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Kommentar

DWN-Kommentar: Warum Irans Regierungschef auf die internationale Fahndungsliste muss

Lesezeit: 6 min
10.04.2024 16:30
Der iranische Regierungschef Ebrahim Raisi ist ein mutmaßlicher Massenmörder. Seine direkte und indirekte Beteiligung an Massenmorden ist der Grund, warum er international zur Rechenschaft gezogen werden muss - auch Deutschland und die EU müssen sich hier klar positionieren!
DWN-Kommentar: Warum Irans Regierungschef auf die internationale Fahndungsliste muss
Irans Präsident, Ebrahin Raisi, während einer Zeremonie in Teheran (Archivfoto: Mizanonline/Mostafa Roudaki).

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Ein umfassender Vorbericht, vorgelegt vom UN-Menschenrechtsrat, kam vor Kurzem zu dem Ergebnis, dass das islamistische Regime in Teheran durch seine Handlungen Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat. Diese Aussage bezog sich insbesondere auf die physische Gewalt, die 2022 zum Tod der jungen Iranerin Mahsa (Jina) Amini in der Haft der sogenannten Sittenpolizei des Landes führte. Dieser Vorfall löste landesweite Proteste aus, in denen das Ende der Islamischen Republik und die Beendigung der Herrschaft der Mullahs gefordert wurden. Die internationale Gemeinschaft steht vor der entscheidenden Frage, ob die Europäische Union (EU), die USA oder Länder wie Deutschland die Verfolgung derjenigen fordern werden, die an solchen Taten beteiligt sind.

Warum der rechtliche Rahmen gesprengt ist

Die EU benötigt eine neue Rechtsstrategie gegenüber dem islamistischen Staat im Iran. Als Begründung und Grundlage für das mutmaßliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind vier Massenverbrechen zu nennen: die Massenhinrichtungen politischer Gefangener, die Beteiligung an der gewaltsamen Niederschlagung von Protesten in den Jahren 2019 und 2022 sowie der ungestrafte Abschuss eines ukrainischen Passagierflugzeugs.

Die Islamische Republik bewegt sich somit als Staatsform politisch, sozial und rechtlich in einer untragbaren Dimension. Eine der Personen, deren Beteiligung an erwähnten Gräueltaten und Verbrechen weitgehend bekannt ist, ist der jetzige Regierungschef: Ebrahim Raisi übernahm sein Amt nach einer Scheinwahl im Jahr 2021, bei der die eigentlichen politischen Gegner aus dem reformorientierten Lager im Voraus ausgeschlossen wurden. Oppositionelle und Andersdenkende durften unter dem Regime nicht kandidieren. Diese Situation markiert einen Tiefpunkt in der langen Geschichte staatlicher Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen durch den Machtapparat der Mullahs, die Russlands Unterstützung genießen.

Eine blutige Karriere

Raisis Karriere ist überschattet von seiner Beteiligung an Massenhinrichtungen politischer Gefangener in den späten 1980er-Jahren. Im Zusammenhang mit diesen Morden hat Schweden bereits ein Zeichen gesetzt: Hamid Nouri, ein iranischer Justizbeamter unter Raisi in den 1980er-Jahren, wurde in Stockholm festgenommen und in einem Prozess für schuldig befunden. Er wurde als Schlüsselfigur bei den Exekutionen politischer Gefangener in Iran im Jahr 1988 identifiziert. Am 14. Juli 2022 wurde Nouri in erster Instanz zu lebenslanger Haft für „Kriegsverbrechen“ und „Mord“ verurteilt. Das Oberste Gericht Schwedens hat mittlerweile dieses Urteil bestätigt. Damit wird Nouri eine lebenslange Haftstrafe verbüßen. Dabei handelt es sich um das erste rechtskräftige Urteil in der EU, das im Zusammenhang mit einem Massenmord steht, an dem auch Raisi beteiligt war. Raisi zeigt keine Reue für seine Rolle bei den Hinrichtungen und hat sogar dem katarischen Sender Al-Jazeera gesagt, dass er dafür „gelobt und belohnt“ werden sollte.

Der Abschuss eines ukrainischen Passagierflugzeugs im Januar 2020, bei dem es 176 Tote gab, fand während Raisis Amtszeit als Justizchef statt. Dass die Hauptkommandeure von damals nicht bestraft wurden, unterstreicht seine politische Gesinnung und seine Unmenschlichkeit. Das iranische Regime behauptete, dass „menschliches Versagen“ der Grund für den Vorfall gewesen sei - und hielt das betreffende Gerichtsverfahren weitgehend geheim.

