Weltwirtschaft

Die neue Industriepolitik und ihre Kritiker

Lesezeit: 7 min
26.11.2023 10:35  Aktualisiert: 26.11.2023 10:35
Die Industriepolitik in den USA und anderen hochentwickelten Industrieländern wird immer bedeutender. Dabei sind besonders drei Gesetze ausschlaggebend: CHIPS and Science Act, der Inflation Reduction Act (IRA) und der Bipartisan Infrastructure Act. Wie muss die international Zusammenarbeit aussehen um eine erfolgreich Industriepolitik zu gewährleisten?
Die neue Industriepolitik und ihre Kritiker
Die Industriepolitik wird von den Ökonomen gewöhnlich als kostspielige Form des Protektionismus kritisiert, die zu Marktverzerrungen führt und die Allokation knapper Ressourcen für die effizientesten und profitabelsten Verwendungszwecke untergräbt. (Foto: dpa)
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Die Industriepolitik hat in den USA und anderen hochentwickelten Industrieländern auf der nationalen Agenda steil an Bedeutung gewonnen. Dies stellt eine radikale Abkehr von der jüngsten Wirtschaftsgeschichte dar und hat eine ältere Debatte wiederbelebt, an der wir beide vor mehr als 30 Jahren beteiligt waren.

In den USA haben der CHIPS and Science Act, der Inflation Reduction Act (IRA) und der Bipartisan Infrastructure Act bedeutende nationale Sicherheits- und Klimaziele aufgestellt. Jedes dieser Gesetze nutzt Subventionen, Steuergutschriften, Kreditbürgschaften und andere gängige industriepolitische Instrumente, um Forschung, Produktion und Beschäftigung durch den privaten Sektor in Schlüsselbereichen der Wirtschaft zu fördern.

Diese Instrumente werden heute unter ganz anderen Bedingungen eingesetzt als vor 30 Jahren. In der Vergangenheit war nationale Autarkie – oft mit merkantilistischen Zielen – das Ziel der Industriepolitik. Infolge der Verbreitung komplexer globaler Lieferketten und des Aufkommens Chinas als formidabler geopolitischer und wirtschaftlicher Konkurrent ist nationale Souveränität – verstanden als vertikal integrierte heimische Kapazität im inländischen Eigentum stehender Unternehmen in ausgewählten Sektoren – schlicht unerreichbar.

Stattdessen muss die neue Industriepolitik für das 21. Jahrhundert den neuen globalen Realitäten Rechnung tragen, indem sie sich auf zwei Ziele konzentriert: die Gewährleistung einer ausreichenden, dem Wettbewerb unterliegenden Versorgung mit den für wirtschaftlichen Wohlstand und Sicherheit benötigten Produkten und Technologien, und die Sicherung der eigenen Position bei der Entwicklung und Einführung fortschrittlicher Technologien, die sowohl für die nationale Sicherheit als auch für den Übergang zu einer kohlenstoffneutralen Wirtschaft als wesentlich erachtet werden. Da ein vollständig vertikal integriertes nationales Versorgungssystem unrealistisch ist, erfordern diese Ziele, dass die USA und andere hochentwickelte Volkswirtschaften durch Einsatz der Industriepolitik wichtige Einflusspositionen auf den Märkten für bestimmte Produkte und Technologien von strategischer wirtschaftlicher und geopolitischer Bedeutung besetzen.

Wofür Industriepolitik gedacht ist

Die Industriepolitik wird von den Ökonomen gewöhnlich als kostspielige Form des Protektionismus kritisiert, die zu Marktverzerrungen führt und die Allokation knapper Ressourcen für die effizientesten und profitabelsten Verwendungszwecke untergräbt. Aber der Kontext ist wichtig. Beim Vorliegen von Externalitäten kann die Industriepolitik marktkorrigierend statt marktverzerrend sein. Und in einem Umfeld konzentrierter globaler Marktmacht und schnellen technologischen Wandels kann die Industriepolitik in der Summe positive Ergebnisse hervorbringen, indem sie sowohl die technologische Innovation und den Einsatz neuer Technologien beschleunigt als auch eine globale Ausweitung von Wettbewerb und Märkten bewirkt.

