Politik

Das Desaster für Israels Geheimdienste

Lesezeit: 4 min
18.10.2023 11:05  Aktualisiert: 18.10.2023 11:05
Mehr als eine Woche nach dem tödlichen Angriff der Hamas auf Israel stellt sich immer drängender eine Frage: Wie konnte es passieren, dass Israels vielgerühmte Nachrichtendienste offenbar von den umfangreichen Planungen der Hamas nichts mitbekommen hatten?
Das Desaster für Israels Geheimdienste
Die Kassam-Brigaden der Hamas bei einer Übung. Warum haben Israels Dienste die Angriffsvorbereitungen nicht bemerkt? (Foto: dpa)

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Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat inzwischen angekündigt, nach dem Ende des Krieges mit Hamas genau zu untersuchen, wie es zu dem nachrichtendienstlichen Desasters Israel kommen konnte. Doch Sicherheits-Experten haben jetzt schon damit begonnen, die Frage zu untersuchen, wie Israel an jenem Samstagmorgen, des 7. Oktobers praktisch im Schlaf überrascht werden konnte. Dabei drängt sich ein Verdacht auf, der noch viel beunruhigender ist, als eine mögliche Serie von Pannen bei den israelischen Diensten: dass nämlich Israel Opfer einer ausgeklügelten Operation der Gegenspionage der Hamas wurde.

Der in Washington DC ansässige auf Sicherheitsfragen spezialisierte Think Tank Center for Strategic and International Studies (CSIS) stellt in einer ersten Untersuchung fest, dass an dem Angriff der Hamas, der eine Kombination von Raketenangriffen und einer gleichzeitigen Invasion über Land, Luft und Wasser war, mehrere Hundert, wenn nicht weit über tausend Hamas-Angehörige beteiligt waren. Gleichzeitig gebe es ernstzunehmende Hinweise, dass der Iran, der die Hamas auf allen Gebieten seit Jahren unterstützt, in die Planung eingebunden gewesen sein soll. So soll es kurz vor dem Angriff auf Israel mehrere Treffen zwischen Vertretern des Iran und der Hamas in Beirut gegeben haben, um letzte Einzelheiten zu klären, das berichtet das Wall Street Journal mit Verweis auf Quellen in den Nachrichtendiensten.

Die drei Dienste

In einem solchen Fall – und vieles spricht dafür – hätten in Israel mindestens drei Dienste etwas mitbekommen müssen: Das ist zum einen der Shin Bet. Der Shin Bet, zu Deutsch Sicherheitsdienst, ist der Inlandsdienst Israels. Er ist zuständig für die Terrorismusabwehr und für das Sammeln aller Erkenntnisse - auch aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen. Der Inlandsdienst – es wird vermutet, dass er mindestens 5000 Mitarbeiter hat – hätte also in jedem Fall Anzeichen bemerken müssen, dass sich etwas im Gazastreifen zusammenbraut, erst recht, wenn an den Anschlägen so viele beteiligt waren.

Zum anderen sind wohl aber auch dem zweiten Dienst, dem legendären Mossad, Versäumnisse anzulasten. Der Mossad (Institution für Aufklärung und besondere Aufgaben) ist zuständig für die Auslandsspionage Israels. Der Mossad hätte also wissen können, ja wissen müssen, was Teheran plant, da der Iran als eingeschworener Feind Israels zu den Hauptzielgebieten des Mossad gehört. Auch dass der Auslandsdienst nichts von den Treffen in Beirut erfahren hat, sollte zu denken geben.

Als dritter Dienst wäre – wenn auch in geringerem Maße – der Aman zu seiner Rolle zu befragen. Der Aman ist der Aufklärungsdienst der israelischen Armee. Er ist zuständig für die Sicherheitsanalysen, ist aber bei der Auswertung und Erstellung der Analysen meist auf das nachrichtendienstliche Rohmaterial von Shin Bet und Mossad angewiesen.

