Politik

Offensive im Gaza-Streifen: Wie Israel die Erfahrungen der USA auswertet

Lesezeit: 3 min
02.11.2023 18:17  Aktualisiert: 02.11.2023 18:17
Bei der Planung der nun einsetzenden Bodenoffensive im Gazastreifen war für den israelischen Generalstab die Auswertung der Erfahrungen der amerikanischen Armee im Irak und in Syrien von entscheidender Bedeutung. Nicht zufällig war wenige Tage vor dem Beginn der Operation eine Delegation hochrangiger amerikanischer Militärs nach Tel Aviv gekommen.

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Tatsächlich standen damals die USA bei den Kämpfen gegen die Anhänger des alten Saddam-Hussein-Regimes und später dann gegen den Islamischen Staat (IS) in ihren Hochburgen Falludscha, Mossul und Rakka vor ähnlichen Herausforderungen, wie heute die israelische Armee in Gaza: In dichtbesiedelten Städten eine Streitkraft nicht nur zu besiegen, sondern zu vernichten – und dabei möglichst das Leben der dort lebenden Zivilbevölkerung zu schonen.

Dabei lässt sich schon in den wenigen Tagen nach Beginn der israelischen Bodenoperation im Gazastreifen nachvollziehen, dass die Israelis eine ganze Reihe von Lehren und Erfahrungen der Amerikaner übernommen haben, wie die Analysen amerikanischer auf militärpolitischen Fragen spezialisierte Think Tanks zeigen.

Erfahrungen im Irak und Syrien

Lehre Nummer eins: Geduld. Die Kämpfe zur Befreiung des syrischen Rakka vom IS im Jahre 2017 haben 90 Tage gedauert, die Kämpfe in Mossul gar 277 Tage. Kämpfe in dichtbesiedelten Städten gelten als die taktisch schwierigsten und deshalb als die langwierigsten Operationen überhaupt - zumal gegen einen Gegner, der wie die Hamas, mehr als zehn Jahre Zeit hatte, sich darauf vorzubereiten. Es ist schon nach wenigen Tagen offenkundig, dass die Israelis diesen Beispielen folgen und nur sehr langsam, Schritt für Schritt vorrücken.

Lehre Nummer zwei: Teile das Operationsgebiet auf. Der Gaza-Streifen umfasst insgesamt etwa 365 Quadratkilometer. Nach Einschätzung amerikanischer Militärs wäre ein Angriff auf breiter Front mit unkalkulierbaren Risiken und hohen Verlusten für die Israelis verbunden gewesen. Dies schon deshalb, weil der Gaza-Streifen zu den dichtbesiedelsten Landstrichen der Welt gehört und daher Überraschungsaktionen für die Israelis kaum oder nur sehr schwer möglich sind. Zudem verfüge die Hamas und die mit ihr verbündete Terrororganisation Islamischer Dschihad über eine Vielzahl von Aufklärungsdrohnen, die aus dem Iran geliefert wurden.

Die Lehren für Israel

Israel hat folglich damit begonnen, in der ersten Phase der Operation seine gesamten militärischen Anstrengungen auf den Norden des Gazastreifens zu konzentrieren. Dabei wird Gaza City mit einer Fläche von 30 Quadratkilometer im Zentrum der israelischen Planungen stehen, weil dort auch die entscheidenden Kommandostrukturen der Hamas vermutet werden. Es wird Israel, so die Vermutung amerikanischer Experten, darum gehen, Gaza City – und damit die Hamas-Kommandozentren – abzuschnüren und schrittweise zu besetzen.

Lehre Nummer drei: Kenne Gegner und Risiken. Nach Einschätzungen israelischer und amerikanischer Sicherheitskreise kann die Hamas bis zu 40.000 Bewaffnete aktivieren, im extremsten Fall kämen weitere 15.000 vom Islamischen Dschihad dazu, der mit der Hamas verbündet ist und gleichfalls vom Iran unterstützt wird. Den Einschätzungen zufolge verfügen beide Organisationen über mehr als ausreichend Waffen, vor allem Handfeuerwaffen, Sprengstoff jedweder Art, Aufklärungs- und Kampfdrohnen aus dem Iran, Panzernahbekämpfungswaffen und vermutlich auch Luftabwehrsysteme.

Dies stellt die Planer im israelischen Generalstab vor erhebliche taktische Herausforderungen. Denn: Dichtbesiedelte Städte gelten taktisch als das schwierigste Gelände, das immer den Verteidiger begünstigt. Der Verteidiger kennt das Gelände, er hatte Zeit gehabt, Stellungen und Sprengfallen vorzubereiten, Minen zu legen. Zudem bietet Gaza-City mit mehr als 60 Gebäuden mit mehr als sechs Stockwerken den Verteidigern die Möglichkeit, das Schlachtfeld zu überblicken. Es werde, so Analysten, für die israelische Armee darauf ankommen, Kommando- und Beobachtungsstellen des Gegners möglichst frühzeitig zu lokalisieren und durch gezielte Schläge – auch aus der Luft – auszuschalten.

Darauf lässt auch das Vorgehen der Israelis zu Beginn ihrer Offensive schließen, als sie in den ersten Tagen nur begrenzte Kommando-Vorstöße unternahmen und sich dann stets schnell wieder zurückzogen. Dies sollte offenbar dazu dienen, dass Kommando- und Beobachtungsstellen der Hamas sich gezwungen sahen, aktiv zu werden – wodurch sie dann von den Israelis lokalisiert und ausgeschaltet werden konnten.

Die besonderen Herausforderungen

Lehre Nummer vier: Weiß, was Du nicht weißt. Die israelische Armee steht vor drei identifizierten Unbekannten: Ausmaß und Verlauf des von der Hamas angelegten Tunnelsystems, das Verhalten der Bevölkerung, die Standorte der rund 220 Geiseln in der Hand der Hamas.

Den Israelis ist mit dem für sie weithin überraschenden Angriff am 7. Oktober schmerzlich bewusst geworden, wie wenig sie über die Vorgänge im Gaza-Streifen wussten. Weder konnten sie die Vorbereitungen der Hamas richtig deuten, noch hatten sie hinreichend Kenntnis über die reichhaltigen Vorräte der Hamas an Raketen. Dies führt zu der für Israel schmerzhaften Einsicht, dass vermutlich auch das bisherige Wissen über das Tunnelsystem der Hamas bestenfalls lückenhaft ist. Dann, allerdings dürfte es sehr schwerfallen, die Standorte der Geiseln zu lokalisieren. Und auch über das Verhalten der Zivilbevölkerung lässt sich allenfalls spekulieren.

Die Ziele, die sich Israel gesteckt hatten, waren die Zerschlagung der militärischen Kapazitäten von Hamas und Islamischer Dschihad im Gaza-Streifen, die Befreiung der Geiseln und eine größtmögliche Schonung der Zivilbevölkerung. Für das Gros der amerikanischen Analysten scheint es nahezu ausgeschlossen zu sein, dass es Israel gelingen könnte, alle drei Ziele gleichzeitig zu erreichen. Es werde deshalb, so die Schlussfolgerung, dem israelischen Generalstab wie auch der politischen Führung nicht erspart bleiben, schmerzhafte Entscheidungen über die Prioritäten zu fällen.


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