Dass regelmäßig zum Frühlingsbeginn die Behandlungsfrequenz depressiver Symptomatiken sinkt ist ein wohlbekanntes medizinisches Phänomen, welches maßgeblich auf die stimmungsaufhellenden Effekte der neuerwachenden Tier- und Pflanzenwelt zurückgeführt wird. Licht und Wärme sorgen für Optimismus und lassen die dunklen Stunden der vorigen Monate vergessen. Ganz ähnlich verhält es sich derzeit bei denjenigen, die zu Beginn des vergangenen Winters sorgenvoll, teilweise ängstlich bis panisch, auf die durchaus herausfordernde Energiesituation im Lande geblickt haben.
Nicht zu Unrecht, die Gefahr einer Mangellage mit damit einhergehenden Blackouts und Rationierungen war durchaus nicht unrealistisch (auch die DWN berichteten entsprechend), trat aber nicht ein. Dafür sorgte die Mischung aus durchaus bemerkenswerten Erdgaseinkaufsanstrengungen, Energiesparmaßnahmen, vor allem seitens der Industrie, und nicht zuletzt der Erfolg der im September von Wirtschaftsminister Robert Habeck erdachten Teilstrategie für ein schadloses Überstehen der kalten Jahreszeit: in der Tat, wir hatten „ein bisschen Glück mit dem Wetter“.
Jedoch ist der einmalige Gewinn in Habecks Blackout-Bingo (Alexander Dobrindt, CSU) leider kein Garant für eine zukünftig ebenso günstige Entwicklung. Derzeit scheinen jene noch vor kurzem sehr präsenten Sorgen beinahe vollständig verflogen, es lief ja, jetzt scheint die Sonne, und die nächste Heizperiode liegt in weiter Ferne. Dieses Gefühl ist nachvollziehbar, aber es ist eben nur ein Gefühl, sachlich betrachtet sind die Herausforderung keineswegs kleiner geworden.
Speicher füllen ohne russisches Gas
Darüber, dass Deutschland in einer eklatanten Energiekrise steckt, herrscht parteiübergreifend Einigkeit. Wie man diese lösen könnte, ist jedoch umstritten. Tatsache ist, dass es die aktuellen Machtverhältnisse erlauben, auch inmitten einer solchen Krise (und gemäß aktuellen Umfragen entgegen dem herrschenden Mehrheitswillen), funktionierende, weitestgehend CO2-freie, und vor allem grundlastfähige, Kraftwerke abzuschalten und stattdessen jene unbedingt notwendige Grundlast nun mittels fossiler Energieträger sicherzustellen. Russisches Pipelinegas erreicht Deutschland und Europa im Vergleich zu früheren Zeiten nur noch in beinahe homöopathischen Dosen. Derzeit liegt der russische Anteil der beiden einzigen noch genutzten Importpipelines Transgas und Turkstream bereits unter acht Prozent, mit weiter abnehmender Tendenz.
Vor der Krise betrug der Anteil russischen Pipelinegases in der EU fast 50 Prozent. Als Alternative ist LNG das Mittel der Wahl, bevorzugt natürlich von anderen Lieferanten. Läuft alles nach Plan, dann wird Deutschland bereits 2025 in der Lage sein, annähernd so viel LNG zu importieren, wie zu besten Nordstream-Zeiten. Die Kapazität der dann zur Verfügung stehenden Terminals sind insgesamt auf 50 Milliarden m³ pro Jahr ausgelegt. Wichtig ist hier der Begriff „Kapazitäten“. Ob diese auch vollumfänglich genutzt werden können, steht wiederum auf einem anderen Blatt. Ob diese vollumfänglich genutzt werden sollten aber auch. Würden sie es nämlich, dürfte der nächste Klimakleber nicht weit sein, angesichts des sich daraus ergebenden CO2-Ausstoßes. Die Lunte brennt also bereits jetzt wieder.
Konkurrenzkampf um Ressourcen – es geht nicht nur um Gas
Reichlich Konfliktpotenzial deutet sich auf internationaler Bühne an, denn selbstverständlich tritt Deutschland nicht als einziger Abnehmer auf den Plan. Und das nicht nur bei LNG, auch Kohle, das zweite wichtige Standbein der neuen grünen Energieversorgung, bleibt nachgefragt. Angesichts der hiesigen Diskussion um abgerissene Geisterdörfer und der zahlreichen Bilder von betroffen dreinblickenden Aktivisten vor blühende Landschaften fressenden Schaufelbaggern wird oft übersehen, dass Deutschland zwar aktuell mehr als ein Drittel seines Stroms mittels Kohle erzeugt, einen Großteil davon aber gar nicht selbst abbaut. Im vergangenen Jahr belief sich die hiesige Importmenge auf mehr als 44 Millionen Tonnen.
Bemerkenswerterweise kam der Löwenanteil davon aus Russland, der Anteil des für uns viertgrößten Exporteurs Australien (6,3 Millionen Tonnen) könnte jedoch an Bedeutung gewinnen, und vor allem China spielt dabei eine wichtige Rolle. Laut dessen jüngsten Wirtschaftsdaten ist das Land im ersten Quartal so schnell gewachsen wie seit einem Jahr nicht mehr, lässt damit die Corona-Delle hinter sich und ist damit auf dem besten Weg, sein Wachstumsziel für dieses Jahr zu erreichen, selbst ohne größere Konjunkturmaßnahmen ergreifen zu müssen. Dies wird den Energiehunger des Landes wieder anheizen und sowohl den LNG-, wie auch Kohlebedarf erheblich steigern. Australien nimmt für China mittlerweile die Rolle eines Swing-Produzenten ein und gleicht dortige Fehlmengen aus.
