Algerien besitzt das dreizehntgrößte Gasvorkommen der Welt. Mit einer Produktion von jährlich circa 90 Milliarden Kubikmeter könnte es den Verbrauch der Bundesrepublik Deutschland im Alleingang decken. Zudem sitzt das Land nach China und Argentinien auf dem drittgrößten Schiefergasvorkommen weltweit, das noch unerschlossen ist, durchaus aber ausgebeutet werden könnte. Es überrascht daher kaum, dass die EU bereits seit einigen Jahren Lieferverträge mit Algier unterhält. Schon 2021 war das Land der drittgrößte Lieferant von Gas nach Europa, gleich nach Russland und Norwegen.
Indessen hat sich die Versorgungslage geändert. Russland wird kategorisch als Lieferant von Gas ersetzt, doch LNG-Lieferungen aus Norwegen und den USA sind teuer. Algerien soll hier aushelfen und den Westen mit günstiger Energie versorgen, die er dringend benötigt.
Selbst Kritiker der fossilen Energien zeigen sich äußerst optimistisch bezüglich einer Energiepartnerschaft zwischen Algier und Brüssel. Nach dem Ausbau von Photovoltaikanlagen könnte in der Sahara das Potenzial von jährlich 3000 Sonnenstunden genutzt werden. Schätzungen gehen davon aus, dass die Bebauung von 10 Prozent der algerischen Wüste mit Photovoltaikanlagen ausreichen dürfte, um die gesamte EU mit Energie zu versorgen.
Ein weiterer vermeintlicher Vorteil: Das gekaufte Gas wäre de facto aus Algerien, während Importe aus Ländern wie Aserbaidschan und Indien nicht selten verteuertes russisches Gas beinhalten. Doch ist eine Vertiefung der Partnerschaft mit dem Westen auch im Sinne Algiers?
Steigende Gasexporte und eine wachsende Abhängigkeit
Tatsächlich stieg der Export algerischer Energie nach Italien seit Februar 2022 um rund 40 Prozent auf 55,2 Milliarden Kubikmeter. Auch Spanien und Frankreich umwerben das nordafrikanische Land, dessen Wirtschaft voraussichtlich im Jahr 2023 um vier Prozent wachsen wird und dessen Außenhandelsüberschuss bei knapp sechs Prozent liegt. Exporte in die gesamte EU nahmen um 15,7 Prozent zu. Algerien gilt damit unbestritten als einer der Gewinner des globalen Energiekrieges, wie ihn das Wall Street Journal neulich betitelte. Der Bedrohung islamistischer Gruppierungen im Süden zum Trotz erreichen Firmen wie die italienische Eni das Land und kurbeln die Gasproduktion merklich an. Auch deutsche und sogar US-amerikanische Vertreter suchen den Kontakt zur algerischen Regierung, um gute Deals abzuschließen.
Dabei reicht es westlichen Vertretern nicht, Rohstoffe zu kaufen. Diesmal soll der Lieferant voll und ganz auf ihrer Seite sein, um ein Debakel wie den Bruch mit Russland zu vermeiden. Ein Eindämmen des russischen Einflusses aus Algerien ist deshalb sowohl europäischen als auch amerikanischen Politikern ein wichtiges Anliegen. Doch wie der fatale Migrationsdeal mit Tunesien könnte auch der Ausbau der Beziehungen mit Algerien krachend scheitern. Denn Algiers hat eigene Interessen, und seine Stellung ermöglicht es dem Land, sich seine Partner auszusuchen. Präsident Abdelmadjid Tebboune traf erst im Juni Wladimir Putin und bekundete, die strategische Partnerschaft mit Moskau ausbauen zu wollen.
Algerien und Russland kooperieren schon lange auf militärischer Ebene zusammen. So gehört Algerien zu den größten Käufern russischer Militärtechnik, zudem werden algerische Offiziere seit Generationen in Russland trainiert. Die starke strategische Zusammenarbeit Algeriens mit Moskau besorgt westliche Beobachter, da das Land eine der größten Armeen ganz Afrikas besitzt. Infolgedessen zeigten sich US-amerikanische und europäische Vertreter bereit, Algerien mit Waffen zu versorgen, falls es Abstand von russischen Lieferungen nehmen sollte. Bisher kamen aber nur widersprüchliche Signale aus dem Land. Kein Wunder: Immerhin befindet sich Algier in der bequemen Lage, die Gaslieferungen als politisches Druckmittel gegen den Westen einzusetzen, wann immer es will.
Derweil nehmen auch weitere Akteure Einfluss auf den Maghreb: China, die Türkei, die Vereinigten arabische Emirate und Katar buhlen um die Gunst der drei Länder. Da sie Dreh- und Angelpunkte für Migration, Energieexporte und das Mittelmeer darstellen, ist das wenig verwunderlich. Einfluss im Maghreb bedeutet auch Einfluss auf die gesamte Mittelmeerregion und das Rote Meer.
Der Westen in Geiselhaft des Maghreb?
Problematisch bei Abkommen zwischen dem Westen und den Ländern des Maghreb ist, dass Algerien, Tunesien und Marokko je ganz eigene Interessen verfolgen. So schwelen seit Jahren Gebietsstreitigkeiten zwischen Marokko und Algerien um die Westsahara. Ein langjähriger Freundschaftsvertrag mit Spanien wurde kurzerhand von Algerien ausgesetzt, als Premierminister Pedro Sánchez Marokkos Position in Gebietsstreitigkeiten Marokkos und Algeriens in der Westsahara übernahm. Obwohl Spanien und sogar die USA sich auf die Seite Marokkos schlugen, blieb Algerien in seiner Position hartnäckig, wohl auch, weil Moskau kürzlich seine Neutralität aufgab und Algier in der Gebietsstreitigkeit unterstützte. Der Westen stand nun vor der Wahl: Auf Gasexporte Algeriens zu verzichten oder Migranten aus Marokko aufnehmen zu müssen.
Es ist verwunderlich, wie schnell der Westen von einer vermeintlichen Abhängigkeit in die nächste stolpert. Brüssel rechnet bereits mit funktionalen Migrationsabkommen, steten Gaslieferungen und einer günstigen Versorgung mit seltenen Erden aus dem Maghreb — dass ihn diese Dinge teuer zu stehen kommen könnten, spielt anscheinend eine untergeordnete Rolle. Der Migrationsdeal mit Tunis, erst von einer Querfront aus liberalen und konservativen Kräften Brüssels gefeiert, erwies sich zuletzt als Blindgänger. Algerien kann es sich angesichts der jetzigen Versorgungslage leisten, seine Gasexporte als Druckmittel zu nutzen und somit eigene oder die Interessen befreundeter Mächte durchzusetzen.
Dabei stellt sich die Frage, warum so wichtige Themen wie die Energieversorgung und die Migrationskrise a priori an andere Staaten ausgelagert werden, die Europa nicht nur positiv gegenüberstehen. Die Nutzung eigenen Schiefergases, das in Deutschland beispielsweise in rauen Mengen vorhanden ist, oder der Schutz der eigenen Grenze wären sinnvolle Maßnahmen, um Europa zu mehr Autarkie zu verhelfen. Stattdessen stößt Brüssel einen großen Teil jeglicher Verantwortung ab und legt das Schicksal Europas in die Hände fremder Mächte, deren Loyalität alles andere als gesichert ist. Ob sich dieses Verhalten auch auf längere Sicht auszahlt, darf bezweifelt werden.