Industriepolitik ist protektionistisch oder ein Nullsummenspiel, wenn sie darauf zielt, Handel und grenzüberschreitende Investitionen zu beschränken, um heimische Produzenten – „nationale Champions“ – vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. Sie ist präferenziell statt protektionistisch, wenn sie die heimische Produktion gegenüber der ausländischen Produktion begünstigt. Es ist an dieser Stelle wichtig, zwischen heimisch im Sinne von Standort und heimisch im Sinne von Unternehmenseigentum zu unterscheiden. Von der US-Industriepolitik profitieren sowohl inländische als auch ausländische Unternehmen, die in den USA investieren und produzieren. Die Anreize des CHIPS Act und des IRA beispielsweise stehen auch ausländischen Unternehmen offen, die ihre Produktion in den USA ansiedeln, vorausgesetzt, sie sind nicht als „bedenkliche ausländische Einrichtungen“ (foreign entities of concern) eingestuft (d. h. gehören oder stehen unter der Kontrolle der chinesischen, russischen, nordkoreanischen oder iranischen Regierung).

Angesichts negativer Externalitäten spiegeln Märkte die wirtschaftlichen Kosten und den wirtschaftlichen Nutzen privater Handlungen nicht komplett wider. Allein durch Marklogik und Geschäftsrentabilität bestimmte Entscheidungen berücksichtigen weder nationale Sicherheitsbedenken noch die wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitsbezogenen Kosten des Klimawandels. Man kann von privaten Unternehmen nicht erwarten, dass sie öffentliche Güter bereitstellen oder negative Externalitäten wie den Planeten aufheizende Treibhausgasemissionen bekämpfen. Diese Aufgaben fallen zu Recht den Regierungen zu, die starke externalitätsbedingte Gründe für eine Industriepolitik sowohl bei Halbleitern und anderen grundlegenden Dual-Use-Technologien als auch bei grünen Technologien, Produkten und Dienstleistungen haben.

Wir sind der Ansicht, dass die Industriepolitik zwei wesentlichen Zwecken dienen kann: Erstens kann sie Externalitäten, die die nationale Sicherheit und den Klimawandel betreffen, in Marktentscheidungen einbinden, und zweitens kann sie den Marktwettbewerb und die Innovation stärken, um eine resiliente, sichere und nachhaltige globale Versorgung mit kritischen Produkten und Technologien zu fördern. Tatsächlich bedarf es seitens der hochentwickelten Volkswirtschaften zunehmend der Industriepolitik, um Bemühungen Chinas und anderer Länder zu begegnen, auf den globalen Märkten in kritischen Sektoren eine marktbeherrschende Stellung zu erlangen.

Abwägung der Vorteile

Die Industriepolitik kann die Märkte ausweiten statt ihnen zu schaden und dabei zugleich den Handel und eine resiliente, sichere und nachhaltige Versorgung fördern. Sie tut dies, indem sie Wettbewerb, Forschung und Innovation in ausgewählten Sektoren fördert, in denen Fortschritte sonst verzögert oder ganz ausbleiben würden.

So war es etwa die EU-Industriepolitik, die die Entwicklung von Airbus vorantrieb und damit Wettbewerb und Innovation auf einem globalen zivilen Flugzeugmarkt anregte, der lange von einem einzigen US-Anbieter (Boeing) dominiert wurde – welcher selbst in erheblichem Umfang von industriepolitischer Unterstützung profitierte. Genauso lassen sich in der Biotech-Branche viele Beispiele für eine markterweiternde und marktschaffende Industriepolitik finden. In den USA erhielt die Branche sowohl durch Bereitstellung umfangreicher öffentlicher Mittel für Forschung und Entwicklung als auch durch das Fehlen einer Preisregulierung für Medikamente großzügige Unterstützung. Dieser Policy-Mix schuf hat einen hochprofitablen Markt für Biotech-Produkte und machte die USA zum Zentrum der weltweiten medizinischen und pharmazeutischen Innovation.

Diese Art markterweiternder Industriepolitik sollte einem Land Einfluss und eine starke Stellung bei der Entwicklung und Einführung fortschrittlicher Technologien verschaffen. Doch um Erfolg zu haben, erfordert eine derartige Politik die angemessene Finanzierung der wissenschaftlichen Grundlagenforschung, der angewandten Forschung und Entwicklung und der Ausbildung von Fachkräften.

Sowohl der CHIPS Act als auch der IRA bieten eine derartige Unterstützung. Ein häufig übersehener Aspekt des CHIPS Act ist, dass etwa 70 % der durch ihn innerhalb des nächsten Jahrzehnts bereitgestellten 200 Milliarden Dollar speziell für Forschung, Ausbildung und die wirtschaftliche Nutzbarmachung von Spitzentechnologien vorgesehen sind. Das betrifft nicht nur die Halbleiterbranche, sondern auch anderen Dual-Use-Technologien wie 5G, Quantencomputer, saubere Energie und künstliche Intelligenz.