Da kommt der Rest der Welt dann nicht mehr ran. Und Chinas LNG-Durst ist bereits legendär. Wieviel davon nach Robert Habecks noch gut in Erinnerung befindlichen Gasverhandlungen mit Qatar seinen Weg nach Deutschland finden wird und nicht direkt nach China schippert, wird sich zeigen. Darüber hinaus unterstützt Chinas beeindruckend starke Wiederbelebung die Weltwirtschaft insgesamt im Kampf gegen den Abschwung. Was die Konkurrenz um Energieträger nicht geringer werden lässt. Dies vor dem Hintergrund neuer Warnungen der Internationalen Energieagentur (IEA), nach denen Europa in diesem Jahr immer noch mit Versorgungsengpässen zu rechnen hat, wenn es seinen Verbrauch nicht weiter einschränkt.
Paradoxe Situation
Bislang steht die nötige alternative Infrastruktur nicht zur Verfügung, um die in Deutschland Mitte April vom Netz gegangenen letzten drei Kernkraftwerke zu ersetzen. Benötigt werden also schmutzige Gas- und Kohlekraftwerke hierzulande, und Stromimporte aus dem Ausland. Man rufe sich kurz noch einmal den vergangenen Sommer in Erinnerung, der durch eine extreme Trockenheit in Mitteleuropa gekennzeichnet war. Im Zuge dessen sank der Pegel des Rheins so weit, dass zwei große deutsche Kohlekraftwerke nicht mehr wie üblich per Schiff mit beliefert werden konnten.
Die Bedeutung dieser Kraftwerkstypen steigt mit dem nun vollzogenen kompletten Atomausstieg jedoch an, sie sind unverzichtbar. Bedenkt man, dass die Kompensierung jener letzten drei deutschen Atomkraftwerke einer aktuellen Studie der Universität Stuttgart zufolge zu einer Mehrbelastung des Weltklimas um 15 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr führen wird, liegt die Annahme nahe, dass derartige Wetterereignisse allein deshalb zunehmen werden - dies ist eine der Grundthesen, den Klimawandel betreffend. Die Folgen für die Energiesicherheit wären entsprechend.
Auch die in Frankreich betriebenen Atommeiler, die deutsche Stromdefizite regelmäßig ausgleichen, geraten dadurch in Schwierigkeiten, schließlich nutzen Sie Flusswasser zur Kühlung. Elektrizitätsengpässe im Sommer könnten sich auch deshalb auf die Wintermonate auswirken, weil für die Erzeugung des als Lösung aller Probleme angepriesenen Wasserstoffs als Speichermedium Strom benötigt wird. In sehr heißen Sommern erhöht sich die Nachfrage nach Kohle und Gas jedoch zuerst hinsichtlich des Kühlbedarfs.
Krieg in der Ukraine bleibt Risikofaktor – auch in Sachen Energie
Auch wenn, wie eingangs erwähnt, der Anteil russischer Gaslieferungen gen Westen per Pipeline zusammengebrochen ist und die meisten Länder Alternativen gefunden haben - der Verlust der Lieferungen, die durch die durch die Ukraine führende Transgas-Pipeline erfolgen, bleibt eine Gefahr. Mit Fortgang des Krieges steigt zudem das Risiko, eines kompletten Einfuhrstopps von russischem Erdgas in die EU, auch in Form von LNG per Schiff.
Im vergangenen Jahr entfielen gut 14 Prozent der gesamten europäischen LNG-Einfuhren auf Russland. Wenn die EU diese Lieferungen per weiterem Sanktionspaket verbieten würde, wäre der Verlust erheblich und es wäre äußerst schwierig, ihn zu ersetzen. Einige Staaten eilen bereits voraus, Großbritannien und Lettland haben ein solches Importverbot bereits implementiert. Und selbstverständlich steigt der moralische Druck, es ihnen gleich zu tun weiter. Auch Sabotageakte an essenzieller Energieinfrastruktur liegen im Rahmen des Möglichen.
Von der gewohnten Sicherheit noch weit entfernt
Von der guten alten Zeit, in der Energie ständig und günstig zur Verfügung stand, sind wir hierzulande weiterhin meilenweit entfernt. Sogar an sich positive Entwicklungen, wie eine sehr wünschenswerte Erholung der Weltwirtschaft, birgt aus Sicht der Energiesicherheit große Risiken. Vor allem der Wettbewerb mit China aber auch ein plötzliches Anziehen der heimischen Konjunktur würde den Erdgas-, aber auch Kohlemarkt, unter Druck setzen. Die Möglichkeit einer völligen Abschottung von Moskau, das Risiko von Sabotage an der Infrastruktur und nicht zuletzt hausgemachte Probleme, wie die Abschaltung solider Kraftwerke in einer laufenden Energiekrise, machen die Aussichten nicht besser.
Die Entwicklung der Preise, sowohl für Industrie als auch Privathaushalte, ist abzusehen. Das der Energieversorger EON pünktlich zum AKW-Abschalttermin Mitte April seine nächste Preisanpassung angekündigt hat – immerhin um satte 45 Prozent im heimatlichen NRW – gibt einen ersten Vorgeschmack. Die jüngste grüne Aussage „der Strompreis wird natürlich günstiger“ (ohne Atomkraft war gemeint) dürfte schneller schmelzen als die Kugel Eis, deren Preis Jürgen Trittin einst als monatliche Maximalbelastung für die Energiewende angab. Immerhin, aktuell liegen die deutschen Erdgasspeicherfüllstände mit noch fast 65 Prozent komfortabel über der angestrebten Mindestmenge von 40 Prozent per 01. Februar. Unter normalen Umständen sollten die bis Ende Oktober von der EU angestrebten 90 Prozent zu erreichen sein. Unter der Oberfläche schwelt jedoch eine Reihe von Bränden.