Ein Investigativbericht der BBC hat kürzlich dazu neue Erkenntnisse enthüllt: Der Stützpunkt des Flugabwehrsystems Tor M-1, das für den Abschuss des ukrainischen Passagierflugzeugs eingesetzt wurde, wurde auf Anweisung des Obersten Führers im Iran, Ali Chamenei, absichtlich vom einheitlichen Luftverteidigungsstab der iranischen Armee verborgen gehalten. Die Gründe für diese Entscheidung sind bisher nicht bekannt.

Es wird vermutet, dass das Regime das Flugzeug absichtlich abschießen ließ, um durch die Inszenierung einer Krise im Land einen Krieg mit den USA zu vermeiden. Dies geschah nach einem Raketenangriff der Revolutionsgarden (IRGC) auf die von US-Soldaten genutzte Luftwaffenbasis Ain al-Asad und eine Militärbasis in Erbil im Irak. Die Regierung in Teheran bestreitet diese Vorwürfe.

Deutsche Politik im Dilemma der Menschenrechte

Die wiederholte Missachtung der Menschenrechte und die Straflosigkeit, mit denen Raisi und das iranische Regime agieren, stellen eine direkte Herausforderung für demokratische Rechtsstaaten dar. Als Justizchef überwachte Raisi 2019 die gewaltsame Niederschlagung von Protesten, während derer laut Nachrichtenagentur Reuters bis zu 1.500 Zivilisten getötet wurden, teilweise durch direkte Kopfschüsse, und mindestens 7.000 Menschen verhaftet wurden. Die Verbreitung von Informationen über diese massiven Menschenrechtsverletzungen wurde damals erheblich erschwert, da das Internet wiederholt gesperrt war und keine Fotos oder Nachrichten ins Ausland geschickt werden konnte. Eine Firma aus Deutschland spielte eine wichtige Rolle bei den Internetsperren: Im Jahr 2023 enthüllten die Recherchen von Netzpolitik.org, einem Portal für digitale Freiheitsrechte und Datenschutz, Correctiv, einem Zentrum für investigativen Journalismus, und der überregionalen Tageszeitung taz, dass die Firma Softqloud aus Nordrhein-Westfalen dem iranischen Regime dabei half, das Land vom globalen Internet abzuschotten. Als Ableger von dem Unternehmen Arvancloud betrieb Softqloud eine Cloud-Infrastruktur, die Websites des Regimes hostete.

Trotz mutmaßlicher Verbindungen zu den Revolutionsgarden (IRGC) und Geheimdiensten im Iran wurden diese Firmen von deutschen Behörden nicht belangt. Auch die verhängten EU-Sanktionen gegen sie gibt es nicht mehr. Teheran blockierte das Internet durch ihre Unterstützung, um die Kontrolle über die Informationsflut zu behalten und die Bevölkerung zu unterdrücken. Das wurde während der Massenproteste im Iran deutlich. Softqloud spielte eine Schlüsselrolle, da es den Iran mit dem Internet verbunden und Zahlungen für Arvancloud abgewickelt hat, was US-Sanktionen umgeht. Deutsche Behörden haben trotz Hinweisen nicht reagiert.

Deutschland steht vor dem Hintergrund dieses Verbrechens weiterhin vor einer wichtigen Aufgabe: Das Schweigen und die Untätigkeit müssen beendet werden, weil sie die Glaubwürdigkeit der EU untergraben.

Die Unterstützung der demokratischen Freiheitsbewegungen im Iran ist nicht nur eine Frage der Solidarität in Zeiten von Protesten und Unruhen, sondern soll sich auch stärker denn je in international anerkannten rechtlichen Maßnahmen widerspiegeln. Sie bilden eine politische Investition in die Zukunft einer Region, die sich an einem Scheideweg befindet.

Es gibt viele Bedenkenträger, die behaupten könnten, die Verfolgung Ebrahim Raisis könnte die Beziehungen zwischen unterstützenden Ländern und dem Iran verschlechtern. Sie weisen oft auch auf Vergeltungsmaßnahmen und die Gefahr zunehmender internationaler Isolation hin. Aus ihrer Sicht könnten dadurch auch internationale Abkommen beeinträchtigt werden. Es sollte jedoch erwähnt werden, dass hierdurch ein Präzedenzfall für globale Rechenschaftspflicht und gegen Straflosigkeit geschaffen werden könnte.

