Die jahrelange ultralockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) hat laut Bundesbank womöglich das Unternehmensgeschehen im Euroraum gebremst. „Verschiedene empirische Studien deuten an, dass die langanhaltende expansive Geldpolitik im Euroraum die Unternehmensdynamik belastet haben könnte“, heißt es in einer neuen Bundesbank-Studie.
Daten für zwölf EU-Länder, darunter Deutschland, Frankreich und Italien, suggerieren, dass infolge von Nullzinsen und Geldschwemme der Anteil an unprofitablen Unternehmen mit Zugang zu günstigen Finanzierungsbedingungen zugenommen habe. Dies sei mit einer geringeren Rate von Neugründungen und Firmenschließungen einhergegangen. Die Wirtschaftsdynamik ist womöglich deshalb etwas kraftlos geblieben.
Die EZB hatte in den Jahren nach der globalen Finanzkrise und der Euro-Schuldenkrise unter anderem wegen der meist schwachen Wirtschaftsdaten in Europa ihre Geldpolitik immer expansiver gestaltet. Die Leitzinsen wurden tiefer und tiefer gesetzt bis in den negativen Bereich hinein. Angesichts der sehr niedrigen Inflationsrate glaubte man damals wohl, sich dieses historisch einmalige Geldexperiment erlauben zu können.
Zudem legte die Euro-Notenbank ab 2015 billionenschwere Programme zum Ankauf von Staats- und Unternehmensanleihen auf. Insbesondere die massiven Staatsanleihenkäufe wurden in Deutschland stets sehr kritisch gesehen.
Nullzinspolitik kann der Wirtschaft schaden, vor allem in der Phase danach
„Eigene Simulationen deuten an, dass der geldpolitische Expansionsgrad die Unternehmensdynamik auch noch in der anschließenden Normalisierungsphase beeinflusst haben könnte“, schreiben die Bundesbank-Experten. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass eine expansivere Geldpolitik die Wirtschaft zwar stabilisieren und zu einer schnelleren Wirtschaftserholung beitragen könne. Die Quittung käme dann aber in der anschließenden Phase der geldpolitischen Normalisierung, wo die Unternehmensdynamik behindert werde.
Der Grund: Unprofitable Großunternehmen (auch bekannt als „Zombie-Firmen“), die sich durch niedrige Zinsen am Leben halten konnten, binden Kapital und Ressourcen, das eigentlich besser bei wertschöpfenden und neu gegründeten Firmen investiert worden wäre.
Je expansiver die Geldpolitik zuvor gewesen sei, desto niedriger sei dann die Rate an neuen Unternehmen in der Phase danach.
Europas Wirtschaft stagniert – neue Zinswende steht bevor
Umgekehrt stellt sich dann die Frage, ob die aktuell restriktive Geldpolitik die europäische Konjunktur überhaupt so stark bremst, wie etwa der spanische Notenbankchef neulich behauptete. Die Eurozone ist im vierten Quartal 2023 nur knapp an einer Rezession vorbeigeschrammt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) war stagniert, nachdem es im Vorquartal noch um 0,1 Prozent geschrumpft war.
Die EZB hat im Kampf gegen die Inflation die Zinsen seit Sommer 2022 zehn Mal in Serie angehoben - zuletzt im September 2023. Seitdem liegt der Euro-Leitzins, zu dem sich Geschäftsbanken wöchentlich bei der EZB refinanzieren können, bei 4,5 Prozent. Nun stehen Zinssenkungen vor der Tür – aber ob die überhaupt eine positive Wirkung auf die strauchelnde europäische Wirtschaft haben werden?
Wie effektiv ist die Geldpolitik der Zentralbanken?
Unter Ökonomen wird schon seit vielen Jahrzehnten kontrovers über die Wirkweise von Geldpolitik diskutiert.
Dass etwa Zinserhöhungen ein effektives Mittel gegen Inflation sind, gilt in manchen Kreisen als unumstößliche Weisheit. Die empirische Evidenz ist aber fragwürdig, weil sie erstens bei weitem nicht immer zutrifft (man denke nur an die aktuelle Hochinflation in der Türkei, die trotz mittlerweile hoher Zinsen immer schlimmer wird) und zweitens einer Verzerrung unterliegt. Wenn Notenbanken auf hohe Inflationsraten stets mit Zinsanhebungen sowie Geldmengen-Reduktion reagieren und die Zinsen so lange hoch halten, bis die Inflation an Dynamik verliert, wird man immer eine Korrelation feststellen, die aber noch lange keinen kausalen Zusammenhang beweist.
Es ist auch schwer logisch zu begründen, weil die Zentralbank-Geldmenge vor allem im Finanzsektor zirkuliert und nicht direkt auf die Realwirtschaft einwirkt. Die seit Mitte 2023 stark rückläufigen Inflationsraten in Europa, den USA und dem Rest der Welt dürften vor allem an den normalisierten Energiepreisen liegen und nicht an einer bremsenden Wirkung der hohen Zinsen. Was auch oft vergessen wird: Niedrigere Inflation bedeutet nicht niedrigere Preise, sondern nur eine geringere Teuerungsrate als vorher und damit meist eine weiterhin sinkende Kaufkraft der Bevölkerung.
Genauso kann man in Frage stellen, warum eine ultralockere Zinspolitik positiv auf die Gesamtwirtschaft wirken sollte. Die oben angesprochene „Zombifizierung“ ist nur einer von vielen negativen Nebeneffekten von billigem Geld. Niedrige Zinsen sollen realwirtschaftliche Investitionen anregen und Sparen unattraktiv machen. In der Praxis könnte der Effekt manchmal sogar gegenteilig sein, wie die Konjunkturentwicklung der Dekade von 2010 bis 2020 andeutet.
Eine 2018 veröffentlichte Studie mit dem Titel „Reconsidering Monetary Policy“ kommt zu dem Schluss, dass die Niedrigzinspolitik zur Stimulierung von Wirtschaftswachstum völlig ungeeignet und wahrscheinlich sogar kontraproduktiv ist. Das ergaben empirische Untersuchungen zu historischen Wachstumsraten und Zinsen in den vier größten westlichen Industrieländern (USA, Deutschland, Japan, Großbritannien). Demnach ging höheres Wachstum häufig mit höheren Zinsen einher.
Die Autoren schließen daraus, dass die Kausalität ganz anders ist als viele Ökonomen glauben: Weder besonders niedrige noch künstlich hohe Zinsen stimulieren die Wirtschaft, sondern hohes Wachstum sorgt tendenziell auch für hohe Zinsen. Eine gesunde Wirtschaft und deren einzelne Unternehmen können sich sozusagen einen höheren Zins „leisten“. Über eine Manipulation der Zinsen – egal ob nach unten oder nach oben – können Notenbanker aus dieser Sichtweise heraus keinerlei positiven Einfluss auf das Wirtschaftswachstum nehmen.