Politik

Sahra Wagenknecht ändert das Drehbuch des deutschen Polittheaters

Lesezeit: 6 min
28.10.2023 10:20  Aktualisiert: 28.10.2023 10:20
Sahra Wagenknechts Eintritt auf die politische Bühne verändert die Dynamik der deutschen Politik. Ihre neue Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht - Für Vernunft und Gerechtigkeit“ könnte potenziell eine breite Wählerschaft ansprechen, einschließlich diejenigen, die mit der aktuellen politischen Landschaft unzufrieden sind.
Sahra Wagenknecht ändert das Drehbuch des deutschen Polittheaters
Sahra Wagenknechts politische Aktivität könnten in Deutschland große Auswirkungen haben. (Foto: dpa)

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Die politische Szene in Deutschland bildet seit längerem eine Art Laienschauspiel, in dem jeder Darsteller einen Text aus dem Stegreif spricht und sich nicht an eine Textvorlage halten muss. Die Darbietung entspricht einem Film ohne Drehbuch. Das Publikum ist naturgemäß verwirrt und erfolglos auf der Suche nach einem roten Faden in dem chaotischen Geschehen.

Vor wenigen Tagen ist auf der Bühne eine neue, attraktive, offensichtlich selbstbewusste Darstellerin aufgetaucht. Sie lehnt vorerst an der Säule, die die Bühne am Ende der Rampe begrenzt, und spricht nur, wenn der Chor der Laienspieler Atem holt und daher kurz schweigt.

In diesen Augenblicken schießt sie geschliffene, rhetorische Pfeile ab, die das Publikum wie eine Erläuterung des Hauptdramas erlebt. Auffällig ist die oft wiederkehrende Feststellung, dass die Äußerungen der Darsteller schlichtweg dumm sind. Nachdem niemand die spontanen Stegreif-Botschaften versteht, wirkt die Feststellung, dass es sich ohnehin nur um Dummheiten handelt, befreiend. Die Neue wirkt sehr professionell, die Haltung ist nicht irgendwie lässig, sondern aufrecht und dynamisch, die gesprochenen Sätze sind vollständig und überlegt, klingen daher wie aus einem Textbuch und nicht wie spontane Einfälle.

Sahra Wagenknechts neue Partei agiert nicht als linke Kampftruppe

Die Neue, Sahra Wagenknecht, hat vor wenigen Tagen die Gründung einer eigenen Partei angekündigt und ist gemeinsam mit Freunden aus der Partei „Die Linke“ ausgetreten. Angesichts der politischen Herkunft der Akteure könnte man jetzt mit einer besonders aggressiven, linken Ausrichtung rechnen, die die weiterhin bestehende Rest-„Die Linke“ ideologisch übertrumpfen würde. Genau davon ist aber nicht die Rede. Vielmehr sind die Botschaften eher liberal, gleichsam in der Mitte des politischen Spektrums angesiedelt und um sachlichen Bezug auf konkrete Probleme bemüht. Die Äußerungen sind so abgefasst, dass sie die Standard-Erklärungen der arrivierten Parteien in Frage stellen. Hier zeigen sich die Früchte der Schulung in Dialektik aus der Zeit des realen Sozialismus.

So beklagt Wagenknecht die aktuelle wirtschaftliche Schwäche Deutschlands, den Frust der mittelständischen Unternehmer, dass die Betriebe unter bürokratischen Schikanen leiden, dass die Infrastruktur vernachlässigt werde und dabei insbesondere die digitalen Highways nicht den Erfordernissen einer umfassenden Digitalisierung entsprechen. Diese Sätze würde man vom Chef der CDU erwarten. Deren Obmann, Friedrich Merz, sollte als Wirtschaftsanwalt, vielfacher Aufsichtsrat und Partner des weltweit größten Investmentfonds wie die personifizierte Wirtschaftskompetenz agieren und wissen, wie das Rezept für „make Germany great again“ lautet. Aus der Partei des Architekten des Wirtschaftswunders, Ludwig Erhard, kommt aber wenig. Die ex-linke Sahra Wagenknecht erinnert an die guten Zeiten der Bundesrepublik.

Kann man mit Ausländerfeindlichkeit allein Bundeskanzler werden?

