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Ukraine-Krieg: Es geht schlicht um die Neuordnung Europas

Lesezeit: 7 min
23.09.2023 11:09  Aktualisiert: 23.09.2023 11:09
Bei Friedensverhandlungen zwischen Brüssel, wo die Zentralen der EU und der NATO stehen, und Moskau geht es unweigerlich um eine Neuordnung Europas. Schwer zu beantworten ist die Frage, wer sich aus Brüssel und aus Moskau an einen Tisch setzen sollte, um einen Frieden zu verhandeln. Denn der Westen will die bedingungslose Kapitulation Russlands.
Ukraine-Krieg: Es geht schlicht um die Neuordnung Europas
Frieden schließen können nur die tatsächlichen Gegner, der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij kann diese Aufgabe nicht übernehmen, da er von der EU und der NATO keine Verhandlungsvollmacht hat und diese auch nicht bekommen kann. (Foto: dpa)

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Die Erklärungen der westlichen Politiker und der Medien zum Ukraine-Krieg folgen einer Logik. Russland hat die Ukraine angegriffen, um sie zu erobern, also verteidigt das Land seine Souveränität und wird dabei von befreundeten Staaten mit Geld, Waffen und Munition unterstützt. Also ist es Sache der Ukraine entweder den Feind aus dem Land zu vertreiben oder die Basis für einen Frieden mit Russland zu finden.

Diese Darstellung stimmt nicht. Die tatsächlichen Gegner in diesem Krieg sind nicht die Ukraine und Russland. Russland hat die Ukraine überfallen, weil das Land der NATO und der EU beitreten möchte und die NATO wie die EU zur Aufnahme bereit sind. Damit stand und steht immer noch ein weiterer Schritt der Osterweiterung von NATO und EU auf dem Programm, in Moskau wird schon die Aufnahme der ehemaligen Mitglieder des Warschauer Pakts an der EU-Ostgrenze von den baltischen Staaten über Polen, Tschechien, Ungarn bin nach Rumänien und Bulgarien als feindlicher Akt gesehen. Auch die Errichtung einer Reihe von Raketenbasen an der EU-Ostgrenze wird als Bedrohung Russlands erlebt.

Friedensverhandlungen erfordern die Teilnahme aller Beteiligten

Die tatsächlichen Gegner im Ukraine-Krieg sind folglich nicht die Ukraine und Russland, sondern auf der einen Seite die EU und die NATO, die beide die Osterweiterung und somit die Verringerung der russischen Einflusssphäre verfolgen, und auf der anderen Seite Russland. Frieden schließen können nur die tatsächlichen Gegner, der ukrainische Präsident Selenskij kann diese Aufgabe nicht übernehmen, da er von der EU und der NATO keine Verhandlungsvollmacht hat und diese auch nicht bekommen kann. Für die Ukraine besteht die Friedensperspektive derzeit nur in der Frage, welchen Teil des Territoriums und welcher nicht aufgegeben werden soll.

Bei Friedensverhandlungen zwischen Brüssel, wo die Zentralen der EU und der NATO stehen, und Moskau geht es unweigerlich um eine Neuordnung Europas. Die Erledigung dieser gigantischen Aufgabe ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 überfällig und kann nicht Selenskij überlassen werden.

  • In einem neuen Europa müsste Russland als respektierter Partner seinen Platz haben, ebenso die Ukraine, Weißrussland und Georgien.
  • Jetzt entsteht der Eindruck, man würde in westeuropäischen Regierungen hoffen, dass die Ukraine die russische Armee vernichtend schlägt und Russland ohnmächtig in der Bedeutungslosigkeit versinkt.
  • Osteuropa und die Millionen Menschen in dieser Region sind ein Teil Europas, auch wenn man das in Brüssel nicht so sieht. Europa hat keine Zukunft, wenn nun der Westen einen Eisernen Vorhang gegenüber dem Osten hochzieht, also den Eisernen Vorhang der Sowjetunion wiedererrichtet, nur jetzt mit umgekehrten Vorzeichen.

Der Westen will die bedingungslose Kapitulation Russlands

Schwer zu beantworten ist die Frage, wer sich aus Brüssel und aus Moskau an einen Tisch setzen sollte, um die Neuordnung Europas zu verhandeln.

