-Zentralbank hat als Hüter der führenden Weltwährung auch eine Verantwortung für die globale Wirtschaft. Sind die Dollarzinsen extrem hoch, dann fließt das Kapital weltweit zum Dollar. Die anderen Währungen müssen mitziehen und eine Welle von Zinserhöhungen sorgt weltweit für Krisen. In diesem Zusammenhang ist der Euro besonders zu beachten. Den 4,2 Prozent der zehnjährigen US-Staatsanleihen steht in Europa ein Satz von etwa 2,5 Prozent gegenüber. Das wäre für die Europäische Zentralbank ein Signal, um weitere Zinserhöhungen vorzunehmen. Aber auch hier gilt, Nichtstun ist am Platz, unter der Voraussetzung, dass die Fed nichts tut. Die 4,2 Prozent einer Dollar-Anleihe sind aktuell für einen Europäer nur bedingt attraktiv. Durch die Abwertung des Euro auf 98 Dollarcent für einen Euro ist der Kauf von Dollarpapieren teuer. Vorbei sind die Zeiten, da man für einen Euro noch 1,30 oder gar 1,40 Dollar bekam. Also sind 4,2 zu 2,5 Prozent Zinsen nur beschränkt überzeugend. Anders stellt sich die Rechnung dar, sollten die USA auf 5, 6 Prozent oder noch höher gehen.

Der Leitzins der Europäischen Zentralbank liegt seit September bei 1,25 Prozent – gegenüber 3,25 Prozent in den USA. Dieser Unterschied trägt wesentlich zur Schwäche des Euro bei, wobei man nicht übersehen darf, dass die europäische Wirtschaft deutlich schwächer ist als die amerikanische. Die EU-Staaten erzielen eine Wirtschaftsleistung von 15.000 Milliarden Euro bei 450 Millionen Einwohnern, der Vergleichswert der USA beträgt 21.000 Milliarden bei 330 Millionen Einwohnern. Dennoch: Mit einem höheren Zinssatz könnte die EZB den Euro-Kurs stützen. Allerdings wurde schon die vergleichsweise bescheidene Anhebung des Leitzinssatzes im September europaweit als Signal für eine Zinswende verstanden. Die Banken, die jahrelang unter den Nullzinsen gelitten haben, verrechnen nun deutlich höhere Kreditzinsen, um endlich die Ertragslage zu verbessern. Eine weitere Zinserhöhung der EZB wäre also alles andere als hilfreich. Noch einmal: Nichtstun ist angesagt.

Der niedrige Euro-Kurs hilft der europäischen Exportwirtschaft auf den Weltmärkten und diese Wirkung ist angesichts der insgesamt schwächelnden EU durchaus positiv zu sehen. Allerdings bedeutet der niedrige Eurokurs eine Verteuerung der Importe und erweist sich somit als zusätzlicher Treiber der ohnehin schon extrem hohen Inflation von 10 und mehr Prozent. Dieses Phänomen muss in der aktuellen Situation nicht unbedingt negativ gesehen werden. Ein niedriger Euro-Kurs und folglich hohe Importpreise dämpfen die Nachfrage und tragen durch diesen Effekt zur Beruhigung der Preisentwicklung bei. Somit besteht momentan auch an der Währungsfront kein Handlungsbedarf.

Die Politik stört die Wirkung der von den Konsumenten betriebenen Nachfragebremse

Die entscheidende Waffe gegen die Inflation ist, nicht nur beim Import, sondern generell, das Verhalten der Konsumenten und Investoren. Wenn in den Regalen der Supermärkte die teuren Waren liegen bleiben, wenn nicht jede Wohnung zu Phantasiepreisen verkauft werden kann, wenn die Tankstellen nur mehr aufgesucht werden, wenn es unbedingt notwendig ist, dann sinken die Preise. Die Politik wäre gut beraten, sie würde dieses Phänomen wirken lassen, der Effekt käme prompt zustande.

In dem manischen Bestreben, die Wählerinnen und Wähler in jeder Lebenslage zu beglücken, inszenieren alle Regierungen große Aktionen und verteilen Milliarden, um den Konsumenten die Pein der hohen Preise zu erleichtern. Dass diese Milliarden nur die Inflation fördern, die hohen Preise absichern und somit zur Verlängerung der Teuerungsphase beitragen, fällt den Vertretern der Illusion, der Staat sei ein Vater, der für alle sorgt, nicht auf. Ohne den teuren Aktionismus wäre die Inflation in einem Jahr bezwungen, mit der nun betriebenen Geldschwemme dauert der Preisrausch länger.

Auch in diesem Bereich wäre Nichtstun von vornherein angebracht gewesen. Aber wenigstens jetzt sollte die Fürsorgepolitik gestoppt und den Konsumenten und Investoren vertraut werden, dass sie selbst in der Lage sind, den Preiswahn zu brechen. Erste Ansätze des heilsamen Effekts der Nachfragebremse sind schon zu beobachten.

Wenn Handlungsbedarf besteht, dann pflegt die Politik das Nichtstun

Für einen Preistreiber trägt die Politik vor allem in Deutschland sehr wohl eine Verantwortung und in diesem Bereich herrscht tatsächlich Handlungsbedarf: Die Energieversorgung des Landes ist durch ein umfangreiches und vielfältiges Angebot sicherzustellen. Das ganze Spektrum von Öl, Gas, Atom, Wasser, Wind und Sonne muss genützt werden, da sonst dominierende Anbieter wie jetzt Russland mit Gas das ganze Land erpressen können. Oder eine ungenügende Kraftwerkskapazität für einen lähmenden Blackout sorgt. In diesem Bereich möchte die Politik aber offensichtlich nichts tun und ergreift daher nur zögerlich Maßnahmen, um die Versorgung notdürftig sicherzustellen. Diese Haltung ist durch den gebetsmühlenartig wiederholten Irrtum entstanden, dass man mit Windrädern und Sonnenkollektoren die Energieversorgung sichern könnte. Abgesehen davon, dass Wind und Sonne nicht immer bedarfsgerecht zur Verfügung stehen, gilt auch im Energiebereich eine kluge Regel, die wieder mit einem englischen Ausdruck charakterisiert sei: „Don’t put all your eggs in one basket!“

Betrachtet man dieses Verhalten im Zusammenhang mit dem Geldverteilungseifer bei der Inflationsbekämpfung zeigt sich deutlich, die Politik tut, wenn sie nichts tun sollte, und tut nichts, wenn sie tun müsste.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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