Hört man sich die Reden von Friedrich Merz an, so geht es vor allem um die Bekämpfung der illegalen Einwanderer, die er rasch abschieben will. Fachkräfte sollen aber sehr wohl bitte zahlreich nach Deutschland strömen. Als CDU-Obmann glaubt er offenbar mit den ausländerfeindlichen Parolen der AfD Stimmen abzujagen und versteigt sich sogar zu Hetzaussagen gegen Asylanten, die das Sozialsystem ausnützen würden, um sich die Zähne reparieren zu lassen, während brave, deutsche Bürger keinen Termin bekämen. Merz will nicht nur die Wähler der AfD zur CDU ziehen, er kann sich auch eine Koalition mit den Rechtspopulisten vorstellen. Ein kühler Rechner addiert leicht die rund 30 Prozent der CDU und die rund 20 Prozent der AfD aus den aktuellen Umfragen und da kommt am Ende dieser Übung sogar ein Bundeskanzler Merz heraus.

Der Wettlauf um die Gunst der Unzufriedenen

Im spontanen Laientheater haben die Zuschauer das Recht, den Ausgang des Stücks zu bestimmen. Sahra Wagenknecht könnte die eben aufgemachte Rechnung stören. Mit ihrer Linie, die aktuelle Regierung sei die dümmste, die Deutschland je hatte, bietet sie den Protestwählern eine neue Heimat neben der AfD, dürfte also Zulauf aus dem Kreis der Unzufriedenen bekommen. Auch die Wähler der Linken könnten sich der neuen Partei zuwenden, die sich als Erbin der sozialistischen Partei profiliert und für die Anhebung der niedrigen Einkommen kämpft. Schließlich tümpelt die SPD unter 15 Prozent der Stimmen, sodass verlorene SP-Stammwähler bei Wagenknecht eine neue Heimat winkt.

In manchen Augenblicken flackert die Möglichkeit einer Großen Koalition auf

Somit treffen Wagenknechts rhetorische Schläge nicht nur den Obmann der einstigen Wirtschaftspartei CDU, sondern auch den Obmann der traditionellen Sozialisten, Olaf Scholz. Dieser fährt einen respektablen Kurs, der bei den Wählern nicht ankommt. Als Vertreter der stärksten Volkswirtschaft in der EU trägt er die großen Ziele des Westens mit. In der EU und in der NATO herrscht Übereinstimmung, dass die Europäer ihren Beitrag zur Verteidigung der westlichen Demokratie steigern müssen. In diesem Sinne hat Scholz eine Sonderdotation der Bundeswehr von 100 Mrd. Euro durchgesetzt und engagiert sich persönlich in der Ukraine und bei der Bekämpfung der Terrororganisation Hamas. Für diese Politik wurde er auch ausdrücklich von Merz gelobt. In den vergangenen Tagen herrschte generell ein gutes Klima zwischen der SPD und der CDU, sodass manche schon eine Renaissance der Großen Koalition für möglich halten. Bei einem Abendessen zum Thema Migration und Abschiebungen kam man einander auch näher.

Die Sehnsucht nach der Bundesrepublik der Nachkriegszeit

Auch in diesen Fragen sorgt die Dame am Rande der Bühne für Unruhe. Und hat dabei durchaus viele im Publikum auf ihrer Seite. Die Erinnerung an die Nachkriegszeit in noch sehr wach. Dabei strahlt nicht nur das Wirtschaftswunder, auch der von außen verordnete Friede fördert die Nostalgie. Der Bundesrepublik war jede kriegerische Aktivität verboten und ein Ausbau der Bundeswehr daher in dieser Periode undenkbar. Man hatte sich grundsätzlich in die Geopolitik nicht einzumischen, wie dies derzeit geschieht. In dieser Sehnsucht nach Ruhe kann Wagenknecht gegen die Bundeswehr argumentieren, aber auch die Sanktionen gegen Russland ablehnen, die der deutschen Wirtschaft und den deutschen Konsumenten schaden, weil sie zur Explosion der Energiepreise geführt haben. Es werden vermutlich einige Wähler den Einsatz für ein neutrales Deutschland, das auf der Weltbühne nicht auffällt, honorieren. Im internationalen Vergleich steht die deutsche Wirtschaftsleistung an vierter Stelle nach den USA, China und Japan. Zu dieser Position passt politische Abstinenz nicht.

