Wirtschaft

Eine „Handelspolitik für die Mittelschicht“ wird den US-Fertigungssektor nicht retten

Der Sicherheitsberater des US-Präsidenten, Jake Sullivan, hat in einer Grundsatzrede eine neue Strategie skizziert, wie Amerika seine industrielle Basis stärken will. Doch es gibt begründete Zweifel, dass das funktionieren kann.
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avtor
01.08.2023 13:11
Aktualisiert: 01.08.2023 13:11
Lesezeit: 4 min
Eine „Handelspolitik für die Mittelschicht“ wird den US-Fertigungssektor nicht retten
Neue Strategie für Amerikas Industrie: Sicherheitsberater Jake Sullivan. (Foto: dpa) Foto: Michael Brochstein

Die US-Handelspolitik steht an der Schwelle zu einer wichtigen Veränderung. In einer jüngsten Rede bei der Brookings Institution hat Jake Sullivan, Präsident Joe Bidens Nationaler Sicherheitsberater, die Strategie der Regierung zum „Aufbau einer faireren, stabileren Weltwirtschaftsordnung“ skizziert. Im Kern dieses neuen Ansatzes steht der Glauben, dass, auch wenn die Welt in den letzten Jahrzehnten vom Freihandel profitiert hat, die amerikanischen Arbeitnehmer dabei zu kurz gekommen sind. Sullivans erster Beleg hierfür ist, dass „Amerikas industrielle Basis ausgehöhlt wurde“. Während die meisten Analysten sich auf den schrumpfenden Anteil des Fertigungssektors am BIP konzentrieren – der 2021 11 % betrug, gegenüber 28,1 % im Jahr 1953 –, spiegelt sich der Niedergang des Fertigungssektors auch in der Zusammensetzung des US-Handels wider. Um die Jahrhundertwende entfielen auf Industrieprodukte mehr als 80 % der US-Warenexporte. 2022 war dieser Anteil auf unter 60 % gesunken.

Die „holländische Krankheit“

Es ist unwahrscheinlich, dass Globalisierung und Freihandel die primären Katalysatoren dieser Deindustrialisierung des US-Handels waren. Schließlich liegt der Anteil der produzierenden Industrie an den Exporten in der Europäischen Union weiterhin bei nahezu 80 %, und in China schwankt er zwischen 93 und 95 %. Verglichen mit anderen bedeutenden entwickelten Exporteuren sind die USA ein Sonderfall. Dies legt nahe, dass Chinas Aufstieg zum weltführenden Fertigungsstandort nicht die Ursache für den relativen Rückgang des US-Exports von Industrieprodukten ist. Eine wahrscheinlichere Ursache ist die Kombination aus hohen Energiepreisen und einer Zunahme der Energieproduktion, insbesondere von Öl und Erdgas, die zuerst die Importe verdrängten und den USA dann eine alternative Quelle von Exporteinnahmen verschafften. Ökonomen bezeichnen dieses Phänomen als „holländische Krankheit“. Der Begriff geht auf den Niedergang der produzierenden Industrie in den Niederlanden zurück, nachdem die Entdeckung von Erdgasvorkommen dort 1959 zu Zufallsgewinnen und einer schnellen Aufwertung der niederländischen Währung geführt hatte. Während die Energiepreise gegenüber ihrem Höchststand im Jahr 2022 gesunken sind, sind sie weiterhin hoch, insbesondere was Erdgas angeht. Es ist daher zu erwarten, dass Rohöl, Mineralölprodukte und Erdgas die drei wichtigsten US-Exportprodukte bleiben werden, gefolgt von Autos und Halbleitern auf den Plätzen vier und fünf.

Der Dienstleistungssektor

Die US-Wirtschaft profitiert zudem von einem robusten Dienstleistungssektor. Dieser umfasst auch die konkurrenzlos überlegenen Silicon-Valley-Giganten, die eine Quelle rapide wachsender Exporterlöse darstellen. Die Dienstleistungsexporte sind inzwischen fast so hoch wie die Exporte von Industrieprodukten, und die USA weisen derzeit einen hohen und weiter steigenden Überschuss beim Handel mit Dienstleistungen auf. Während der vergangenen beiden Jahrzehnte hat diese Verschiebung dazu geführt, dass ein wachsender Anteil der Produktivressourcen auf die Förderung von Bodenschätzen und auf Dienstleistungen entfiel. Dies ging zulasten des Fertigungssektors. Viele Europäer beneiden die USA um ihren Schieferenergie-Boom und ihre erfolgreiche Technologiebranche. Doch die Kehrseite der US-Dominanz in diesen Sektoren war der relative Niedergang der heimischen Industrie.

