Unternehmen

Michelin-Sterne: Was ein anonymer Test-Esser verrät

In Österreich freut sich die gesamte Hotellerie und Gastronomie, dass es neuerdings wieder einen Guide Michelin gibt. Nach 15-jähriger Unterbrechung werden auch im Nachbarland - wie in 41 anderen Ländern der Welt - Spitzen-Restaurants von so genannten Inspektoren unter die Lupe genommen. Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten haben mit einem Testesser gesprochen, der eigentlich ein Phantom ist.
24.12.2023 09:31
Aktualisiert: 24.12.2023 09:31
Lesezeit: 3 min
Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..
Michelin-Sterne: Was ein anonymer Test-Esser verrät
Highlight für Feinschmecker: Immer mehr Chefs in Deutschland bewerben sich um Michelin-Sterne - Raffinesse ist Voraussetzung (Foto: dpa) Foto: Arne Dedert

Für die „Süddeutsche Zeitung“ war dies indessen eine eher beunruhigende Meldung. Sie hakte sorgenvoll nach, „wer denn nun für die Gastro-Sterne bezahlt“. Anders als in Deutschland, das seit 1964 durchgehend vom Namenspatron, dem französischen Reifenhersteller Michelin, alimentiert wird, müssen die Bürger in Österreich nicht wenige ihrer Steuertaler springen lassen, was „nicht allen schmeckt“, heißt es dort. Manche sehen sogar den Nationalstolz angekratzt, im Land des Wiener Schnitzels, des Kaiserschmarrns und der Paradeiser, andernorts nur profan als Tomaten bekannt.

Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten haben sich vergewissert, dass zu mindestens in Deutschland alles noch mit rechten Dingen zugeht beim Wettbewerb um die meisten Sterne. Per Video-Konferenz waren wir diese Woche mit Ralf Flinkenhügel verabredet - denn gemeinsam zu Tisch, das hätte bereits gegen die Etikette verstoßen. Der 58-jährige Testesser ist ein eher unscheinbarer Mann, was ihn als Beschreibung freuen dürfte. In Nordrhein-Westfalen geboren ist der Feinschmecker seit nunmehr 30 Berufsjahren als Inspektor für die (erstmals 1910 als Buch verlegte) Ausgabe des Michelin-Führers unterwegs.

Und doch ist er dabei, genau genommen, ein Phantom geblieben. „Ich reserviere einen Tisch grundsätzlich nur unter falschen Namen, zahle immer nur bar“, erzählt Flinkenhügel, und von ihm sei „öffentlich auch kein Foto im Umlauf“. Mehr als 5000 Essen hat er sich während seiner Karriere munden lassen und sensorisch analysiert. Ein Erfahrungsschatz, um den ihn wahrlich viele Leckermäuler beneiden.

Traumjob Restaurant-Inspektor

Als Inspektor für Michelin zu arbeiten, ist ein begehrter Job, Stellen dieser festangestellten Kritiker werden nur selten neu besetzt. Wie viele es gibt im Lande, auch das ist strenges Betriebsgeheimnis. Die Direktion, wie Flinkenhügel wie Unternehmensführung des Reifenherstellers nennt, ist auch nach fast 125 Jahren noch pedantisch darauf bedacht, die geniale Marketing-Idee der Brüder Michelin zu hüten. Auch Flinkenhügel hat dafür seine ehrgeizigen Jugend-Pläne, selbst Hotel-Direktor zu werden, hintenangestellt, als er 1993 „eher zufällig angeworben und von einem Freund lecker zum Dinner eingeladen“ wurde. Der war Zeit Lebens zwischen Flensburg und Passau auch inkognito unterwegs, was in seinem Umfeld wohl niemand geahnt hatte.

