Jahrelang konnten sich Ungarn und Polen den Forderungen der Europäischen Union in Fragen der "Rechtsstaatlichkeit" widersetzen, ohne dass es Brüssel gelang, eine wirksame Antwort auf den Widerstand ihrer beiden Mitgliedsstaaten zu finden. Doch dieses Jahr hat die EU nun einen Weg gefunden. Sie setzt erfolgreich die von ihr verteilten Finanzmittel als Druckmittel ein, um die abtrünnigen Staaten gefügig zu machen.
Die EU hat Finanzmittel für Polen und Ungarn in Höhe von insgesamt 138 Milliarden Euro blockiert, um sie zum Einlenken zu bringen. In der Folge haben die beiden Staaten gegenüber Brüssel bereits in wesentlichen Punkten nachgegeben. Die Vorgänge zeigen, wie sehr die EU vor dem Hintergrund der Corona-Krise und dem Konflikt mit Russland ihre Macht gegenüber den Mitgliedsstaaten ausbauen konnte.
Die EU wirft Ungarn vor, dass es in dem Land keine wirksame politische Kontrolle gebe. Tatsächlich hat Viktor Orban, der bereits seit 2010 Ministerpräsident ist, loyale Beamte in die Gerichte, die Generalstaatsanwaltschaft und die Medienbehörde berufen. Zudem ermöglicht es ihm seine große Mehrheit im Parlament, eine neue Verfassung zu schreiben. Doch in welchem EU-Staat ist das nicht so?
Das Europäische Parlament hat eine Resolution verabschiedet, in der es erklärt, dass es Ungarn nicht mehr als vollwertige Demokratie betrachtet. Einer der Gründe dafür sind die Bemühungen der ungarischen Regierung, die Verbreitung der LGBTQ-Bewegung (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender and Queer) zu verhindern oder etwa eine stärkere außereuropäische Zuwanderung.
In Polen scheint sich Jaroslaw Kaczynski, der Vorsitzende von "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), den ungarischen Ministerpräsidenten Orban zum Vorbild genommen zu haben. Auch die größte Partei Polens wird von der EU kritisiert, weil sie politischen Einfluss auf die Medien und die Justiz ausübt und vor allem Richter diszipliniert. Doch - wie gesagt - in welchem EU-Staat ist das denn nicht so?
Zudem stellte das oberste Gericht Polens im Jahr 2021 die Rechtsgrundlage der EU in Frage, als es entschied, dass die polnische Verfassung über einigen Gesetzen der EU steht. Im folgenden Streit mit der EU sagte damals Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki im Europäischen Parlament: "Die Kompetenzen der EU haben ihre Grenzen, wir können nicht länger schweigen, wenn sie überschritten werden."
Wie die EU die Oberhand über Ungarn und Polen gewann
Eigentlich verfügt die EU kaum über Möglichkeiten, gegen ihre Mitgliedsstaaten vorzugehen, wenn diese sich tatsächlich oder vermeintlich eines Fehlverhaltens schuldig machen. Und immer wenn die EU in der Vergangenheit versuchte, gegen Ungarn vorzugehen, fand Orban einen Ausweg. So zögerte er Veränderungen lange hinaus und schloss dann Abkommen, die seine Macht in Ungarn nicht nennenswert einschränkten.
Das Verfahren nach Artikel 7 der EU-Charta kann letztlich dazu führen, dass einem Mitglied, das gegen die gemeinsamen Werte verstoßen hat, das Stimmrecht entzogen wird. Da für seine Anwendung jedoch Einstimmigkeit erforderlich ist, haben die Zusagen Ungarns und Polens, ein Veto gegen einen solchen Antrag einzulegen, den Artikel praktisch nutzlos gemacht.
Nach diesen anfänglichen Misserfolgen ist die EU nun dazu übergegangen, Finanzmittel zurückzuhalten oder zumindest damit zu drohen, um abtrünnige Mitglieder zum Einlenken zu zwingen. Wo Proteste, Ermahnungen und Verurteilungen nichts bewirkt haben, soll nun die Kontrolle über den Geldhahn die Macht der EU über ihre Mitglieder manifestieren.