  • Für die NATO würde sich protokollarisch der Langzeitgeneralsekretär Jens Stoltenberg anbieten, der die Osterweiterung und die Russland-Bekämpfung mit Eifer betrieben hat und noch immer betreibt. Erst in diesen Tagen hat er erneut den NATO-Beitritt der Ukraine forciert, obwohl die Statuten die Aufnahme eines im Krieg befindlichen Landes verbieten. Auch um die fortgesetzte Unterstützung der Ukraine bemüht sich Stoltenberg und betont, dass der Krieg noch lange dauern wird und man alles unternehmen müsse, was notwendig ist, um dem Land gegen Russland zu helfen. Sein Vertrag läuft in diesem Herbst aus, es gibt aber keine Anzeichen für eine Neubesetzung.
  • Ebenfalls aus protokollarischen Gründen müsste Ursula von der Leyen als Präsidentin der EU-Kommission bei Friedensverhandlungen mit Moskau am Tisch sitzen. Von der Leyen bemüht sich aber um die Aufnahme der Ukraine in die EU und rechnet ebenfalls mit einer längeren Dauer des Krieges, engagiert sich vehement für eine fortgesetzte Unterstützung des Landes.
  • Als Führungsmacht des Westens hätte wohl auch ein Vertreter der USA am Tisch zu sitzen. Die Regierung des Demokraten Joe Biden setzt aber konsequent die Hilfe an die Ukraine fort und hofft, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnt. Mit diesem Zugang wäre ein amerikanischer Vertreter auch kein überzeugter Friedensbotschafter.
  • Auf Distanz zur Ukraine sind die Republikaner gegangen und kündigen für den Fall eines Wahlsieges im kommenden Jahr die Beendigung der Ukraine-Hilfe an. Den Kritikern kommt zugute, dass das Budgetdefizit der USA in diesem Jahr explodiert ist und die Schulden des Staates enorme 33.000 Milliarden Dollar erreicht haben, bei einer Jahreswirtschaftsleistung von 29.000 Milliarden. Manche Kommentatoren vergleichen die USA bereits mit Griechenland in der Krise 2010. Da hat die Kritik an der doch in die Milliarden gehenden Hilfe für die Ukraine bei der Bevölkerung Gewicht.
  • Auf der Moskauer Seite des Tischs wäre Putin selbst als Präsident angesprochen, allerdings nicht hilfreich, da er den Krieg im Alleingang gestartet hat und stets unerfüllbare Forderungen an den Westen formuliert. Da würde sich Außenminister Sergej Lawrow besser eignen, da er den Ukraine-Krieg von vornherein nicht wollte. Er ist aber jetzt, wie das Rededuell mit Selenskij bei der UNO-Hauptversammlung diese Woche gezeigt hat, ganz auf Putins harter Linie.

Eine erste Zwischenbilanz zeigt die geringe Aussicht auf Frieden. Wenn die NATO, die EU, die USA und die Ukraine eine vollständige Niederlage der russischen Armee anstreben, so bedeutet das die Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation und dem kompletten Abzug der Truppen. Mit diesen Voraussetzungen ist die Aufnahme von Friedensverhandlungen sinn- und aussichtslos.

Die osteuropäischen EU-Staaten gehen auf Distanz zur Ukraine

Auch zeichnet sich nicht einfach ab, wie eine Neuordnung Europas aussehen soll und kann. Da stellt sich an erster Stelle die Frage nach der Identität und dem politischen Konzept der EU.

  • Die EU hat keine eigene Verteidigungspolitik und auch keine Armee.
  • Die EU hat auch keine Regierung, die EU-Kommission hat keine rechtliche Basis um diese Funktion zu erfüllen, der EU-Rat der Mitgliedsregierungen ist ein Sammelsurium von 27 eigenständigen Regierungen und kann daher keine Führungskompetenz entwickeln.
  • Bei Verhandlungen über eine Neuordnung Europas wäre die Delegation der EU nicht zu beneiden.
  • Die prekäre Lage der EU hat in den vergangenen Tagen eine neue absurde und groteske Dimension bekommen.
    • Die Mitgliedstaaten an der EU-Ostgrenze, die die Motoren der Osterweiterung waren, haben den Aufbau der NATO-Raketenbasen in ihren Ländern mit Vehemenz betrieben, weil sie sich als ehemalige Vasallen der Sowjetunion vor russischen Angriffen fürchten. In der russischen Invasion der Ukraine sahen sie die Bestätigung ihrer Ängste, verschärften die anti-russische Position und halfen der Ukraine.
    • Polen, das führend die geschilderte Politik verfolgt hat und auch bis vor kurzem der eifrigste Unterstützer der Ukraine war, hat vor wenigen Tagen die Hilfe für die Ukraine eingestellt. Die beiden Länder streiten, weil jedes dem anderen vorwirft, den eigenen Getreidemarkt zu ruinieren.
    • Die pro-westliche und anti-russische Stimmung im Osten der EU kippt. In der Slowakei ist die Hälfte der Bevölkerung der Ansicht, dass nicht Russland als Aggressor zu kritisieren sei, sondern der Westen Russland provoziert habe. Dementsprechend haben sich auch schon zwei konträre politische Lage gebildet, die Sozialisten lehnen die Ukraine-Hilfe ab und attackieren den Westen. In der Slowakei finden in zehn Tagen Parlamentswahlen statt.
    • In Ungarn hat der aus dem rechten Lager kommende Ministerpräsident Viktor Orban seit Beginn des Krieges Russland verteidigt und die Ukraine kritisiert.
    • Das Bild, das Polen, Ungarn und die Slowakei bieten, ist repräsentativ für die Lage in der osteuropäischen Region der EU
    • Für die Führungsriege in der NATO, in der EU und in den USA ergibt sich nun die groteske Situation, dass der Westen wegen der Osterweiterung in eine dramatische, globale Auseinandersetzung geraten ist, aber diejenigen, für die die Osterweiterung durchgeführt wurde, sich in der aktuell kritischen Situation als unverlässliche Partner erweisen.

