Ungarn gilt zuweilen als schwarzes Schaf der EU. Konnte sich das Land noch bis zum Ausbruch des Ukrainekriegs auf die Loyalität der anderen Višegrad-Staaten verlassen, so führte die Beziehung des Landes zum Kreml auch bei Polen und Tschechen zu Irritationen. Aber auch in Budapest gibt sich die Regierung enttäuscht über den westlichen Kurs, bezeichnet die USA als Feinde Ungarns und kritisiert insbesondere Brüssel und Berlin in politischer und ideologischer Hinsicht. Ungetrübt jedoch ist die enge wirtschaftliche Kooperation westlicher Staaten mit dem mitteleuropäischen Land. Der Mittelstand findet hier ein unternehmerfreundliches Umfeld, das Vorteile bietet, die im Westen Europas fehlen.
Deutsche Wertarbeit made in Hungary
Vornehmlich die Autoindustrie wittert in Ungarn einen optimalen Standort. Schlagzeilen machen in erster Linie große Firmen, so wird BMW eine iFactory in Ostungarn bauen und der Batteriehersteller CATL möchte gar eine Gigafabrik in dem mitteleuropäischen Land errichten. Sie folgen damit einem Trend großer Unternehmen wie Audi, dem größten ausländischen Investor in Ungarn, aber auch Suzuki, SK, Samsung und VW, die im ganzen Land agieren und jährlich hunderttausende Autos, Batterien und Motoren bauen lassen. So konnte in dem mitteleuropäischen Land die Zahl der produzierten Neuwagen zwischen 2010 und 2021 auf jährlich über 400.000 Modelle verdoppelt werden.
Nährboden für deutsche Geschäftsmodelle
Ungarn aber nur als beliebten Standort für Großunternehmen aus der Automobilbranche zu bezeichnen, greift zu kurz. Längst hat sich auch eine Reihe von mittelständischen Unternehmen angesiedelt, die von den gleichen Vorteilen profitieren wie große Firmen. Ungarn symbolisiert nämlich das, was sich viele deutsche Unternehmer von ihrem Heimatland erhoffen dürften: einen unternehmerfreundlichen Nährboden für Wettbewerb und unterschiedlichste Geschäftsmodelle.
Ungarns sozialpolitische, wirtschaftliche und geopolitische Kehrtwende geht auf das Jahr 2010 zurück. Die zweite Regierung Viktor Orbáns brach radikal mit den sozialistischen Versuchungen der ehemaligen Regierungspartei MSZP und begann fortan damit, ausländische Unternehmen in das Land zu locken. Zwar sind die Sparmaßnahmen im öffentlichen Sektor teilweise erdrückend und die Mehrwertsteuer von 27 Prozent für viele Ungarn eine Zumutung. Doch von der Ansiedlung ausländischer Firmen erhofft sich die konservative FIDESZ-Partei erst wirtschaftlichen und schließlich einen sozialen Aufschwung, ein Konzept, das sich in den letzten Jahren durch kontinuierliches Wachstum bewähren konnte.
Heute könnte man das Land als den Traum neoliberaler Unternehmer bezeichnen. Hier in Ungarn profitieren Firmen von niedrigen Energiepreisen, einer geringen Körperschaftssteuer von lediglich neun Prozent, niedrigeren Personalkosten als etwa im benachbarten Tschechien, gut ausgebildeten Fachkräften und einer starken Infrastruktur. Auch wenn die Produktivität der ungarischen Mitarbeiter nicht so hoch ist wie in Deutschland oder Tschechien, führen eine unkomplizierte und schlanke Bürokratie, kurze Entscheidungswege der Politik und günstige Standortkosten dazu, dass sich eine Gründung hier auszahlt.
Firmengründung in Ostungarn: eine gute Idee?
In und um Debrecen im Osten des Landes lassen sich infolgedessen etliche internationale Firmen nieder. Zu ihnen gehören Schaeffler, Teva, Krones, Bürkle, ThyssenKrupp, Neopac, demnächst auch Sensirion und Semcorp. Diese starke Ansiedlung wird unter anderem als „Party in der Puszta“ bezeichnet. Dabei war Debrecen einst Symbol des Niedergangs der ungarischen Textilindustrie, eine Region, die für Abschwung, Verkleinerung und traditionelle Landwirtschaft stand, während die Gebiete um Budapest und Györ seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ausländische Unternehmen wie Suzuki für sich gewinnen und wachsen konnten.
