Politik

Was der Brexit verhindern sollte: Zuwanderung erreicht neues Rekordhoch

Lesezeit: 3 min
27.05.2023 11:59  Aktualisiert: 27.05.2023 11:59
Die Brexit-Bewegung ist mit ihrem zentralen Anliegen gründlich gescheitert. Großbritannien verzeichnet heute mehr legale und illegale Zuwanderung als jemals zuvor.
Was der Brexit verhindern sollte: Zuwanderung erreicht neues Rekordhoch
Premierminister Rishi Sunak hat wiederholt versprochen, die Zuwanderung zu reduzieren. (Foto: dpa)
Foto: Pool

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Ein entscheidender Grund dafür, dass die Bürger von Großbritannien im Jahr 2016 mehrheitlich für den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union stimmten, war die Erwartung, auf diese Weise die Immigration zu verringern. Doch stattdessen hat die legale und illegale Zuwanderung nun ein neues Rekordhoch erreicht. Denn die extrem hohe Zahl von Migranten aus nichteuropäischen Ländern hat den starken Rückgang der Zuwanderung aus den EU-Staaten mehr als wettgemacht.

Die regierende Konservative Partei hatte nach dem Brexit-Votum wiederholt versprochen, die Zahl der Zuwanderer zu reduzieren. Tatsächlich umgesetzt hat sie das Votum der Briten oder gar die eigenen Versprechen jedoch nicht. Stattdessen hat sie immer mehr legale Immigranten von außerhalb der EU ins Land gelassen und zugleich eine illegale Zuwanderung im großen Stil zugelassen.

Die am Donnerstag vom Office for National Statistics veröffentlichten Daten zeigen, dass die Zahl der Einwanderer im letzten Jahr auf 1,2 Millionen angestiegen ist, was einem Anstieg von 221.000 gegenüber dem Vorjahr entspricht. Bei einer Abwanderung von 557.000 bedeutet dies, dass die britische Bevölkerung 2022 durch Zuwanderung um netto 606.000 Zuwanderer anstieg. Dies war der größte Wert seit Beginn der Aufzeichnungen.

Der Grund für diese relativ hohen Zahlen ist die Zuwanderung aus Nicht-EU-Ländern. Im Gegensatz dazu verlassen mehr EU-Bürger das Vereinigte Königreich als umgedreht aus der EU ins Vereinigte Königreich zuwandern. Hinzu kommen zahlreiche illegale Zuwanderer, von denen die meisten mit Booten über den Ärmelkanal gekommen sind. Auch ihre Zahl ist im vergangenen Jahr um 60 Prozent auf einen Rekordwert von etwa 45.000 gestiegen.

Gerechtfertigt wird die Missachtung des Wählerwillens mit dem Arbeitskräftemangel. In Großbritannien ist die Erwerbsbevölkerung heute kleiner als vor der Corona-Pandemie, und einige Industriezweige beklagten sich in den Jahren nach dem Brexit, dass sie nun nicht mehr genügend Arbeitskräfte finden können, es fehlten demnach vor allem Erntehelfer aus Osteuropa.

Die am Donnerstag veröffentlichten Zahlen veranlassten einige Abgeordnete der Konservativen Partei zu kritischen Kommentaren, da sie wissen, dass ihre Wähler diesen Zustrom eigentlich eindämmen wollten. Die Regierung des konservativen Premiers Rishi Sunak, dessen Eltern ursprünglich aus Indien stammen, kündigte umgehend neue Beschränkungen für die Zahl der Familienmitglieder an, die Studenten mit einem Visum ins Land holen können.

Woher kommt die Zuwanderung nach Großbritannien?

Der entscheidende Grund für den Anstieg der legalen Zuwanderung nach Großbritannien im letzten Jahr waren die humanitären Visa an etwa 300.000 Menschen aus der Ukraine und aus der ehemaligen britischen Kolonie Hongkong. Aber auch die Visa für Personen aus Nicht-EU-Ländern trugen zu dem Anstieg bei. Zudem wurden etwa 136.000 Visa für Familienangehörige von Studenten erteilt, das waren achtmal so viele wie noch im Jahr 2019.

Möglicherweise werden viele der Studenten, die in den letzten Jahren nach Großbritannien gekommen sind, das Land wieder verlassen, und die Zuwanderung aus der Ukraine und Hongkong wird in den kommenden Jahren wahrscheinlich zurückgehen. Daher könnte die Zuwanderung in den kommenden Jahren wieder auf den längerfristigen Durchschnitt von etwa 200.000 bis 250.000 pro Jahr absinken.