Die häufig vorgebrachte Behauptung, dass erhöhte Importe aus China zu lokalen Konzentrationen von Arbeitslosigkeit und zum sozialen Niedergang des amerikanischen Kernlands geführt hätten, ist daher irreführend. Zum zunehmenden US-Import von Industriewaren aus China kam es, weil der Boom bei der Schieferenergie und im Technologiebereich Volkseinkommen und Konsum steigerte. Die chinesischen Importe waren ein Symptom dieses allgemeinen Trends und nicht die Ursache der heimischen Herausforderungen. Die EU – eine sehr viel offenere Volkswirtschaft als die USA – hat keine durch einen „China-Schock“ bedingten derartigen sozialen Verzerrungen erlebt und auch keine Aushöhlung des Fertigungssektors. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass China keine Schuld am Niedergang der industriellen Fertigung in den USA trägt. Tatsache ist, dass kein einzelner Faktor ein komplexes Phänomen wie den Niedergang des Fertigungssektors erklären kann. Der Anteil der Volkswirtschaft, der der Produktion von Waren gewidmet ist, sinkt überall in der entwickelten Welt schon lange. Das Besondere in den USA ist der Beitrag des Sektors zu den Exporten. Womöglich haben auch andere US-spezifische Faktoren eine Rolle gespielt, z. B. der Zustand des US-Bildungssystems und das Fehlen von Ausbildungsprogrammen, um Arbeitnehmer in manuellen Aufgaben zu schulen. Doch in erster Linie wurde diese Veränderung durch makroökonomische Kräfte angetrieben. Die offensichtliche Folgerung ist, dass eine Wiederbelebung des US-Fertigungssektors über die Handelspolitik extrem schwierig wird. Auf spezielle Waren oder Kategorien ausgerichtete Zölle haben nur eine begrenzte Wirksamkeit; die Handelszölle des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump auf chinesische Importwaren belegen dies. Daher zieht die Biden-Regierung keine Verhängung neuer Zölle in Betracht, auch wenn sie die von Trump geerbten Zölle beibehalten hat. Die heutigen Politiker scheinen eine Politik des „Buy American“ als primäres Instrument vorzuziehen. Doch beleuchtet der Inflation Reduction Act (IRA), Bidens Signaturgesetz, die Grenzen dieses Ansatzes.

Neue Handelspolitik

Ein Ziel des IRA besteht darin, in den USA eine industrielle Basis für bestimmte Mineralien zu schaffen, die als zentral für die Produktion von Batterien und erneuerbarer Energie gelten. Dies würde eine Stärkung der Rohstoffförderung zulasten des Fertigungssektors nach sich ziehen. Doch da die Rohstoffförderung kapitalintensiv ist und weniger Arbeitskräfte erfordert – etwa 500.000 im Vergleich zu den elf Millionen des Fertigungssektors –, ist sich darauf zu stützen nicht mit dem Ziel vereinbar, mehr Arbeitsplätze in der Industrie zu schaffen. Um die Unterstützung für den Abbau von Mineralien auszugleichen, enthält der IRA großzügige Subventionen für die heimische Batterieproduktion sowie Vorschriften für die Verwendung lokaler Komponenten für Elektrofahrzeuge und erneuerbare Energien. Doch gibt es abgesehen von Zöllen und Vorschriften über lokale Inhalte sehr wenig, was die Handelspolitik zum Schutz des US-Fertigungssektors tun kann.

Zudem werden alle Versuche, eine Erholung der US-Industrie durch Zugang zu billiger Energie zu fördern, ihren eigenen makroökonomischen Gegenwind hervorrufen. Geringere Energiekosten würden der US-Industrie einen vorübergehenden Vorteil verschaffen. Aber langfristig ist es immer profitabler, billige Energieträger direkt zu exportieren, als sie zur Fertigung von Industriewaren zu verwenden. Das liegt daran, dass die durch die billige Energie erzielten Einnahmen Einkommen und Löhne in die Höhe treiben. Man sollte sich vergegenwärtigen, dass der holländische Fertigungssektor wegen und nicht trotz der großen Erdgasvorkommen schrumpfte.

Sullivan mag Recht haben mit seiner Bemerkung, dass der Freihandel den amerikanischen Arbeitnehmern nicht die erhofften Ergebnisse beschert hat. Doch ist zweifelhaft, dass die von der Biden-Regierung verfolgte „Handelspolitik für die Mittelschicht“ deren Lage wesentlich verbessern wird.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Daniel Gros ist Direktor des europapolitischen Instituts der Università Commerciale Luigi Bocconi.

Copyright: Project Syndicate, 2023.

www.project-syndicate.org

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Daniel Gros ist Direktor des europapolitischen Instituts der Università Commerciale Luigi Bocconi.

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