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Getreidedeal: Retten die Türkei und die UN das Abkommen?

Lesezeit: 4 min
01.11.2022 18:36  Aktualisiert: 01.11.2022 18:36
Nach Russlands Austritt aus dem Getreideabkommen, suchen die Türkei und die UN nach einer Lösung. Die Türkei vertraut dabei auf ihr diplomatisches Geschick.

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Seit Russland am Samstag die Teilnahme am Getreideabkommen ausgesetzt hat, ist die Sorge um eine neue Nahrungsmittelkrise groß. Laut der Nachrichtenagentur Middle East Eye erklärte das russische Verteidigungsministerium als Begründung für den Austritt, die Ukraine habe am frühen Samstag die Schwarzmeerflotte in der Nähe von Sewastopol auf der Halbinsel Krim mit 16 Drohnen angegriffen und „Spezialisten“ der britischen Marine hätten geholfen, den „terroristischen“ Angriff zu koordinieren.

Die Ukraine hat laut Middle East Eye weder bestätigt noch dementiert, dass sie hinter dem Angriff steckt. Das ukrainische Militär deutete an, dass die Russen selbst für die Explosionen verantwortlich gewesen sein könnten. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba sagte, Moskau habe die Explosionen 220 km vom Getreidekorridor entfernt als "falschen Vorwand" für einen seit langem geplantem Vorstoß benutzt.

Selenskyi macht Russland Vorwürfe

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi sagte am Sonntag in einer Videosprache, die Vereinten Nationen und die Gruppe der 20 wichtigsten Wirtschaftsmächte (G20) müssten mit Nachdruck auf den unsinnigen Schritt Russlands reagieren: „Dies ist ein völlig durchsichtiger Versuch Russlands, die Gefahr einer großen Hungersnot in Afrika und Asien wieder aufleben zu lassen", Selenskyi fügte hinzu, dass Russland aus der G20 ausgeschlossen werden sollte.

Selenskiy beschuldigte zudem Russland, die Krise eskalieren zu wollen und erklärte, 218 Schiffe seien blockiert und warteten darauf, entweder Lebensmittel zu transportieren oder ukrainische Häfen anzulaufen. Er sagte, 40.000 Tonnen Weizen seien im Hafen von Chornomorsk auf ein Schiff geladen worden, das vom UN-Ernährungsprogramm gechartert wurde und für Äthiopien bestimmt war, das nach seinen Worten „am Rande des Verhungerns“ steht und wie der Jemen und Somalia von einer „katastrophalen“ Nahrungsmittelknappheit bedroht ist. „Wir sind bereit, dieses Schiff ins Meer zu entlassen“, sagte er, aber wie andere Schiffe mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen sei es gezwungen zu warten, "weil Russland die Welt mit Hunger erpresst", sagte er.

Internationale Empörung über Ende des Abkommens

Die Entscheidung Moskaus, aus dem Abkommen auszusteigen, hat international Empörung ausgelöst und den Versuchen, die durch Moskaus Einmarsch in der Ukraine ausgelöste weltweite Nahrungsmittelkrise zu lindern, einen Schlag versetzt. Die Aussetzung der im Juli beschlossenen Schwarzmeer-Getreide-Initiative, mit der eine Hungersnot abgewendet und die Inflation eingedämmt werden sollte, führt dazu, dass die Ukraine, einer der größten Getreideexporteure der Welt, ihre wichtigen Schwarzmeerhäfen nicht mehr beliefern kann.

US-Präsident Joe Biden bezeichnete den Schritt als "schlichtweg empörend" und sagte, er würde die Hungersnot verschärfen, während sein Spitzendiplomat Russland vorwarf, Lebensmittel als Waffe einzusetzen. „Jeder Akt Russlands, der diese kritischen Getreideexporte unterbricht, ist im Wesentlichen eine Erklärung, dass Menschen und Familien auf der ganzen Welt mehr für Lebensmittel bezahlen oder hungern sollen", sagte US-Außenminister Antony Blinken in einer Erklärung. Am Sonntag schlug der russische Botschafter in Washington zurück und bezeichnete die Reaktion der USA als "empörend" und stellte falsche Behauptungen über Moskaus Vorgehen auf.

Währenddessen befindet sich der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar laut dem Middle East Eye in Gesprächen mit seinem Amtskollegen in Moskau und Kiew, um fieberhaft zu versuchen, ein von den Vereinten Nationen vermitteltes Abkommen über den Export ukrainischen Getreides wiederzubeleben, so das türkische Verteidigungsministerium am Sonntag. Hulusi Akar habe die Parteien aufgefordert, jegliche „Provokation“ zu vermeiden, die die Fortführung des Abkommens beeinträchtigen könnte, hieß es in einer Erklärung. „Die Inspektion der mit Getreide beladenen Schiffe, die vor dem Bosporus warten, wird heute und morgen fortgesetzt“, hieß es in der Erklärung.