In der Praxis kam es in der Folge des britischen Austritts aus der Europäischen Union im Jahr 2020 vor allem dazu, dass sich die Zuwanderung aus Nicht-EU-Ländern wie Indien beträchtlich erhöhte, weil Arbeitskräfte aus den EU-Staaten nun keinen bevorzugten Zugang mehr zum attraktiven Arbeitsmarkt im Vereinigten Königreich erhielten.

Nach dem Brexit führte die Regierung 2021 ein neues Einwanderungssystem ein, das nur noch Personen zuließ, die bestimmte Kriterien erfüllten, darunter ein Jahresgehalt von 26.200 Pfund (umgerechnet etwa 30.000 Euro) oder ein bestimmtes Qualifikationsniveau. So sollte eigentlich ein Ansturm von gering Qualifizierten vermieden werden, und die Unternehmen sollten veranlasst werden, mehr in ihre Belegschaft zu investieren und die Löhne zu erhöhen.

Warum London die Zuwanderung steigen lässt

Das neue System wurde aber gerade zu dem Zeitpunkt eingeführt, als sich ein Arbeitskräftemangel abzuzeichnen begann. Großbritannien ist die einzige große Volkswirtschaft des Westens, deren Erwerbsbevölkerung immer noch kleiner ist als vor Corona. Zurückzuführen ist dies auf eine Kombination aus Langzeiterkrankungen, die geringere Einwanderung von Arbeitskräften aus Europa und die verstärkte Frühverrentung.

Nach Angaben der Bank of England aus dem letzten Jahr hat der wachsende Mangel an Arbeitskräften die Inflation in Großbritannien angeheizt, weil die Unternehmen sich dazu gezwungen sahen, die Löhne zu erhöhen, um Arbeitskräfte zu halten und zu gewinnen, während andere Unternehmen im Wachstum behindert werden, weil sie nicht genügend Arbeitskräfte finden können.

Während die britische Regierung die legale Zuwanderung rechtfertigt, hat sie der illegalen Zuwanderung den Kampf angesagt, vor allem den Überfahrten mit kleinen Booten aus Frankreich. Sunak hat wiederholt versprochen, dagegen vorzugehen, und ein Abkommen mit Frankreich unterzeichnet, um Schleuserringe zu zerschlagen. Die Regierung droht auch damit, illegale Migranten in das afrikanische Land Ruanda abzuschieben, was aber die Gerichte bisher blockieren.


Mehr zum Thema:  

DWN
Politik
Politik Flüchtlingswellen und Wirtschaftskrisen: Was ein Zerfall der Levante für Deutschland bedeuten würde
24.11.2024

Die Levante könnte sich zur Achillesferse Europas entwickeln, wenn sich der schwelende Konflikt zwischen Israel und Iran zu einem...

DWN
Panorama
Panorama Alarmierende Umfrage: Kriege und Klimakrise belasten Schüler in Deutschland
24.11.2024

Eine neue Umfrage zeigt: Viele Schülerinnen und Schüler in Deutschland sind von Sorgen geplagt. Kriege, Klimakrise und Leistungsdruck...

DWN
Politik
Politik Nato-Generalsekretär trifft sich in Florida mit Trump
24.11.2024

Die zweite Amtszeit von Donald Trump wird in der Nato von vielen Alliierten mit Sorge gesehen. Schon vor dem Machtwechsel reist der...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Leerstand in Innenstädten: Decathlon setzt auf Expansion gegen die Krise
24.11.2024

Leerstand prägt deutsche Innenstädte. Doch Decathlon sieht Chancen: Bis 2027 sollen mehr als 60 neue Filialen entstehen – viele davon...

DWN
Finanzen
Finanzen DWN-Sonntagskolumne: The Rational Investor - warum Emotionen bei der Geldanlage schaden
24.11.2024

Als ich gehört habe, dass in einer Umfrage des ZDF vor der US-Präsidentschaftswahl am 5. November 2024 über 70 Prozent der Deutschen...

DWN
Politik
Politik Christian Lindners Vorwurf lautet: SPD strebt "Zerstörung" der Liberalen an
24.11.2024

Seit dem Bruch der Ampel-Koalition herrscht ein scharfer Ton zwischen SPD und FDP. Nun legt der entlassene Finanzminister nach. Die SPD...

DWN
Unternehmen
Unternehmen VW hält an Werksschließungen fest - Sparansage auch bei Bosch
24.11.2024

Im Streit um Einsparungen bei VW bleibt das Unternehmen hart: Die Kapazitäten sollen schnell runter. Die IG Metall reagiert in der...

DWN
Panorama
Panorama Sammelkarten als Wertanlage: Das Geschäft mit begehrten Karten
24.11.2024

Sammelkarten sind weit mehr als nur ein Zeitvertreib. Besonders seltene Karten erzielen zum Teil Rekordpreise. Was steckt hinter diesem...