Es scheint heute im Nachhinein kaum vorstellbar, dass offenkundig über mindestens mehrere Monate hinweg die Hamas-Führung ihren Schlag vorbereiten konnte, sich dabei mit tausenden von Raketen eindecken konnte, ohne dass einer der drei Dienste Israels etwas Genaues wusste. Zwar soll es allgemeine Warnungen über wachsende Spannungen im Gaza-Streifen gegeben haben, aber diese waren offenkundig so allgemein gehalten, dass die Politik und die Armeeführung damit wenig oder gar nichts anfangen konnte. Das CSIS vergleicht diese Art von allgemeiner Warnung, mit der Warnung, die damals der amerikanische Präsident George Bush wenige Wochen vor den Anschlägen am 11.September 2001 von der CIA erhalten hatte, dass nämlich Al-Qaida Terrorattentate auch in den USA selbst plane. Diese Art von Warnung, so das CSIS, ist so allgemein, dass die politische Führung eines Landes kaum zielgerichtet darauf reagieren könne.

Die Grenzen der Sigint

Unbestritten ist, dass Israels Dienste, die darüber hinaus auch von Partnern wie der amerikanischen NSA (National Security Agency) unterstützt werden, über ausgezeichnete Möglichkeiten der technischen Spionage verfügen. Diese Art von Aufklärung, die in Fachkreisen Sigint (Signal Intelligence) genannt wird, bezeichnet die Informationen, die ein Dienst über Satelliten, Funkaufklärung oder sonstiger Abhörmaßnahmen gewinnt. Das Problem dabei: Israel sah auf diese Weise fast alles – und wusste trotzdem so gut wie nichts.

So war zwar auf unzähligen Satellitenbildern zu sehen, dass die Kassam-Brigaden, das ist der militärische Teil der Hamas, die Erstürmung israelischer Siedlungen probte. Doch das war schon seit Jahren zu sehen, weil es fester Bestandteil der militärischen Ausbildung der Kassam-Brigaden war. Gleichzeitig hat es aber Hamas offenbar sehr geschickt verstanden, seine Kommunikation vor den Augen und Ohren der israelischen Sigint verborgen zu halten. Es gilt dabei als sehr wahrscheinlich, dass die militärische Kommandoebene der Hamas ihre Kommunikation komplett analog organisiert hatte: Es wurden keine Telefonate geführt, keine Mails geschrieben. Treffen fanden nur dann statt, wenn keiner der Beteiligten ein Mobiltelefon dabei hatte; Nachrichten wurden auf mechanischen Schreibmaschinen geschrieben und von vertrauenswürdigen Kurieren von Hand zu Hand weitergegeben. Dies würde erklären, wieso Israels hochgerüstete, Unsummen verschlingende technische Überwachung komplett ins Leere lief.

Was aber Sicherheitsexperten noch mehr beunruhigt, ist im Falle des Hamas-Angriffs das offenkundige Fehlen irgendwelcher brauchbarer Humint. Unter Humint (Human Intelligence) versteht man die Informationsgewinnung durch Agenten. Sowohl der Shin Bet als auch der Mossad waren eigentlich dafür stets gerühmt worden, über ausgezeichnete Quellen vor Ort zu verfügen. Wie konnte es dann passieren, so fragen sich nun Sicherheitsexperten, dass über Monate hinweg weder aus dem Gaza-Streifen noch dem Iran brauchbare Humint kam. Oder Humint zwar kam, diese aber in Israel falsch gedeutet wurde.

Beunruhigende Fragen

Letzteres passiert in der Welt der Nachrichtendienste immer wieder: dass die unzähligen Informationen, die in der Zentrale eines Dienstes eingehen, nicht richtig ausgewertet und interpretiert werden. Doch diese Variante erscheint im Nachhinein als eher unwahrscheinlich. Denn jede Information über konkrete Planungen für einen direkten militärischen Angriff auf Israel, hätte sofort die höchste Alarmstufe in Israel ausgelöst. Wahrscheinlicher ist, dass konkrete Informationen schlicht nicht vorlagen – und damit stellen sich für Israels Sicherheitsstrategen sehr ernste Fragen. Die erste Frage: Haben die Agenten, die Israel im Gaza-Streifen und im Iran hat, überhaupt Zugang zu den politischen und militärischen Entscheidungsprozessen? Oder aber, und das ist die mindestens ebenso beunruhigende Frage, die sich Israel jetzt stellen muss, hatte die Gegenseite – also Hamas und der Iran – die israelischen Agenten längst identifiziert? Dann aber muss Israel sehr schnell die Ursachen dafür finden, wie es der Gegenspionage von Hamas und Teheran gelingen konnte, das israelische Agentennetz zu unterwandern, ohne dass Israel etwas mitbekommen hatte.


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