Das Prinzip der Universaljurisdiktion

Demokratische Rechtsstaaten müssen gegen die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen ein starkes Zeichen setzen. Die Verfolgung Ebrahim Raisis ist ein wesentlicher erster Schritt. Trotz zahlreicher dokumentierter Menschenrechtsverletzungen konnte er in den vergangenen Jahren die USA besuchen. 2023 haben Mitglieder seiner Delegation sogar Reporter in New York beleidigt und körperlich angegriffen. Seine wiederholten, aus der Islamischen Republik bekannten Hasstiraden vor der UN-Generalversammlung endeten mit seiner Abreise aus den USA – ein Armutszeugnis.

Das Prinzip der Universaljurisdiktion im Völkerrecht (universal jurisdiction) ermöglicht Staaten, einschließlich der EU-Länder, Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrem politischen Amt wegen schwerwiegender internationaler Straftaten wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu verfolgen.

Obwohl dieses Prinzip zu Konflikten mit nationalen Gesetzen, Verfassungsbestimmungen und dem Konzept der diplomatischen Immunität führen kann, ist es an der Zeit, neue Mechanismen zu schaffen und ein deutliches Zeichen gegen die langjährige Straffreiheit von Staatsmännern wie Raisi und seinem höchsten Vorgesetzten, Chamenei, zu setzen. Die ersten rechtlichen Grundlagen dafür wurden in Schweden geschaffen.

Großmächte spielen gegeneinander

In den vergangenen Jahren haben Unternehmen wie Tiandy Technologies aus China sowie verschiedene Stellen in Russland, trotz der Kritik der Menschenrechtler, das Regime in Teheran mit Überwachungstechnologie unterstützt – und damit den Unterdrückungsapparat des Regimes verstärkt. Russland bleibt auch trotz internationaler Sanktionen, die aufgrund seines Krieges gegen die Ukraine verhängt wurden, wirtschaftlich und militärisch mit der Islamischen Republik verbunden. Diese Unterstützung aus autoritären Staaten macht die Dringlichkeit einer einheitlichen und entschlossenen Haltung der internationalen Gemeinschaft deutlich.

Diese Situationen stellen die Glaubwürdigkeit des Westens sowohl vor seinen eigenen Bürgern als auch in jeder demokratischen Zukunftsform im Iran auf die Probe. Der seit Jahren anhaltende Widerstand gegen den Staatsapparat im Iran, der eine weitverbreitete Ablehnung des herrschenden Regimes zeigt, wird von vielen Beobachtern als Vorbote einer möglichen Revolution gesehen.

Die Haltung der Großmächte spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Die Probleme, die die Ideologie des Regimes im Iran verursacht – von Stellvertreterkriegen im Nahen Osten bis zu Terroranschlägen in Europa und den USA – zeigen die globale Tragweite. Es bedarf einer intensiveren und koordinierteren Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf solche Aktivitäten und die weitreichenden Einflüsse des Regimes im Ausland.

Neuausrichtung der Iran-Politik – ein Muss

Auch wenn Deutschland zu den Ländern gehört, die vor manchen Gräueltaten die Augen verschlossen haben, bietet sich hier die Gelegenheit, eine Führungsrolle einzunehmen. Die deutsche Regierung stützt ihre Iran-Politik seit Langem unter anderem auf die Beratungen von bestimmten Institutionen und Experten, die sich mit den bestehenden Strukturen begnügt haben: Diese gehen im Grunde ständig von einer Alternativlosigkeit des Regimes oder – im besten Fall – von verschiedenen Formen und Prozessen der Reformierbarkeit des Staates aus, um die deutsche Regierung entsprechend bestimmter politischer Interessen in Teheran zu lenken. Es ist jedoch nötig, diese Komfortzone zu verlassen.

Deutschland und die EU sollten durch entschlossenes Handeln zeigen, dass die Verteidigung von Menschenrechten und demokratischen Prinzipien im Zentrum ihrer Außenpolitik steht. Auch dem Problem der Sicherheitsbedenken kann durch neue und intensivere Sicherheitskooperationen und -allianzen entgegengewirkt werden.

Lesen Sie diesen Kommentar auf Englisch.

Zum Autor:

Farhad Salmanian arbeitet bei den DWN als Online-Redakteur. Er widmet sich den Ressorts Politik und Wirtschaft Deutschlands sowie der EU. Er war bereits unter anderem für die Sender BBC und Radio Free Europe tätig und bringt mehrsprachige Rundfunkexpertise sowie vertiefte Kenntnisse in Analyse, Medienbeobachtung und Recherche mit.


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