Die neue US-Industriepolitik zeigt auch, wie internationale Zusammenarbeit bei der Entwicklung fortschrittlicher Technologien die Befürchtungen dämpfen kann, dass derartige Strategien per se protektionistisch sind. Zum Beispiel umfasst der CHIPS Act die Finanzierung des kürzlich angekündigten Microelectronics Commons, eines Netzwerks von Innovationszentren, das Forscher aus der Wissenschaft, Regierungslaboren und der Wirtschaft zusammenführt, um die mikroelektronische Forschung, Innovation, Prototypisierung und letztliche wirtschaftliche Nutzbarmachung voranzutreiben. Entscheidend ist, dass jedes nicht auf der „Bedenkenliste“ stehende ausländische Unternehmen daran teilnehmen kann.

Darüber hinaus haben die Verfasser des CHIPS Act verstanden, dass für eine wettbewerbsgestützte, resiliente, sichere und nachhaltige Versorgung nicht nur Investitionen in physisches Kapital und Wissenskapital, sondern auch in Menschen erforderlich sind. Wenn die Industriepolitik ihre angemessene Rolle – die Ausweitung von Marktwettbewerb und Innovation – spielen soll, muss sie für eine entsprechende Schulung der Erwerbsbevölkerung sorgen. TSMC (Taiwan Semiconductor Manufacturing Company), der weltweit führende Hersteller hochmoderner Halbleiterchips, warnte kürzlich, dass ein Mangel an qualifizierten Fachkräften die Eröffnung seiner neuen Produktionsanlage in Arizona verzögere und die Kosten deutlich in die Höhe treibe. Die Semiconductor Industry Association prognostiziert, dass im kommenden Jahrzehnt aufgrund des Fachkräftemangels fast die Hälfte der Positionen für Techniker, Informatiker und Ingenieure unbesetzt bleiben könnte.

Um diesem Defizit zu begegnen, wurde die US National Science Foundation, die seit langem Respekt für ihre leistungsorientierten Entscheidungen genießt, als Verwalterin der CHIPS-Mittel zur Personalentwicklung bestimmt. So verkündete die NSF kürzlich eine öffentlich-private Partnerschaft im Umfang von 45 Millionen Dollar, an der auch ausländische Unternehmen (Ericsson und Samsung) beteiligt sind, um wettbewerbsorientierte Forschungs- und Bildungspreise zu vergeben.

Das globale Bild

Wenn wir sagen, dass die Industriepolitik den Wettbewerb fördern könne, meinen wir damit nicht nur im Inland. Die Wirkung ist global. So wie Airbus ein Produkt europäischer Industriepolitik ist, ist TSMC ein Produkt der Wirtschaftsstrategie Taiwans. Diese Beispiele zeigen, dass die Bemühungen eines Staates, in gezielt ausgewählten Sektoren das Angebot zu erhöhen, Innovationen zu fördern und starke nationale Unternehmen aufzubauen, häufig andere Länder veranlassen, eigene Maßnahmen zu entwickeln, um „Chancengleichheit zu schaffen“.

Tatsächlich sind die auf Halbleiter und Klimatechnologien abzielenden industriepolitischen Maßnahmen der USA und der EU selbst eine Reaktion auf Chinas staatlich geförderte Bemühungen, Marktmacht und geopolitische Macht in strategischen Sektoren zu erreichen. Die OPEC veranschaulicht die Risiken und Kosten der globalen Marktmacht einer Gruppe von Ländern über einen Schlüsselrohstoff wie Öl. Halbleiter, kritische Mineralien und Batterien – alles Branchen, in denen China eine marktbeherrschende Stellung anstrebt – sind kritische Eingangsleistungen für digitale und grüne Branchen in den USA und anderen hochentwickelten Volkswirtschaften. Die USA und ihre Verbündeten tun recht daran, mit eigenen Maßnahmen zu reagieren, um Wettbewerb, Resilienz und Sicherheit der globalen Märkte für diese Schlüsselprodukte und -technologien aufrechtzuerhalten.

Wie es derzeit aussieht, haben Marktkräfte und private Entscheidungen die US-Wirtschaft in eine gefährliche Abhängigkeit von hochentwickelten Halbleitern geführt, die von einem einzigen Unternehmen (TSMC) an einem einzigen, mit geopolitischen Risiken behafteten Ort (Taiwan) produziert werden. Nicht weniger abhängig – von China – sind die USA und ihre europäischen Verbündeten zudem bei Batterien sowie bei den wichtigen Mineralien und seltenen Erden, die in Windturbinen, Solarmodulen, den Batterien von Elektrofahrzeugen und vielem mehr Verwendung finden.