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Die Mitgliedstaaten haben sich zusammengeschlossen, um dies mit Hilfe eines sogenannten Konditionalitätsmechanismus zu tun, der im Jahr 2022 in Kraft getreten ist. Der Mechanismus erlaubt es der EU, die Finanzierung für Mitgliedsstaaten einzufrieren, wenn sie ihr Geld in Gefahr sieht, auch aufgrund von vermuteter Bestechung, wie Bloomberg berichtet.
Die EU hat dieses Instrument zum ersten Mal gegen Ungarn eingesetzt, nachdem Orban im April 2022 zum vierten Mal in Folge die Wahlen gewonnen hatte. Die Europäische Kommission hat ebenfalls Gelder wegen angeblicher Verstöße gegen die Charta der Grundrechte der EU eingefroren, die sich auf die Unabhängigkeit der Justiz und die Nichtdiskriminierung bezieht.
Am 22. Dezember fror die Europäische Kommission fast 22 Milliarden Euro der Kohäsionsmittel für Ungarn für die Jahre 2021 bis 27 ein, also Gelder, die für ärmere Mitgliedstaaten zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung vorgesehen sind. Der Grund: Ungarn halte sich nicht an die Charta der Grundrechte, insbesondere im Hinblick auf den Schutz der akademischen Freiheit, Flüchtlinge und LGBTQ-Personen.
Zwei Wochen zuvor hatten die EU-Mitgliedstaaten wegen anhaltender Korruptionsbedenken Finanzmittel in Höhe von 6,3 Milliarden Euro blockiert. Die EU blockierte außerdem Zuschüsse in Höhe von 5,8 Milliarden Euro aus dem ungarischen Covid-Sanierungsfonds, bis Änderungen zur Verbesserung der Unabhängigkeit der Justiz im Lande vorgenommen werden.
Auch Polen hat noch kein Geld aus seinem 35,4 Milliarden Euro schweren Covid-Konjunkturprogramm erhalten, das Zuschüsse und Darlehen umfasst, und auch nicht aus den 75 Milliarden Euro aus dem Kohäsionsfonds, die möglicherweise zurückgehalten werden, bis das Land die EU-Charta einhält.
Darüber hinaus muss Polen täglich 1 Million Euro Strafe zahlen, weil es sich über eine Anordnung des EU-Gerichts hinweggesetzt hat, eine Disziplinarkammer für Richter aufzulösen, eine Summe, die auf über 400 Millionen Euro angewachsen ist. Polen reichte im Dezember eine Beschwerde ein, um die Geldstrafen zu stoppen.
Ungarn und Polen brauchen das Geld aus Brüssel
Wie viele andere Länder in Europa haben auch Ungarn und Polen mit hohen Lebenshaltungskosten zu kämpfen. Denn der Kampf gegen Corona und der wirtschaftliche Krieg gegen Russland haben die Inflation verschärft. Orban hat bereits Anfang 2022 die Staatskassen geleert, als er sich für seine Wiederwahl einsetzte.
Da die meisten EU-Gelder blockiert sind, musste er umfangreiche Sondersteuern erheben, um die Haushaltslöcher zu stopfen. In Polen ist Kaczynskis Regierungspartei auf weitere EU-Gelder angewiesen, um ihre großzügigen Sozialausgaben vor den für Oktober erwarteten Wahlen aufrechtzuerhalten, wobei Umfragen zeigen, dass sie die Macht an die Opposition verlieren könnte.
Infolge ihrer Geldnot haben beide Länder zaghafte Versuche unternommen, ihre Differenzen mit der EU zu schlichten. Nachdem sich zunächst fast ein Drittel der polnischen Gemeinden für "frei von LGBTQ-Ideologie" erklärt hatte, zogen die meisten diese Beschlüsse wieder zurück, nachdem die EU damit gedroht hatte, wegen dieser Angelegenheit Hilfszahlungen an lokale Regierungen auszusetzen.
In Ungarn hat die Regierung mehr als ein Dutzend Gesetze zur Korruptionsbekämpfung verabschiedet und zugesagt, die EU-Forderungen zur Unabhängigkeit der Justiz bis Ende März zu erfüllen. Gleichzeitig hat Orban die Bedenken der EU in Bezug auf die Demokratie heruntergespielt, was Zweifel an seinem Engagement für grundlegende Veränderungen aufkommen lässt.