Indessen stärken Investoren aber auch den Osten des Landes, der die Unternehmer großzügig aufnimmt. Bürgermeister László Papp sicherte den Unternehmen in seiner Region bereits zu, das Schulwesen an die neuen Berufsmöglichkeiten anzupassen. So sollen alle Schüler, deren Zahl übrigens in den letzten sieben Jahren um mehr als 50 Prozent zugenommen hat, schon in unteren Klassen für die jeweiligen Unternehmen begeistert und auf die neuen Arbeitsmöglichkeiten vorbereitet werden. Und wo trotzdem ein Fachkräftemangel auftritt, versucht die Regierung, gezielt Fachkräfte etwa aus Zentralasien anzuwerben, die die neu geschaffenen Stellen besetzen können.
Im Einflussbereich fremder Mächte
Doch die außerordentliche Unternehmerfreundlichkeit Ungarns weckt auch Argwohn bei den deutschen Partnern. Die Abwanderung des deutschen Mittelstands mag nachvollziehbar sein, doch könnte sie Deutschlands inländische Wirtschaft empfindlich treffen. So konstatierte der CDU-Politiker Klaus Willisch, die hohen Energiekosten und der Bürokratieaufwand nähmen den deutschen Unternehmen die Luft zum Atmen. Beides müsse sich ändern, wenn Deutschland seinen Mittelstand nicht verlieren wolle.
Ohnehin bleibt es fraglich, ob Ungarn seine enormen Standortvorteile für ausländische Firmen aufrechterhalten kann, denn diese hängen in erster Linie von größeren Gravitationszentren ab als Budapest. Der Ausbau der Infrastruktur wird auch mit Fördermitteln der EU bezahlt, die ob des belasteten Verhältnisses zwischen Brüssel und Budapest eingefroren werden könnten. Der Vorteil der niedrigen Körperschaftssteuer könnte für multinationale Großunternehmen konterkariert werden, sobald der weltweite Körperschaftsteuer-Mindestsatz umgesetzt wird. Die günstige Energie des Landes wird zu einem Viertel mit russischem Erdgas gedeckt, ein Umstand, der die kontroverse Beziehung Budapests von Moskau darlegt. Auch der Fachkräftemangel des Landes dürfte sich zu einem Problem entwickelt, sofern die Anwerbeoffensive in Ländern wie Kasachstan und der Mongolei nicht schnell Früchte trägt.
Zudem stehen dem Land große Veränderungen bevor, denn eine engere Bindung an China könnte die erhofften Kapitalströme erzeugen und zu mehr Entwicklung und Wohlstand in ganz Ungarn führen, allerdings auch mehr Abhängigkeit zu Peking erzeugen, die den Westen erzürnen dürfte. Die „Öffnung nach Osten“ wird als Projekt zwar angenommen, doch bei der Planung zum Bau einer chinesischen Fudan-Universität in Budapest wurden die Proteste auf einmal ungewohnt laut. Das Unbehagen, China könne über die Universität einen zu großen Einfluss auf die ungarischen Unternehmen und schließlich die Politik nehmen, war plötzlich zu groß. Doch der chinesische Einfluss wird wachsen, betonte kürzlich Handels- und Außenminister Péter Szijjartó, und verwies auf laufende Investitionsprojekte der Chinesen in Ungarn im Wert von bis zu zehn Milliarden Euro.
Ungarn ist derzeit ein wichtiger Standort für die Autoindustrie, der sich aber auch für den deutschen Mittelstand zu einer verlängerten Werkbank mit unterschiedlichsten Vorzügen entwickelt hat. Von niedrigen Steuersätzen über eine schlanke Bürokratie bis hin zu günstiger Energie finden Unternehmen hier alles, was derzeit in der Bundesrepublik negiert, aufgelöst und auf ideologischer Basis verunglimpft wird. Ob diese Standortvorteile aber bestehen bleiben, entscheidet sich nicht unbedingt in Budapest, sondern in Brüssel, Berlin, Moskau und zunehmend auch Peking.