Fehler unterlaufen den besten Chefs

Geschockt hat Flinkenhügel bei seinen abendlichen kulinarischen Streifzügen nicht viel: „Einmal vielleicht da habe ich zur Vorspeise eine Tomatenessenz bestellt, Lammragout zum Hauptgang und ein Joghurt-Mousse mit Himbeeren zum Dessert, als ich erwartungsfroh an der Nachspeise naschte, handelte es sich um eine Fischmousse. Fehler passieren halt immer mal wieder, auch den besten Chefs. Wobei schlecht war der Fisch gar nicht wirklich, sondern das Geschmackserlebnis nur leider etwas unerwartet.“

Die Köche müssen da nichts befürchten. Die Regeln besagen, dass bei der Sternevergabe nicht lediglich ein Essen entscheidet. „Unsere Testesser kommen wieder und fällen dann irgendwann ihr Urteil. Mittlerweile reisen auch Inspektoren aus aller Welt nach Deutschland, um die hiesigen Kollegen zu unterstützen, und zu meiner persönlichen Freude natürlich auch umgekehrt. Ein Stern bedeutet: einen Stopp wert für Küche mit Finesse. Zwei Sterne werden für Spitzenkreationen vergeben, drei Sterne sind des unnachahmlichen Küchenchefs wegen sogar der langen Anreise würdig. Hierzulande oder auch in China.“

„Und die Bewertungen fallen seit 20 Jahren zunehmend besser aus“, wie Flinkenhügel findet. Er verweist auf die Restaurant-Szene Berlins. Vor 30 Jahren war dies noch kulinarisches Brachland, „heute sticht Berlin hervor“. Die Stadt hat sage und schreibe 17 Lokalitäten mit einem Stern, fünf Zwei-Sterne-Restaurants und sogar inzwischen ein Drei-Sterne-Etablissement. „Damals und heute, da liegen Welten zwischen.“ Nicht nur die seit Jahrzehnten unter Feinschmeckern als Pilgerort geschätzte „Traube Tonbach“ in Baiersbronn, jüngst wieder aufgebaut und neu eröffnet nach einer Feuerbrunst, lockt internationale Besucher an, sondern auch das „Coda“ in Berlin, das erste Zwei-Sterne-Restaurant, in dem ausschließlich Desserts aufgetischt werden.

Michelin immer wieder überrascht von Kreativität junger Chefs

Die Michelin-Redaktion ist generell überrascht, heißt es, „dass immer mehr junge Köche und neue ambitionierte Restaurant-Betreiber gezielt auf sich aufmerksam machen“ bundesweit. „Wir schauen uns das an“, verspricht Flinkenhügel. „Die Qualität der Produkte ist wichtig, handwerkliches Können natürlich gefragt, ein angenehmes Ambiente im Lokal, freundlicher Service und Hygiene. Das man sich wohl fühlt als Gast.“ Der Berufs-Gourmet konstatiert einen Kulturwandel, zu dem wohl tatsächlich Fernseh-Sendungen wie „Der Restaurantretter“ mit Sternekoch Christian Rach oder „Kitchen Impossible“ mit Tim Raue und Tim Mälzer beigetragen haben. „Das Publikum isst inspiriert und steuert die prämierten Restaurants im Lande an, ganz so, wie es sich die Michelins ursprünglich einmal gedacht hatten, um ihre Reifen zu verkaufen.“ Die Abnutzung der Pneus folgt offenbar wie die Liebe dem Magen.

Und so könnten es immer mehr Entdeckungen geben, jedes Jahr, glaubt Flinkenhügel, ganz der Connaisseur. Es muss keineswegs immer die Molekular-Küche wie in Barcelona oder aus Kopenhagen sein. „Oft sind es die einfachen Sachen, die besonders gut schmecken und deshalb besser bewertet werden“, beteuert der Restaurant-Experte und macht der gesamten deutschen Gastronomie-Branche Mut. Michelin sei mit der Zeit gegangen und alles andere als konservativ. „Und Neuentdeckungen werden plötzlich auch viel schneller wahrgenommen, seitdem im Hause die Devise digital first gilt.“ Er empfiehlt Geschäftsreisenden die App herunterzuladen und rechtzeitig zu buchen. Drive and dine!