Grüße von Ludwig Erhard und Gerhard Schröder

Wagenknechts Kritik, dass Deutschland seine industrielle und innovative Führungsrolle verliert, trifft genau auf den Punkt. Da wird nicht nur die Erinnerung an den wirtschaftlichen Übervater der CDU, Ludwig Erhard, wach. Die SPD wird daran gemahnt, dass der Parteivorsitzende und Bundeskanzler Gerhard Schröder um die Jahrtausendwende fundamentale Reformen umgesetzt hat, die entscheidend zu den anschließenden Erfolgen des Landes beigetragen haben. Damals, am Ende der Ära Kohl, war Deutschland der kranke Mann Europas und droht es gerade jetzt, wieder zu werden. Heute sollte Olaf Scholz wie sein Vorgänger vor zwei Jahrzehnten, dem Land eine neue Richtung geben. Die FDP mit Christian Lindner als Vorsitzenden und Finanzminister in der Ampel-Regierung wäre da vermutlich sogar der richtige Partner. Allerdings hätte da die Rede zum Budget 2024 anders ausfallen müssen. Einem braven Musterschüler gleich nur die Rückkehr zur Finanzstabilität zu beschwören, ist nicht das einzige Gebot der Stunde. Schon eher in die richtige Richtung weist der Beschluss, dass man günstigere Abschreibungsregeln schafft, um die Investitionen zu erleichtern.

Vor allem aber geht es darum, dass endlich eine umfassende und funktionierende Digitalisierung aller Unternehmen stattfindet. Dazu tragen Steuervorteile sicher bei. Allerdings darf man nicht nur am Rande, nebenher, beklagen, dass die Banken und die Versicherungen bei der Finanzierung von Investitionen bremsen. Dies geschieht, weil die EU-Kommission über die Finanzmarktaufsicht dieses Verhalten erzwingt, um möglichst viel Geld in den Green Deal zu lenken. Da wäre die deutsche Bundesregierung an erster Stelle aufgerufen, in Brüssel gegen die übertriebene. wirtschaftsfeindliche Forcierung der vermeintlichen Nachhaltigkeit aufzutreten. Nur mit einem lebendigen Markt für Finanzierungen kann Deutschland wieder auf den Wachstums- und Innovationspfad zurückkehren. Dann wird man sich von Sahra Wagenknecht nicht bloßstellen lassen müssen.

Robert Habeck wäre ein guter Schauspiel-Coach für Politiker

Vor einigen Jahren noch hätte man an das gegenüber liegende Ende der Rampe die grüne Frontfrau platzieren müssen, damit diese ebenfalls die Darsteller im Zentrum des Geschehens durch Hinweise auf den Umweltschutz und den Klimawandel reizt. Es hätte sich gleichsam eine Zangenbewegung der beiden Damen gegen die Arrivierten angeboten. Das ist allerdings nicht mehr angebracht, da alle Themen und Vorstellungen der Grünen sämtliche Bereiche der Politik erobert haben. Annalena Baerbock kann und musss nicht als Gegenpol zu Sahra Wagenknecht auftreten. Sie ist selbst arriviert und offenkundig mit ausnehmend viel Freude Außenministerin. Das ist auch tatsächlich ein besonderer Posten. Man kommt in der ganzen Welt herum, trifft viele vermeintlich wichtige Leute, im Besonderen andere Außenminister. Man selbst ist auch nur vermeintlich wichtig, weil die Linien die Außenpolitik stets vom jeweiligen Regierungschef vorgegeben werden. Man wird überall von einem Botschafter oder einer Botschafterin begrüßt und umsorgt und schwebt daher ständig im Wohlgefühl der eigenen Bedeutung.

Die nächste Wahl in das Europäische Parlament findet zur Jahresmitte 2024 statt, die Bundestagswahl folgt im Herbst 2025. Es bleibt also noch Zeit und die Laienschauspieler könnten in einer professionellen Schauspielschule Kurse belegen. Im Ensemble hätten sie sogar einen einschlägig ausgebildeten Coach. Robert Habeck, der sich als Wirtschaftsminister einigermaßen schwer tut, könnte seine Kenntnisse der Literatur und der Philosophie nützen und den Kollegen aller Farben Hinweise auf wertvolle Texte geben, die sie studieren mögen. Alle wären gut beraten, sich über die Werke der großen Meister der Dramaturgie zu beugen und würden bei Aristoteles, Boileau, Lessing und Stanislawski lernen, was man auf einer Bühne zu tun hat. Bald werden dann der Bundestag und die Bundesregierung die besten deutschen Theater in den Schatten stellen. Sahra Wagenknecht ist auf diesem Weg schon ein gutes Stück vorangekommen, jetzt werden die anderen folgen müssen.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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