Türkei nicht offiziell informiert

Die türkische Regierung wurde von der Entscheidung Russlands offensichtlich überrumpelt. Die Türkei sei von Russland nicht „offiziell benachrichtigt“ worden, bevor es sich aus dem Getreideabkommen zurückzog, für das Ankara und die UNO bürgen, sagte eine türkische Sicherheitsquelle am Samstag gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.

Russlands Ausstieg aus dem Getreideabkommen stellt eine neue Entwicklung in einem Krieg dar, der in letzter Zeit von einer ukrainischen Gegenoffensive und russischen Drohnen und Raketenangriffen dominiert wurde, die mehr als 30 Prozent der ukrainischen Stromerzeugungskapazität zerstört und die ukrainische Infrastruktur getroffen haben.

Das Getreideabkommen hatte die Lieferungen aus der Ukraine wieder aufgenommen, den Verkauf auf den Weltmärkten ermöglicht und das Vorkriegsniveau von fünf Millionen Tonnen monatlicher Exporte aus der Ukraine angestrebt. Mehr als neun Millionen Tonnen Mais, Weizen, Sonnenblumenprodukte, Gerste, Raps und Soja wurden im Rahmen des Abkommens exportiert.

Vor dem Auslaufen des Abkommens am 19. November hatte Russland jedoch wiederholt erklärt, dass es ernsthafte Probleme mit dem Abkommen gebe, während die Ukraine sich darüber beschwerte, dass Moskau fast 200 Schiffe an der Abholung von Getreideladungen gehindert habe.

Türkei UN und Kiew setzen auf Transitplan

Russland teilte UN-Generalsekretär Antonio Guterres in einem Schreiben, das Reuters vorliegt, mit, dass es das Abkommen auf „unbestimmte Zeit“ aussetze, weil es die „Sicherheit der zivilen Schiffe", die im Rahmen des Pakts unterwegs sind, nicht garantieren könne. Moskau bat den UN-Sicherheitsrat, am Montag zusammenzukommen, um den Angriff zu diskutieren, schrieb der stellvertretende UN-Botschafter Dmitri Polyanskiy auf Twitter. Seit Juli wurden mehr als 9,5 Millionen Tonnen Mais, Weizen, Sonnenblumenprodukte, Gerste, Raps und Soja exportiert. Die Vereinbarung sieht vor, dass ein Gemeinsames Koordinierungszentrum (Joint Coordination Centre, JCC), das sich aus UN-, türkischen, russischen und ukrainischen Beamten zusammensetzt, die Schiffsbewegungen genehmigt und die Schiffe inspiziert.

Die Türkei, die Ukraine und die Vereinten Nationen erklärten am Sonntag, sie würden die Umsetzung eines Schwarzmeergetreideabkommens mit einem Transitplan für 16 Schiffe am Montag vorantreiben, obwohl Russland seine Teilnahme an dem Pakt ausgesetzt hat. Am Sonntag passierten noch keine Schiffe den eingerichteten humanitären Seekorridor. Die Vereinten Nationen teilten jedoch in einer Erklärung mit, dass sie sich mit der Ukraine und der Türkei auf einen Plan für die Bewegung von 16 Schiffen am Montag geeinigt hätten - 12 Schiffe auf dem Hinweg und vier auf dem Rückweg.

Die russischen Beamten in der JCC seien über den Plan informiert worden, ebenso wie über die Absicht, am Montag 40 auslaufende Schiffe zu inspizieren. „Alle Teilnehmer stimmen sich mit ihren jeweiligen Militär- und anderen zuständigen Behörden ab, um die sichere Durchfahrt von Handelsschiffen zu gewährleisten“, hieß es in der Erklärung.

Getreideschiffe verlassen die Ukraine

Gestern verließen dann trotz dem Austritt Russlands aus dem Abkommen mehrere Getreidefrachter ukrainische Häfen und am heutigen Dienstag gaben die Vereinten Nationen an, dass drei weitere Getreideschiffte vom ukrainischen Häfen gestartet wären. Der Vorgang sei Teil des Getreidelieferabkommens, teilte das von den UN geführte Koordinationszentrum in Istanbul mit, das die sichere Passage der Schiffe überwacht. Die russische Delegation sei darüber informiert worden. Weiterhin wurde bekannt, dass UN-Koordinator Amir Abdulla die Gespräche mit Russland, der Ukraine und der Türkei über eine vollständige Wiederaufnahme des Abkommens fortsetze.

Es bleibt abzuwarten, ob die Türkei und die UN es schaffen das Getreideabkommen zu retten und die beiden Parteien zu einer Lösung zu bewegen. Die Türkei setzt wie schon im Juli alle Mittel in Bewegung, um mit ihrer Stärke als Vermittlerpartei zwischen der Ukraine und Russland eine Lösung zu finden und damit eine weltweite Nahrungsmittelkatastrophe zu verhindern.


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