Die Einspeichersaison des vergangenen Jahres verlief am europäischen Erdgasmarkt mit ihren zu verkraftenden Preisspitzen geradezu geschichtsträchtig, und die Schocks, die aus dieser Entwicklung resultierten, bestehen fort, sowohl in der Industrie als auch bei privaten Endverbrauchern.
Die Ursache dessen ist in den vergangenen Monaten erschöpfend zu ergründen versucht worden, wenn auch noch immer nicht vollumfänglich Einigkeit darüber herrscht - die Sicht auf die Dinge hängt, zumindest hierzulande, ein wenig vom Parteibuch ab. Um die Energiesicherheit zukünftig ohne die erlebten Extremszenarien gewährleisten zu können, rüsten die Staaten der europäischen Union ihre Stromerzeugungsmöglichkeiten auf. Unabhängig voneinander, in unterschiedlicher Weise und selbstverständlich nicht ohne einen gewissen eigentümlichen deutschen Sonderweg.
Gaseinkauf wird europaweit gebündelt
Mit der im April 2022 ins Leben gerufenen EU Energy Platform wurde zumindest in Bezug auf Erdgas (und LNG) eine Möglichkeit geschaffen, über sämtliche EU-Länder koordiniert, die Nachfrage nach diesem Energieträger zu bündeln und einen gemeinsamen Einkauf zu organisieren. Dies soll vor allem verhindern, dass sich die EU-Länder bei ihren Einkaufsbemühungen gegenseitig überbieten und sicherstellen, dass die Speicher zukünftig ohne extreme Preisspitzen befüllt werden können.
Außerdem erhält die EU, als einer der größten Gasverbraucher der Welt, so ein höheres Gewicht und kann möglicherweise insgesamt bessere Konditionen aushandeln. Damit spielt die Plattform eine Schlüsselrolle bei der Aggregation der Nachfrage, der Koordinierung der Infrastrukturnutzung, den Verhandlungen mit internationalen Partnern und der Vorbereitung des gemeinsamen Gaseinkaufs. Dabei haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, sich an der Bündelung der Nachfrage für mindestens 15 Prozent ihrer nationalen Gasspeicherziele zu beteiligen, das entspricht etwa 13,5 Milliarden Kubikmetern Gas pro Jahr.
Nagelprobe hat begonnen
Ob die Erdgashändler in der Lage sein werden, tatsächlich zum Wohle der Allgemeinheit zusammenzuarbeiten, wird sich schon bald zeigen, denn die Europäische Union befindet sich mitten in ihrem allerersten gemeinsamen Gaseinkauf. Das erste Fenster, in denen Kaufangebote auf der Plattform abgegeben werden konnten, wurde Anfang Mai geschlossen. Nun werden diese mit denen der Käufer abgeglichen. Ob sich daraus tatsächlich neue Gasverträge ergeben werden, wird sich noch in diesem Monat herausstellen.
Bislang haben sich 65 Unternehmen für den Kauf von Erdgas auf der neuen europäischen Plattform angemeldet, ihnen gegenüber auf der Verkäuferseite stehen laut EU-Angaben mehr als 50 Unternehmen aus der ganzen Welt. Neben den erwartbaren Energieunternehmen sind als Käufer auch zahlreiche Erdgasgroßverbraucher aus der Stahl-, Aluminium-, Keramik-, Glas- und Automobilproduktion registriert. Jedoch ist noch unklar, ob auch die größten Importeure der Region, wie die deutsche Uniper oder Frankreichs Engie, den Mechanismus nutzen werden, und in welcher Größenordnung die Beschaffungsmenge in diesem Fall liegen wird.
Die EU selbst geht nach Aussage des Vizepräsidentin der Europäischen Kommission für interinstitutionelle Beziehungen, Maros Sefcovic, von einem großen Erfolg der Käufergemeinschaft aus. Ihm zufolge rechnet die EU damit, dass die ersten Verträge mit Lieferanten aus den USA, dem Nahen Osten und Afrika bereits im Juni unterzeichnet werden. Im Anschluss an diese erste Ausschreibung wird die EU regelmäßig weitere gemeinsame Einkäufe organisieren, um die europäische Gasversorgung auch langfristig sicherzustellen.
Theoretisch gut, praktisch schwierig
Auf dem Papier erscheint das Ansinnen einer solchen gemeinsamen Beschaffungsmethodik sehr sinnvoll. Durch die Zusammenarbeit können die Unternehmen ihre Kaufkraft stärken und den Wettbewerb, der sich schnell zu Bieterkriegen ausweiten kann, verringern. In der Realität stellt dies jedoch eine weitaus größere Herausforderung dar. Die Handelsabteilungen der Gaseinkäufer sind nicht weniger profit- und bonusorientiert als die der großen Investmentbanken. Die Unterstützung der Konkurrenz zählte zumindest bislang nicht zum Geschäftsmodell.
Es dürfte eines starken finanziellen Anreizes bedürfen oder sogar ein staatliches Eingreifen nötig machen, sonst wird sich der gemeinsame Einkauf nur schwer durchsetzen lassen. In Asien gibt es eine ähnliche Vereinbarung bereits seit 2017. Damals haben sich Käufer in Japan, Südkorea und China auf ein gemeinsames Vorgehen beim Kauf von Flüssiggas verständigt. Passiert ist jedoch bis heute nichts. In der Industrie herrscht jedenfalls auch bezüglich des EU-Plans Skepsis, auch, da der gemeinsame Einkauf im Grunde die Beteiligung aller erfordert, wenn er funktionieren soll. Wenn die größten Verbraucher gar nicht mitmachen sollten, werden sich die Lieferanten einfach weiterhin an den Meistbietenden wenden.
Nur ein Schönwetter-Kartell?
Zwar sind die Gaspreise vor kurzem auf den niedrigsten Stand seit über zwei Jahren gefallen, aber es ist ganz und gar nicht ausgeschlossen, dass die Krise auf dem europäischen Erdgasmarkt im nächsten Winter zurückkehren wird und sich die Preise abermals deutlich nach oben schrauben könnten. Die Internationale Energieagentur (IEA) warnte erst kürzlich, dass die weltweite Nachfrage, insbesondere aus China, wieder deutlich anziehen könnte. Dann würde in Europa, trotz des gut gemeinten Kooperationsplans, auch wieder um knappe Lieferungen konkurriert werden.
Zwar sind die europäischen Gasspeicher - vor allem dank des milden Winters - noch zu über 62 Prozent gefüllt, aber der Schwerpunkt liegt bereits auf dem Auffüllen der Reserven vor der nächsten Heizperiode. Den Fehler, sich hinsichtlich gut gefüllter Speicher oder etablierter Lieferketten in Sicherheit zu wiegen, dürfte angesichts der jüngsten Erfahrungen niemand wiederholen wollen. Sich blauäugig auf den guten Willen des Nachbarn zu verlassen könnte sich als ebenso fatal herausstellen. In Krisenzeiten wird der Ruf nach der vielbeschworenen Solidarität vermutlich verhallen und auch unter Partnern die Ellenbogen ausgestellt werden.