Nichts besitzen — und trotzdem glücklich sein?
Seit seiner Gründung im Jahr 1971 ist das World Economic Forum (WEF) Gegenstand antikapitalistischer und verschwörungstheoretischer Polemik. Nicht ganz ohne Grund: In diversen Publikationen und Videos zeichnet das Forum das Bild einer Welt, das nicht jedem gefallen dürfte. Aufsehen erregte etwa die Ankündigung „Ihr werdet nichts besitzen, aber glücklich sein“, eine Prognose über Besitzverhältnisse im Jahr 2030.
Dabei sind diese Prognosen und der Umgang mit ihnen auf dem Forum stets diskutabel. Ob Great Reset, Young Global Leaders oder die allgemeinen Diskussionsrunden von Multistake- und Multishareholdern — in Davos versuchen die unterschiedlichen Teilnehmer, Antworten auf die drängendsten Fragen der globalen Ordnung zu finden. Bedenklich ist nicht unbedingt der Inhalt der Gespräche, sondern seine Redundanz, die sich vor allem in diesem Jahr offen zeigte.
Machtlos gegen die Mächteverschiebung
So kamen mit Anthony Blinken und Li Qiang zwei politische Schwergewichte zu dem Forum, die durchaus über drängende Fragen geopolitischer Spannungen hätten diskutieren können. Doch Qiang nutzte seine Redezeit lediglich, um die Wirtschaft Chinas in ein besonders positives Licht zu rücken. „Die chinesische Wirtschaft macht stetige Fortschritte und wird weiterhin starke Impulse für die Weltwirtschaft geben“, so Qiang. Über Taiwan verlor der Ministerpräsident kein Wort — und offensichtlich traute sich keiner der Anwesenden, ihn über das Schicksal des Inselstaates zu befragen.
Auch Wolodymyr Selenskyjs drängende Rede, in der er für mehr Unterstützung für die Ukraine warb, bekam nicht die gewünschte Resonanz. Vielmehr richtete sich die Aufmerksamkeit auf neue Player wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die mit einer Flut an Ausstellungen für Investitionen warben. Eindeutig scheint es, dass der Westen große Hoffnungen für das Erstarken Saudi-Arabiens hegt, sodass auch die Etablierung einer neuen Ordnung in der Levante vom Königshaus in Riad mitbestimmt werden dürfte.
So konstatierte Saudi-Arabiens Außenminister, Prinz Faisal bin Farhan, dass regionaler Frieden für Israel nur garantiert werden könne, wenn die Palästinenser einen eigenen Staat erhielten. Doch nicht nur Saudi-Arabiens, auch Irans Außenminister, Hossein Amir-Abdollahian, schien aus einer Position der Stärke heraus zu argumentieren. „Wir glauben, dass die amerikanische Seite genügend Willen hat, um das Atomabkommen mit dem Iran zu erreichen“, sagte er im Gespräch mit CNN.
Mehr Technologie und mehr Kapitalismus
Auf dem WEF 2024 schien es daher, als zöge sich der Westen schrittweise aus dem Weltgeschehen zurück. In Osteuropa und Asien gelegene westliche Bastionen Ukraine, Taiwan und Israel werden zunehmend an die lokalen Gravitationskräfte übergeben, nichts deutete darauf hin, dass westliche Vertreter einen entbehrungsreichen Konflikt an diesen Orten austragen wollten. Vielmehr schien die Hoffnung in technologischen Errungenschaften zu liegen, wie die große Begeisterung für den Beitrag Sam Altmans, CEO von OpenAI, darlegte.
Der Pionier der künstlichen Intelligenz sprach von den großen Chancen und zu erwartenden Disruptionen, die die K.I. mit sich brächte. Ursula von der Leyen rückte diese Prognose in eine geopolitische Perspektive: „Unsere künftige Wettbewerbsfähigkeit hängt von der Einführung von K.I. in unserem täglichen Geschäft ab, und Europa muss seine Leistung steigern und den Weg für einen verantwortungsvollen Einsatz von KI weisen. Das ist K.I., die die menschlichen Fähigkeiten erweitert, die Produktivität steigert und der Gesellschaft dient“, so die Präsidentin der Europäischen Kommission.
Auch die Rede von Argentiniens Präsident Javier Milei schlug große Wellen. Milei, der erst zaghaft auf die Bühne trat, wirbelte die anwesenden Eliten plötzlich gehörig auf. „Heute bin ich hier, um Ihnen zu sagen, dass die westliche Welt in Gefahr ist, und sie ist in Gefahr, weil diejenigen, die die Werte des Westens verteidigen sollen, von einer Weltvision vereinnahmt werden, die unaufhaltsam zum Sozialismus und damit zur Armut führt“, so Milei. Die Lösung liege laut dem selbsterklärten Anarcho-Kapitalisten in einer Befreiung der Märkte, die nachweislich immer zum ökonomischen Wachstum geführt habe.
Deutschlands Wirtschaft auf dem Rückzug?
Deutschland scheint im Kontext dieses sehr ungewöhnlichen Forums auf dem Rückzug zu sein. Mehr noch: Die Bundesrepublik droht, in einen absoluten Bedeutungsverlust zu schlittern. Noch im Jahr 2023 hatte Kanzler Scholz auf dem Forum geworben, „wer nachhaltig und rentabel in die Zukunft investieren will, ist in Deutschland und Europa richtig“, doch im Jahr 2024 blieb er der Veranstaltung fern. Stattdessen trat Robert Habeck in einem überschaubaren Veranstaltungsraum mit 83 Sitzplätzen auf. Dort forderte er eine tiefere Integration der EU, durch die der Kontinent letztlich gegenüber den USA und China wettbewerbsfähig bleiben sollte.
Laut Habeck müssten Subventionen getätigt werden, um neue Märkte zu schaffen, nicht aber, um anderer Länder Industrien zu stehlen. So brandmarkte er den Inflation Reduction Act der USA etwa als „schlechte Subvention“, die Investitionen in Deutschland und Europa verhindern würde. Zudem sei die Wirtschaft zu lange als neutrale Sphäre betrachtet worden. Das sei nun vorbei. „Jetzt müssen wir hart arbeiten“, so der Wirtschaftsminister. Zumindest mit dieser Behauptung dürfte er Recht behalten.
Das WEF 2024 zeigt, dass der Westen auf dem Rückzug ist, doch immer noch selbst bestimmen kann, wie er die Herausforderungen einer multipolaren Welt meistert. Dabei muss sich auch Deutschland festlegen, welche Rolle es in der Welt von morgen einnehmen möchte. Während von 4.700 CEOs bei einer Befragung von PWC nur noch 15 Prozent angeben, dass Deutschland für ihr eigenes Unternehmenswachstum eine bedeutende Rolle spielt, bereitet die Volksrepublik China Autoverkäufe im großen Stil in der EU vor. Um also dem totalen Bedeutungsverlust zu entgehen, wäre es durchaus sinnvoll, auch „schlechte Subventionen“ zu tätigen, um Deutschlands Markt zu schützen — und ebendiesem Markt auch die Freiheiten einzuräumen, die ihn einst so groß gemacht haben.