Alle Völker haben ihre Eigenheiten und Codes, die für ihre Nachbarn unverständlich sein mögen. So auch die Ungarn. Wenn etwas ganz schlimm wird, behelfen sie sich nicht mit durchwachsenen Durchhaltesprüchen wie „Schwamm drüber“ oder „Hang in there“. In Ungarn sagt man sinngemäß: „Mehr ging bei Mohács verloren“. Am 29. August jährt sich zum 497. Mal die Schlacht bei Mohács, einer ungarischen Stadt rechtsseitig der Donau und für Europa heute nahezu unbedeutend. Doch hier versank vor knapp 500 Jahren ein mächtiges Reich, das sich über drei Weltmeere erstreckte. Ein ähnlich großer Einflussbereich soll heute unter ungarisch-polnisch-litauischer Regie neu entstehen und könnte einen Machtblock innerhalb der EU darstellen - so der Wunsch. Nur wie präsent ist dieser „neue eiserne Vorhang“?
Europas neuer eiserner Vorhang
Ein bisschen verärgert und auch etwas wehleidig berichten deutsche Medien über den Brexit und dessen katastrophale Auswirkung auf Großbritannien. Doch selten werden die wirtschaftlichen und kulturellen Konsequenzen dieses Austritts auf die EU diskutiert. Der Brexit gilt derzeit als endgültig, Nachrichten über reumütige Brexitbefürworter helfen also wenig weiter. Sie reißen trotzdem nicht ab, und es scheint, als seien die westlichen EU-Staaten nicht nur verärgert, sondern auch besorgt über die neue Lage in ihrer Union.
So schreibt Jonathan Saxty vom britischen „Express“, die „EU steht vor den größten Herausforderungen seit dem Brexit“, denn Polen und Ungarn würden einen kulturellen eisernen Vorhang zum Westen ziehen. So entstünden ein konservativ-nationalistischer Osten und ein liberal-säkularer Westen. Saxty begründet diese Einschätzung mit Warschaus und Budapests Blockade des Migrationspakts, der eigentlich eine Verschärfung des Asylrechts vorsieht, den Repräsentanten der beiden Länder aber nichtsdestotrotz als Programm zu Überfremdung und Gettoisierung erscheint.
Die polnische PiS und die ungarische FIDESZ sind derweil durch den Austritt Großbritanniens erstarkt. War das europäische Bündnis bis 2016 faktisch noch von prosperierenden und großen Weststaaten geleitet worden, fehlt heute Britannien, und Berlin, Paris und Rom versuchen als Hegemonen über einen Flickenteppich unterschiedlichster europäischer Länder zu walten. Dabei stoßen insbesondere Pläne wie das Renaturierungsprogramm oder Asylkompromisse im ärmeren und ethnisch eher homogenen Osten auf Ablehnung.
Die Schlacht von Mohács und Habsburgs Kalkül
Die Schlacht von Mohács endete mit dem Sieg des Osmanischen Reichs über ein osteuropäisches Bündnis unter dem König Ludwig II. Ludwig war als Herrscher von Böhmen, Ungarn und Kroatien sowie als Vertreter des polnisch-litauischen Adelsgeschlecht der Jagellonen für ein bedeutendes Reich zuständig, das allerdings einen Makel besaß: Es lag zwischen Wien und Istanbul. Sowohl Süleyman I. als auch die Habsburgermonarchen sahen in dem von Bauernkriegen zerrütteten Machtblock ein leichtes Ziel, das es nur zu beseitigen galt. Obwohl der Kirchenstaat und das Heilige Römische Reich Truppen zur Verstärkung Ludwigs II. entsandten, war schnell ersichtlich, dass ein osmanischer Sieg vom Westen nicht nur in Kauf genommen, sondern auch favorisiert wurde.
Ludwig II. fiel, erst 20 Jahre alt, bei der vernichtenden Niederlage gegen die Osmanen. Zügig wurde das ungarische Gebiet unter Österreichern, Osmanen und einigen loyalen Ungarn aufgeteilt. Das Herrschaftsgebiet der Jagellonen schrumpfte auf einen Bruchteil dessen, was es im Jahr 1490 ausgemacht hatte. In den folgenden zwei Jahrhunderten sollten die Türkenkriege Mitteleuropa erschüttern. Erst als Wien zweimal kurz vor der Eroberung stand, fand sich das christliche Europa zum Gegenschlag zusammen und vertrieb das Osmanische Reich aus dem heutigen Österreich und Ungarn. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet polnische Flügelhusaren die österreichische Gegenoffensive verstärkten.
Polens Międzymorze: Die Drei-Meere-Initiative
Heute formiert sich ein ähnlich dynamischer Block unter der Führung Warschaus und Ungarns. Bereits 2016 riefen Polen und Kroatien die Drei-Meere-Initiative ins Leben, die osteuropäische Staaten wie Ungarn und Litauen mit einschließen sollte. Eine vergrößerte Visegrád-Gruppe war das Ziel, welche drei Meere miteinander vereinen würde. Von der Ostsee bis zur Ägäis sollte die Via Carpathia, eine Fernstraße, gebaut werden, Flüssiggas-Terminals, Pipelines und eine hochmoderne Infrastruktur sollten dem Komplex eine stabile Grundlage geben. 2017 fand der zweite Kongress dieser Initiative statt, der von Donald Trump begleitet wurde.
Tatsächlich sind die Pläne auch nach Corona, der Wahl Bidens zum US-Präsidenten und von der Leyens zur EU-Kommissionspräsidentin noch nicht vom Tisch, so könnte die Via Carpathia bis zum Jahr 2025 fertiggestellt werden. Doch es liegt auf der Hand, dass Moskau, Brüssel und Istanbul heute wie damals kein Interesse an einem selbstbewussten und eigensinnigen Machtblock inmitten der EU haben. Es überrascht daher kaum, dass immer neue Kürzungen der Finanzhilfen für Ungarn diskutiert werden und dass polnische Parlamentswahlen unter der Aufsicht des Europäischen Parlaments stattfinden sollen, ein Affront für die Polen, die in der Aufsicht eine Erpressung sehen.
Der kulturelle Vorhang als Ausweg
Das nationalkonservative Ungarn und das streng katholische Polen werden daher wohl weiter auf einen kulturellen Dualismus innerhalb der EU setzen, der ihnen durchaus viele Sympathiepunkte vonseiten westlicher Konservativer bringt. Das Baltikum, Tschechien, sogar Österreich machen Zugeständnisse an Ungarn und Polen, sodass statt Machtpolitik eine Charmeoffensive zum Erfolg des neuen Machtblocks führen könnte. Doch ein unabhängiges Ost-Mitteleuropa wird wohl bis auf Weiteres ein unerfüllbarer Traum bleiben.
Die Schlacht bei Mohács wiederholte sich im Jahr 1687. Diesmal gewannen christliche Truppen den Kampf und vertrieben das Osmanische Reich aus Mitteleuropa. Doch nicht allein ungarische oder polnische Heerführer errangen den Sieg, sondern in erster Linie die Habsburger.