Eine Neuordnung Europas wäre dringend notwendig, ist aber nicht absehbar

  • Wenn die EU in einem neu geordneten Europa eine bestimmende, gestaltende Rolle bekommen soll, dann wird sie die schon seit langem tausendfach erhobene Forderung nach klaren Strukturen eines tatsächlich als Union funktionierenden Staatenbundes endlich erfüllen müssen.
  • Nicht nur die EU muss dringend ihre Hausaufgaben machen. Auch Russland ist in seinem gegenwärtigen Zustand nicht auf die Teilnahme an einem neu geordneten Europa vorbereitet. Solange oppositionelle Politiker und kritische Journalisten ermordet werden, wird eine Partnerschaft nicht funktionieren. Europa vom Atlantik bis zum Ural kann nur erfolgreich in Frieden und Wohlstand gestaltet werden, wenn die Demokratie auf der Basis des liberalen Verfassungsstaats unbestritten für alle gilt und gelebt wird.
  • Solange Viktor Orban in Budapest und Vladimir Putin in Moskau unisono die Demokratie für eine überholte und unbrauchbare Staatsform erklären, macht es wenig Sinn, über eine Neuordnung Europas nachzudenken. Das Gleiche gilt, solange ein ukrainischer Präsident nach dem anderen keine eigenständige Perspektive für sein Land sieht und sich die Zukunft nur unter der schützenden Decke der EU und der NATO vorstellen kann.

Fasst man alle bestimmenden Faktoren zusammen, so muss man folgende Schlüsse ziehen.

  • Derzeit ist keine Aussicht auf einen Frieden in der Ukraine oder auf eine friedliche Neuordnung von Europa erkennbar.
  • Man muss also mit einer Fortsetzung des Krieges rechnen. Längere Zeit war es undenkbar, der Ukraine moderne Panzer zu liefern. Mittlerweile kommen laufend Panzer aus dem Westen an. Dann war es undenkbar, der Ukraine Kampfflugzeuge zur Verfügung zu stellen. Das geschieht jetzt auch. Momentan ist es undenkbar, dass NATO-Soldaten an der Seite der Ukraine gegen Russland kämpfen. Wie lange ist das noch „undenkbar“?
  • Da im Westen Russland seit langem als das Böse schlechthin gilt und die Invasion der Ukraine als neuerlicher Beweis für diese Einschätzung gesehen wird, unternimmt der Westen alles, damit die Ukraine siegt.
  • Die russische Armee wird also in die Enge gedrängt, bis eine Überreaktion unvermeidlich wird und Russland doch eine Atombombe zündet und Westeuropa angreift. Dann werden die vermeintlich nur der Abwehr dienenden Raketenbasen an der EU-Ostfront doch plötzlich für Angriffe verwendbar sein und Moskau und die anderen russischen Zentren bombardieren. Die Gegenschläge werden Berlin, Paris und London treffen.

Die Stunde der Damen Colonna und Baerbock wäre gekommen

Es ist also wieder einmal so weit. Die völlige Unfähigkeit der Politiker und Politikerinnen, die Konsequenzen ihrer Handlungen und Unterlassungen zu erkennen, treibt die Welt und insbesondere Europa in eine Katastrophe. Zahllose Funktionäre rasen sinnlos in der Welt herum, abertausende Diplomaten bevölkern steife, langweilige Empfänge, Staats- und Regierungschefs veranstalten „Gipfel“, auf denen die Luft aber offenbar zu dünn ist, um Ergebnisse erarbeiten zu können, und so stolpert die Welt von einer Fehlentscheidung zur nächsten und landet letztlich in einem Blutbad, das Millionen Menschen vernichtet.

Das Schicksal Europas hängt im Wesentlichen von den Regierungen in Paris und Berlin ab. Und da zeichnet sich eine nicht zu unterschätzende Chance ab. Beide Kabinette haben eine Dame als Außenministerin. Catherine Colonna und Annalena Baerbock könnten sich zusammensetzen und das Ruder herumreißen und die derzeit in die Katastrophe weisenden Weichen in Richtung Frieden stellen. Das wäre auch eine gute Gelegenheit für Frau Baerbock ihr mit der unqualifizierten Bemerkung über Chinas XI ramponiertes Image wiederherzustellen. Die Achse Paris–Berlin könnte Europa retten.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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