Die chinesische Marktmacht in diesen Sektoren stellt eine erhebliche Bedrohung für die Resilienz und Sicherheit der Lieferketten sowie für die nationale und wirtschaftliche Sicherheit der USA und Europas dar. Anfang Juli verkündete das chinesische Handelsministerium im Namen des Schutzes seiner eigenen „nationalen Sicherheit und Interessen“ neue Exportbeschränkungen für Germanium und Gallium – Mineralien, die in Halbleitern und den Batterien von Elektrofahrzeugen verwendet werden. Als führender globaler Produzent beider Metalle (darunter von 94 % des weltweiten Galliums) hat China damit seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, kritische Lieferungen in die USA und Europa zu stören.

Steuerung der Kosten und Risiken

Während es starke wirtschaftliche und geopolitische Argumente für eine markterweiternde Industriepolitik gibt, birgt diese Gefahren, denen es Rechnung zu tragen gilt. Der Nationale Sicherheitsberater der USA Jake Sullivan mag der Ansicht sein, dass die Sache so einfach sei wie der Bau eines „hohen Zauns“ um einen „kleinen Hof“. Doch sagt eine griffige Metapher nichts darüber aus, welche Technologien und Sektoren innerhalb des Hofes anzusiedeln sind, wie sich der Hof klein halten lässt oder wer über derartige Fragen entscheiden wird.

Die Probleme der politischen Einflussnahme durch Sonderinteressen und Vetternwirtschaft sind real und müssen anerkannt werden. Besonders hoch ist das Risiko in den USA, wo die Ausgaben der Unternehmen für Lobbyarbeit in 2022 über 4 Milliarden Dollar betrugen – gegenüber rund 1,5 Milliarden Dollar im Jahr 2000. Da der Oberste Gerichtshof politische Spenden in unbegrenzter Höhe von Firmen und wohlhabenden Einzelpersonen abgesegnet hat, sind der Einflussnahme kaum noch Grenzen gesetzt. Zugleich haben Jahre des Outsourcings und des „Aushungerns der Bestie“ aufseiten der Regierung zu einem Mangel an Verwaltungskapazitäten für die Gestaltung und Umsetzung ihrer Industriepolitik geführt. Daher muss sie diese Muskeln nun von Grund auf neu aufbauen.

Dabei sollte die US-Regierung einen öffentlich-privaten Partnerschaftsansatz für Investitionen in Schlüsselsektoren in Betracht ziehen, um die unvergleichlichen Stärken der US-Finanzmärkte nutzen zu können. Speziell könnte ein von einem politisch abgeschirmten professionellen Managementteam verwalteter Investitionsfonds der US-Bundesregierung die Zuteilung industriepolitischer Subventionen zwischen konkurrierenden Unternehmen und Technologien überwachen.

Viele andere Länder, die im erheblichen Umfang Industriepolitik betreiben, haben bereits Staatsfonds eingerichtet, und einige US-Bundesstaaten, darunter Alaska, New Mexico und Oregon, haben ebenfalls Mittel für verschiedene Zwecke beiseitegelegt. Als Eigentümerin des neuen bundeseigenen Investitionsfonds wäre die US-Regierung sowohl an den Gewinnen als auch an den Verlusten ihres Portfolios beteiligt. Dies wäre eine willkommene Abkehr vom derzeitigen Ansatz, bei dem die Regierung keinen Anteil an den von privaten Unternehmen oder Investoren erzielten, aus öffentlichen Subventionen, Steuergutschriften und anderen industriepolitischen Maßnahmen des Bundes resultierenden Erträgen hat.

Als Partner, der die Mittel bereitstellt, ist es nur vernünftig, dass die Regierung – und damit das amerikanische Volk – an einigen der Vorteile beteiligt sein sollte. Dies würde zusätzliche Mittel freisetzen, um Wettbewerb, Innovation und Resilienz in der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts zu fördern.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2023.

www.project-syndicate.org

***

Laura Tyson war Vorsitzende des wirtschaftlichen Beraterstabs von US-Präsident Bill Clinton und ist Professorin an der Haas School of Business der University of California in Berkeley sowie Mitglied des Beirats der Angeleno Group. John Zysman ist Professor emeritus für Politologie an der University of California in Berkeley und Mitgründer des Berkeley Roundtable on the International Economy.


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