Weltwirtschaft

Klammheimlich: Wie Polen Deutschland wirtschaftlich einholt

Lesezeit: 4 min
26.02.2024 16:13
Grundsätzlich ist die Lage in Europa weiterhin angespannt: Der Krieg in der Ukraine, die Preisexplosionen und die Auswirkungen der Pandemie setzen den Europäern nach wie vor spürbar zu. Da fällt kaum auf, wie sehr Polen politisch an Gewicht zunimmt. Mittlerweile diskutieren die Regierung und Fachleute dort sogar konkret, wann das Land Deutschland wirtschaftlich einholt.
Klammheimlich: Wie Polen Deutschland wirtschaftlich einholt
Ministerpräsident Donald Tusk spricht im polnischen Parlament: Klammheimlich steigert Polen seine Wirtschaftsleistung. (Foto: dpa)

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Polens BIP pro Kopf wächst schnell

Polen galt in der Geschichte eigentlich immer als Armenhaus, das zudem keinen allzu guten Ruf genoss. Otto von Bismarck, Friedrich Engels und andere deutsche Politiker benutzten in der Geschichte den Begriff „Polnische Wirtschaft“ oft als Ausdruck für ein Land oder System, das völlig ungeordnet, chaotisch und ineffizient sei. 1970 generierte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Polens gerade einmal ein paar Prozentpunkte der Wirtschaft Deutschlands und lag ungefähr auf dem Niveau eines zentralafrikanischen Landes. Deutschland und Polen trennten wirtschaftlich Welten. Kein Mensch wäre damals auf die Idee gekommen, beide überhaupt nur zu vergleichen.

Doch jetzt ist dies seit geraumer Zeit anders. „Prognosen deuten darauf hin, dass Polen, wenn es das derzeitige Entwicklungstempo beibehält, in der Mitte der 60er Jahre des 21. Jahrhunderts das BIP pro Kopf Deutschlands erreichen könnte“, sagt Krzysztof Piech, Direktor beim Warschauer Think-Tank Warsaw Enterprise Institute (WIE), im Gespräch mit den DWN. „Dem IWF zufolge hat sich die Situation Polens in Bezug auf das BIP pro Kopf erheblich verbessert.“

„Wir begannen mit einem Niveau von 40 Prozent des BIP Deutschlands im Jahr 1980, da die Preise und die Löhne bei uns damals viel niedriger waren“, erklärt Piech. „Nach dem Kriegsrecht und der Transformationskrise begannen wir uns von 27 Prozent im Jahr 1992 auf bis zu 68 Prozent von Deutschlands BIP im Jahr 2022 zu entwickeln.“ Und weiter sagt Piech: „Dies bedeutet, dass wir innerhalb von 30 Jahren den Abstand zu Deutschland um 40 Prozentpunkte verringern haben – eine erhebliche Aufholgeschwindigkeit!“

Hintergrund: Der Termin mag zwar noch weit weg sein. Doch um die Aussage, Polen hole Deutschland wirtschaftlich ein, ist in dem Land eine Art Kultur entstanden, die zeigt, wie sehr die Osteuropäer in den vergangenen Jahren an Selbstbewusstsein gewonnen haben. So aktualisiert der Think Tank WEI regelmäßig den Termin, wann es denn so weit sein könnte, und veröffentlicht ökonomische Aussagen dazu. Das Finanzportal „Forsal.pl“ und andere seriöse Finanz- und Wirtschaftsmedien nehmen das Thema auf und verbreiten es weiter.

Mittlerweile hat die Diskussion darum sogar einen hohen politischen Charakter erreicht. Das polnische Entwicklungsministerium, das dem Wirtschaftsressort in Deutschland entspricht, äußert sich dazu nun auch gegenüber einem ausländischen Medium, den DWN.

„Zweifelsohne hat Polen seit Beginn des Transformationsprozesses erhebliche Fortschritte bei der Annäherung an die westeuropäischen Länder gemacht“, so ein Sprecher des Ministeriums auf Anfrage. „In den kommenden Jahren wird das BIP pro Kopf bis 2025 70 Prozent überschreiten.“

Polens Wirtschaft wächst schneller als die Deutschlands

In den vergangenen vier Jahren hätten die Ökonomien in der EU und die Weltwirtschaft insgesamt starke Turbulenzen auszuhalten gehabt. „Dank der Tatsache, dass Polen dem etwas besser standgehalten hat, wuchs seine Wirtschaft in diesem Zeitraum jedoch schneller als die deutsche. Das führte zu einer weiteren Annäherung an das deutsche Entwicklungsniveau“, erklärte der Vertreter der polnischen Regierung, der noch ausdrücklich darauf hinwies, wie wichtig die deutschen Firmen für das Land seien.

„Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir uns zu der wirtschaftlichen Lage anderer Länder grundsätzlich nicht äußern“, sagte hingegen die Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums, Nina Marie Güttler, auf Anfrage der DWN

Auch wenn sich die deutsche Regierung nicht dazu äußern möchte, gilt das größte östliche EU-Land mittlerweile in der internationalen Presse als solide. Die Schlagzeile vom „Wirtschaftswunder Polen“, die in den vergangenen Jahren immer wieder die Runde gemacht hat, überrascht niemanden mehr. Das BIP hat ein Niveau erreicht, das rund einem Fünftel von Deutschland entspricht. Besonders wichtig war der EU-Beitritt des Landes 2004, weil dadurch die Handelsbeschränkungen mit dem wichtigen deutschen Nachbarn gefallen waren.

Wahrhaftige Zeitenwende in Polen

Als Russland vor zwei Jahren in einem verbrecherischen Angriffskrieg die Ukraine überfallen hat, nahm die politische Bedeutung Polens schlagartig zu, denn Putins Armee hat das getan, wovor Polen die Deutschen und den Westen immer gewarnt hatten. Aus diesem Grund restrukturiert Deutschland nun seine gesamte Industrie ohne russisches Gas. Deswegen ist auch dort der Respekt vor dem Land gewachsen. „Das europäische Gravitationszentrum verlagert sich nach Osten“, berichtete beispielsweise das „Handelsblatt“ im Dezember. „Polen erlebt durch den Amtsantritt von Donald Tusk eine wahrhaftige Zeitenwende“. Das Land dürfte deshalb auch ein gewichtiges Wort bei der Aufnahme der Ukraine in die EU mitreden.

Denn es ist ebenso wie der östliche Nachbar ein bedeutendes Agrarland. Hier hat Polen großes Potenzial, um sich Deutschland anzunähern. Es ist innerhalb der Gemeinschaft der größte Exporteur vieler wichtiger Produkte wie Äpfel, Geflügelfleisch und Kartoffeln. Das geht aus Statistiken hervor, welche die deutsche Botschaft veröffentlicht hat.

Zusätzlich verfügt Bayer in Warschau über ein Zentrum, in dem die digitalen Produkte des Konzerns entwickelt werden, die auch in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Die Agrarsparte Bayer Crop Science ist einem jährlichen Erlös von 25 Milliarden Euro eine der größten des deutschen Unternehmens.

Ein weiterer wichtiger Wirtschaftsfaktor ist die Autobranche. Insbesondere Kfz-Teile und Produkte für Zulieferer spielen eine große Rolle - vor allem für Deutschland. Die Industrie steuert acht Prozent zum polnischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei - und mehr als ein Fünftel zum Export. Das sind umgerechnet 50 Milliarden Euro.

Das Land ist für Volkswagen und andere internationale Hersteller einer der wichtigsten Standorte der Welt. Der Wolfsburger Konzern zählt zu den größten deutschen Investoren, unterhält mehrere Werke in Polen sowie ein engmaschig geknüpftes Händlernetz. Polen gilt für Volkswagen in Europa als zweites Zuhause.

Auch für die Holz- und Möbelindustrie sind die Polen bedeutsam. Die polnische Möbelindustrie liegt weltweit bei der Produktion und beim Export ganz weit vorn. 2020 nahm sie bei den Exporten sogar den dritten Rang weltweit ein.

Polnische Arbeitskräfte motivierter?

Doch sind diese Branchen nicht der einzige Faktor, an dem sichtbar wird, wie stark sich Polen entwickelt: Die polnischen Arbeitskräfte arbeiten wesentlich länger und sind genügsamer als ihre westlichen Nachbarn. Das wird an dem kleinen Arbeitsmarkt für Deutsche ersichtlich, der in den vergangenen Jahren in Polen entstanden ist. Bislang sind die Polen nur nach Westen ausgewandert, um dort zu arbeiten – nicht andersherum. In Polen sollen die westlichen Arbeitskräfte nun im Vertrieb oder im Marketing Kunden in ihrem Heimatland bedienen – und das für polnische Löhne.

„Ich arbeite mit meinen Landsleuten aber nicht gerne zusammen“, kritisierte Birgit, die deutsche Leiterin einer internationalen Firma, die in ganz Europa Call Center betreibt. „Sie wollen immer Sonderkonditionen und halten den Stress nicht aus“, so die Chefin im Gespräch mit den DWN. Keiner der deutschen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter habe die sechsmonatige Probezeit überstanden. „Sie müssen pro Tag 60 bis 80 Gespräche mit gestressten Kunden führen, sie arbeiten so schlecht, dass ich schon mal gesagt habe, dass ich sie nicht mehr beschäftigen möchte – so leid mir das tut.“ Sie arbeite lieber mit Bulgaren oder anderen Osteuropäern zusammen.

Also: Schwächelnde Arbeitskräfte in Deutschland einerseits, starkes Wirtschaftswachstum in Polen andererseits – das sind die Gründe, warum Polen immer näher an den westlichen Nachbarn heranrückt. So titelte die Webseite der Tagesschau: „Tusk will Polen zum Anführer innerhalb der EU machen.“ Wenn die Entwicklung so weitergeht, dürfte ihm das möglicherweise auch gelingen.


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