Selbst bei vegetarischen Speisen habe es ein Umdenken in der deutschen Redaktion gegeben. „Ich hatte jüngst in Baden-Württemberg ein Abendessen mit drei Sorten Kohlrabi in unterschiedlichen Texturen in einem Petersiliensud oder, besser gesagt, einem Fond. Eine Kombination, die ich noch nie zuvor gekostet hatte. Chapeau!“ Und im Trend. Man darf gespannt sein, der nächste Michelin-Führer erscheint Frühjahr 2024 – die 60-jährige Jubiläumsausgabe.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Technologie
Technologie EVE Energy präsentiert „OMNICELL“ auf der IAA Mobility 2025

Auf der diesjährigen IAA Mobility in München rückt EVE Energy die Plattform „OMNICELL“ in den Mittelpunkt. Die großformatige...

 

avtor1
Peter Schubert

Peter Schubert ist stellv. Chefredakteur und schreibt seit November 2023 bei den DWN über Politik, Wirtschaft und Immobilienthemen. Er hat in Berlin Publizistik, Amerikanistik und Rechtswissenschaften an der Freien Universität studiert, war lange Jahre im Axel-Springer-Verlag bei „Berliner Morgenpost“, „Die Welt“, „Welt am Sonntag“ sowie „Welt Kompakt“ tätig. 

Als Autor mit dem Konrad-Adenauer-Journalistenpreis ausgezeichnet und von der Bundes-Architektenkammer für seine Berichterstattung über den Hauptstadtbau prämiert, ist er als Mitbegründer des Netzwerks Recherche und der Gesellschaft Hackesche Höfe (und Herausgeber von Architekturbüchern) hervorgetreten. In den zurückliegenden Jahren berichtete er als USA-Korrespondent aus Los Angeles in Kalifornien und war in der Schweiz als Projektentwickler tätig.

DWN
Politik
Politik Finanzloch im Verkehrsetat: Länder warnen vor Baustopp
18.09.2025

Milliarden für Straßen und Schienen sind zwar eingeplant, doch sie reichen nicht aus. Länder und Bauindustrie schlagen Alarm, weil...

DWN
Politik
Politik Suwalki-Korridor: Europas Achillesferse zwischen NATO und Russland
18.09.2025

Der Suwalki-Korridor gilt als Achillesferse der NATO. Moskau und Minsk üben die Einnahme des Gebiets – Polen warnt, Deutschland blickt...

DWN
Finanzen
Finanzen SAP-Aktie: Milliarden gegen US-Dominanz
18.09.2025

SAP-Vorstand Thomas Saueressig gibt den Ton an: Mit einer Milliardenoffensive will er Europas digitale Selbstständigkeit sichern – von...

DWN
Politik
Politik Frankreich-Proteste: Hunderttausende gegen Sparpläne und Regierung
18.09.2025

Hunderttausende Menschen ziehen durch Frankreichs Straßen, Schulen und Bahnen stehen still. Die Wut über Macrons Personalentscheidungen...

DWN
Politik
Politik Draghi warnt: EU verliert geopolitische Bedeutung – welcher Reformplan für Europa dringend nötig ist
18.09.2025

Mario Draghi rechnet ab: Die EU habe ihre geopolitische Bedeutung überschätzt und sei heute schlecht gerüstet für die globalen...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Amazon fährt Investitionen in Deutschland hoch
18.09.2025

Amazon baut seine Dominanz in Deutschland massiv aus. Milliarden fließen in neue Standorte, Cloud-Infrastruktur und Künstliche...

DWN
Politik
Politik USA liefern wieder Waffen mit europäischem Geld
18.09.2025

Die USA nehmen Waffenlieferungen an die Ukraine wieder auf – doch diesmal zahlt Europa. Für Deutschland könnte das teuer und politisch...

DWN
Immobilien
Immobilien Immobilienmarkt Deutschland: Käufer kehren zurück, Zinsen steigen
18.09.2025

Der deutsche Immobilienmarkt lebt wieder auf. Mehr Käufer greifen zu, doch steigende Bauzinsen bremsen die Euphorie. Während die...