Lieferkettenprobleme während der Corona-Pandemie, geopolitische Spannungen und Engpässe als Folge des Kriegs in der Ukraine haben es noch einmal sehr deutlich gemacht: Die EU ist viel zu stark von Importen kritischer Materialien aus einzelnen Drittländern abhängig, die für erneuerbare Energien, digitale Industrien, Verteidigung, Raumfahrt und Gesundheit unerlässlich sind. Auch für Handys, Computer und E-Fahrzeuge werden sie dringend benötigt. Ohne einen zuverlässigen Import dieser Rohstoffe wird es schwierig, die Energiewende voranzutreiben und die vereinbarten Klimaziele einhalten zu können.
Die EU wird deshalb ein neues Gesetz erlassen, das darauf abzielt, sie unabhängiger und wettbewerbsfähiger zu machen, strategische Projekte und deren Umsetzung zu identifizieren, strategische Reserven zu schaffen und das Recycling dieser begehrten Materialien zu fördern. Am Donnerstag hat das EU-Parlament mit großer Mehrheit seine Position für dieses neue Gesetz angenommen, das nun im Trilogverfahren in letzten Details ausgehandelt wird.
Die Europäische Kommission führt eine Liste der kritischen Rohstoffe, auf Englisch Critical Raw Materials (CRM). Dabei handelt es sich um Materialien, die weltweit sehr knapp, aber in Geräten und Anlagen auch nicht substituierbar sind. Ihre Verfügbarkeit nimmt stark ab, da die Nachfrage der Industrie weltweit rasant zunimmt. Die EU-Kommission aktualisiert die Liste der kritischen Rohstoffe alle drei Jahre. 2011 befanden sich auf ihr noch 14 Materialien, inzwischen ist ihre Zahl auf 35 gestiegen (Stand 2023). Die Liste gilt als Gradmesser für das Versorgungsrisiko der europäischen Wirtschaft.
Neue strategische Partnerschaften und eigene Kapazitäten
Um eine größere strategische Autonomie zu erreichen, will die EU mit Hilfe des „Critical Raw Material Act“ ein System einführen, das die Beschaffung von strategischen Rohstoffen diversifizieren und vereinfachen soll. Um Abhängigkeiten von einzelnen Staaten abzubauen, sollen neue strategische Partnerschaften geschlossen werden. In Frage kommt dafür unter anderen Australien, das sich als alternative Bezugsquelle von Seltenen Erden und anderen kritischen Mineralien zunehmend etabliert. Daneben sollen eigene Kapazitäten aufgebaut werden, indem einzelne Produktionsschritte wie Förderung, Veredelung und Verarbeitung der Rohstoffe sowie die Raffinierung und Trennung Seltener Erden stärker in der EU angesiedelt und private Investitionen in diesem Bereich gesteigert werden. Davon sollen auch kleine und mittlere Unternehmen profitieren.
Die Abgeordneten wollen sich zudem für einen stärkeren Fokus auf Forschung und Innovation in Bezug auf Ersatzstoffe und Produktionsverfahren einsetzen, die Rohstoffe in strategischen Technologien ersetzen könnten.
Für den Aufbau einer widerstandfähigeren Wertschöpfungskette setzt die EU zudem auf Kreislaufwirtschaft. Finanzielle Anreize oder Pfandsysteme sollen Unternehmen und Privatleute motivieren, Produkte, die kritische Rohstoffe enthalten, und den damit verbundenen Abfall, zu sammeln und zu recyclen.
Russland blockiert Kooperation mit Ukraine
Lieferkettenprobleme und Abhängigkeiten von China haben die EU in den vergangenen Jahren bereits stark unter Druck gesetzt. Aber auch Russlands Präsident Wladimir Putin lässt die Europäer ihre Schwächen spüren, wo immer möglich. Kobalt, Lithium und andere Rohstoffe sind längst zu einem geopolitischen Faktor geworden. Um sich weniger abhängig von China und anderen autokratisch regierten Ländern zu machen, ist die EU im Juli 2021 mit der Ukraine eine strategische Partnerschaft zur Gewinnung und Verarbeitung von kritischen Rohstoffen eingegangen. Die liegt nun wegen Russlands Angriff auf das Land praktisch auf Eis.
Die Ukraine verfügt über Vorkommen von Lithium, Kobalt, Titan, Beryllium und eine Reihe von Seltenen Erden. Allein das Lithium-Vorkommen der Ukraine wird auf etwa 500.000 Tonnen geschätzt - und wäre damit eines der größten der Welt. Laut dem bundeseigenen Dienst Germany Trade & Invest (gtai) verfügt die Ukraine über Vorkommen von mindestens 22 der 30 von der EU als kritisch eingestuften Rohstoffe. Sein Land könnte integraler Bestandteil der industriellen Beschaffungsketten in der EU werden, sagte Premierminister Denys Schmyhal demnach bei der Raw Materials Week im November 2022 in Brüssel. Nach Schmyhals Ausführungen gehörte die Ukraine 2021 zu den zehn größten Produzenten von Titan, Eisenerz, Kaolin, Mangan, Zirconium und Graphit. Dass die Ukraine, wie sie erhoffte, ein wichtiger Teil der Wertschöpfungskette für Europas Batterieproduzenten werden könnte, hat Putin vorerst verhindert.
Da sich diese Rohstoffvorkommen hauptsächlich im Osten der Ukraine befinden, sei offen, wie diese Partnerschaft in Zukunft umgesetzt werden kann, sagte Olivia Lazard, Forscherin bei Carnegie Europe, im Interview mit euronews.com. Investoren halten sich in der Region nachvollziehbarerweise zurück. Russland selbst hätte genug eigene Rohstoffe, versuche aber, sich einen Teil dieser Vorkommen anzueignen, die die Welt in Zukunft brauchen werde, damit andere weniger von den ukrainischen Ressourcen profitieren, analysiert die Politikwissenschaftlerin. Die EU muss also ohne die Ukraine planen.
Parlament drängt auf schnelles Verfahren
„Die Weichen für europäische Souveränität und Wettbewerbsfähigkeit sind gestellt“, sagte die federführende Europaabgeordnete Nicola Beer (Renew, DE) nach der Abstimmung. Das Europäische Parlament werde darauf drängen, die Trilogverhandlungen bis Weihnachten 2023 abzuschließen. „Wir setzen darauf, dass die Dringlichkeit und Relevanz einer sicheren und nachhaltigen Rohstoffversorgung für die Mitgliedstaaten ebenso wichtig ist wie für uns, die Volksvertreter."