Wirtschaft

Brexit-Folgen: Unternehmen zwischen wirtschaftlichem Desaster und Aufbruchstimmung

Brexit-Folgen gibt es viele für deutsche und britische Unternehmen. Doch welche sind das und wie meistern die Firmen das veränderte Handelsklima? Am 1. April ist der EU-Austritt Großbritanniens exakt 50. Monate her. Wir zeigen auf, wie vielschichtig die Auswirkungen des Brexits auf die Geschäftswelt sind.
01.04.2024 09:59
Aktualisiert: 02.04.2024 08:10
Lesezeit: 4 min
Brexit-Folgen: Unternehmen zwischen wirtschaftlichem Desaster und Aufbruchstimmung
Rishi Sunak, Premierminister von Großbritannien (links), und Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission (Foto: dpa). Foto: Dan Kitwood

Im Juni 2016 entschied sich Großbritannien in einem historischen Referendum für den Austritt aus der Europäischen Union (EU). Ein Schritt, der mit dem offiziellen Brexit am 31. Januar 2020 Wirklichkeit wurde. Seitdem sind 50 Monate vergangen. Die Entscheidung, die EU zu verlassen, wurde unter anderem durch den Wunsch nach mehr Souveränität, strengeren Einwanderungskontrollen, wirtschaftlicher Unabhängigkeit und der Reduktion der Kosten für die EU-Mitgliedschaft ausgelöst. Nach einer Übergangsphase treten nun die umfangreichen Auswirkungen des Brexits auf Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Recht immer deutlicher zutage.

„Der Brexit ist ein wirtschaftliches Desaster für beide Seiten des Kanals“, sagte Volker Treier, Außenwirtschaftschef der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) bereits auf Medienanfrage.

Seit dem Ausstieg Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion navigiert das Land auf einem neuen Kurs in seinen wirtschaftlichen Beziehungen zur EU. Dies hat auch zum spürbaren Rückgang deutscher Investitionen und einem Absturz in den Exportrankings geführt. Die Abkehr von EU-Standards schürt Unsicherheit bei Unternehmen und trübt die Handelsbeziehungen. Trotzdem bleibt Großbritannien ein Schlüsselspieler in der globalen Wirtschaft.

Jetzt geht es darum, die Beziehungen zu stärken. Initiativen wie der Beitritt Großbritanniens zum Pan-Europa-Mittelmeer-Übereinkommen und ein Veterinärabkommen mit der EU könnten den Weg ebnen. Sie versprechen, den Handel zu erleichtern und eine neue Ära der Kooperation einzuläuten.

Wirtschaftliche Auswirkungen in Großbritannien

Der Brexit löste massive Veränderungen in der britischen und deutschen Wirtschaftslandschaft aus, vor allem im Handelsbereich. Die Wiedereinführung von Zollkontrollen führte zu Verzögerungen und erhöhten Kosten für Unternehmen, was sich insbesondere auf Industrien auswirkte, die auf Just-in-Time-Lieferketten angewiesen sind, genauer gesagt auf termingerechte Lieferungen. Dazu gehören unter anderem die verarbeitende Industrie und die Landwirtschaft.

Die britische Währung, das Pfund Sterling, erlebte erhebliche Schwankungen, die die wirtschaftliche Stabilität und das Verbrauchervertrauen beeinträchtigten.

Veränderungen in den Investitionsmustern aufgrund der Unsicherheiten im regulatorischen Umfeld und des erschwerten Zugangs zum EU-Markt haben die Wachstumsaussichten des Vereinigten Königreichs und den Arbeitsmarkt negativ beeinflusst.

Deutscher Mittelstand im Zeichen des Brexits

Der Brexit stellt auch für den deutschen Mittelstand eine bedeutende Herausforderung dar. Die Auswirkungen sind vielschichtig und variieren stark - je nach Branche und Unternehmensstruktur, insbesondere im Exportgeschäft.

Feodora Teti, stellvertretende Leiterin des Ifo-Zentrums für Außenwirtschaft, erläuterte gegenüber den Deutschen Wirtschaftsnachrichten: „Die Exporteure sind nun verpflichtet, Zollförmlichkeiten zu erfüllen und einen gesteigerten bürokratischen Aufwand zu bewältigen, der innerhalb des Binnenmarktes nicht existierte.“

Im Gegensatz zu britischen Firmen, die sich bereits auf die neuen Gegebenheiten einstellen mussten, befinden sich manche deutschen Unternehmen noch in der Phase der Anpassung. „Während die EU bereits seit dem 1. Januar 2021 zusätzliche Dokumentationspflichten von Exporteuren aus dem Vereinigten Königreich forderte, wurde auf der Gegenseite eine längere Übergangsfrist gewährt, und die komplexere Dokumentation wird erst nach und nach eingeführt“, so Teti weiter.

Herausforderungen und Chancen

Trotz der offensichtlichen Hürden ergeben sich auch Chancen aus der Anpassung der Unternehmen an den Brexit. Deutsche Exporteure hatten, Teti zufolge, deutlich mehr Zeit zur Vorbereitung auf die neuen Bedingungen als ihre britischen Pendants. „Daher erwarten wir nicht, dass es zu ähnlich chaotischen Zuständen wie im Jahr 2021 kommt. Allerdings führen die erhöhten Dokumentationsanforderungen zu mehr Kosten für die Exporteure, was wiederum zu längeren Lieferzeiten führen könnte“, erklärt die Ifo-Expertin mit Bezug auf die Zunahme der Bürokratie für Unternehmen. „Vor allem kleinere Unternehmen könnten unter diesen neuen Belastungen leiden“, fügt Teti hinzu.

Neben den Herausforderungen birgt der Brexit jedoch auch Potenzial für deutsche Unternehmen, die sich erfolgreich im internationalen Markt neu ausrichten. „Unternehmen, die in direkter Konkurrenz mit Firmen aus dem Vereinigten Königreich stehen, könnten langfristig Marktanteile hinzugewinnen“, prognostiziert Teti.

Wie die Firmen die Situation einschätzen

Die Herbstumfrage der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer im Jahr 2023 zeigt eine gemischte Stimmung unter den Unternehmen auch in Großbritanien: Nur etwa ein Viertel blickt positiv auf die gesamte britische Wirtschaft. Rund 40 Prozent von ihnen erwarten eine Verbesserung ihrer eigenen Geschäftsaussichten.

Im Rahmen dieser Umfrage wurden 51 webbasierte Interviews mit Unternehmen der deutsch-britischen Wirtschaft durchgeführt, die in Großbritannien operativ aktiv sind. Entsprechend planen der Umfrage zufolge ebenfalls 40 Prozent der Firmen, ihre Investitionen zu erhöhen und mehr Personal einzustellen. Sie sind vorrangig durch die Bedeutung des britischen Marktes motiviert.

Politische Unsicherheiten, fehlende Nachfrage und Handelsbarrieren bleiben in diesem Zusammenhang große Herausforderungen. Dabei haben hohe Energiekosten an Dringlichkeit verloren. Nach der Windsor-Vereinbarung im Frühjahr 2023 können Unternehmen optimistischer auf die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien blicken. Sie ermöglicht nicht nur eine Neuregelung des Warenverkehrs zwischen Nordirland und der EU, sondern eröffnet auch Wege für eine pragmatischere Zusammenarbeit.

Laut DIHK waren bis 2021 etwa 2.160 deutsche Unternehmen in Großbritannien aktiv, ein Rückgang von 5,2 Prozent im Vergleich zu 2016. Eine bedeutende Anzahl an kleinen und mittleren deutschen Unternehmen (KMU) ist somit von den Auswirkungen des Brexits betroffen und musste Anpassungen in ihren Betriebsabläufen, Investitionen und Handelsbeziehungen vornehmen.

Anpassung und Nutzung neuer Chancen

Aktuell erleben deutsche Firmen in Bereichen wie der verarbeitenden Industrie, Landwirtschaft, Gastronomie und dem Gesundheitswesen Schwierigkeiten analog zu ihren britischen Pendants. Sie müssen sich auf Unterbrechungen der Lieferketten, steigende Betriebskosten und Unsicherheiten im regulatorischen Umfeld einstellen. Infolgedessen können sich ihre Wettbewerbsfähigkeit und die Wachstumsaussichten zum Negativen verändern.

Trotz der aktuellen Herausforderungen zeichnet sich der deutsche Mittelstand durch seine Anpassungsfähigkeit aus. Viele Unternehmen bemühen sich, den verursachten Unsicherheiten entgegenzuwirken und ihre Position sowohl auf dem britischen als auch auf dem globalen Markt zu stärken.

Der Brexit hat sowohl für Großbritannien als auch für die EU und insbesondere für Deutschland zu tiefgreifenden Veränderungen geführt. Die Fähigkeit zur Anpassung und Nutzung neuer Chancen wird in dieser Situation entscheidend sein, um die positiven Aspekte des Wandels zu maximieren und die negativen Auswirkungen zu minimieren.

Die Entwicklung dieser Beziehungen bleibt ein dynamischer Prozess, der kontinuierliche Anstrengungen erfordert, um den beiderseitigen Nutzen aufrechtzuerhalten.

Abkehr von einem britischen Ideal

Die Vision des ehemaligen britischen Premierministers Winston Churchill einer geeinten europäischen Gemeinschaft, die er erstmals 1946 nach dem Zweiten Weltkrieg in seiner Rede in Zürich artikulierte, rief zur Vereinigung Europas auf, um Frieden und Wohlstand zu sichern. Diese Idee war ein früher Meilenstein auf dem Weg zur Entstehung der Europäischen Union in der heutigen Form. Ein Projekt, das die Förderung wirtschaftlicher Stabilität und Zusammenarbeit – auch auf unternehmerischer Ebene – vorsah.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade Churchills eigene Nation den Boden dieser Gemeinschaft in ihrer stärksten Form verlassen hat. Großbritannien hat sich als erstes Land aktiv von den Idealen entfernt, die Churchill hinsichtlich der europäischen Einheit thematisierte.

Die aktuelle Situation der betroffenen Unternehmen auf beiden Seiten ist somit ein Kontrast zu den wirtschaftlichen Vorteilen und der Stabilität, die die EU ihren Mitgliedsländern bieten will. Auch die Werte, die das politische Erbe der Politiker wie Churchill antizipierte, werden nun massiv beeinflusst, und zwar in einer Zeit zunehmender globaler Unsicherheiten.

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Farhad Salmanian

Zum Autor:

Farhad Salmanian arbeitet bei den DWN als Online-Redakteur. Er widmet sich den Ressorts Politik und Wirtschaft Deutschlands sowie der EU. Er war bereits unter anderem für die Sender BBC und Radio Free Europe tätig und bringt mehrsprachige Rundfunkexpertise sowie vertiefte Kenntnisse in Analyse, Medienbeobachtung und Recherche mit.

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