Als Ajatollah Ali Chamenei vor wenigen Tagen vor Tausenden Anhängern in der Hauptstadt Teheran auftrat, erwartete die Menge gespannt die Worte des iranischen Religionsführers. Mit dem drohenden Angriff auf Israel in der Nacht zum Sonntag richtete der mächtigste Mann der Islamischen Republik erneut eine bedrohliche Botschaft an den Erzfeind aus, während seine linke Hand fest den Lauf eines Gewehrs umklammerte. Sein rechter Arm, gelähmt seit einem Attentat im Sommer 1981, ruhte reglos unter seinem Gewand.
Israel und Iran stehen nach dem Großangriff vom Wochenende am Rande eines Kriegs. Und so richten sich alle Augen im Staat auf Chamenei, der an diesem Mittwoch 85 wird. Als Oberbefehlshaber der iranischen Streitkräfte hat er im Falle eines israelischen Gegenschlags das letzte Wort. Chamenei gilt bis heute als unantastbar, Kritik an seiner Person wird nicht geduldet. Und so entbrennt auch in der Islamischen Republik, die seit Jahren immer wieder schwere Protestwellen gegen das islamische Herrschaftssystem erlebt, eine Diskussion über die Zeit nach Chamenei.
Junge loyale und radikale Kräfte sollen das System schützen
Chamenei stammt aus der Pilgerstadt Maschhad im Nordosten Irans. Bereits als junger Student schloss er sich dem damals noch unbekannten Ruhollah Chomeini an, dessen Islamische Revolution 1979 zum Sturz der Schah-Dynastie führte. Der islamische Gelehrte wurde 1981 zum Staatspräsidenten gewählt und übte das Amt bis zum Tod des Revolutionsführers Chomeini im Juni 1989 aus. Ein sogenannter Expertenrat kürte ihn dann zu dessen Nachfolger. Das Gremium, dem 88 erzkonservative Geistliche angehören, wird im Todesfall auch über Chameneis politisches Erbe entscheiden.
Seit über 30 Jahren ist Chamenei nun der sogenannte Revolutionsführer. Spätestens seit den Massenprotesten im Jahr 2009 habe Irans Staatsführung auf eine neue Generation an radikalen Kräften gesetzt.
Revolutionswächter dürften zentrale Rolle in der Zukunft spielen
Auch im Iran wird über die Zukunft der Islamischen Republik debattiert, doch nicht immer öffentlich. Insider sehen Chamenei inzwischen in die Ecke gedrängt. „Nicht nur, weil es keine charismatischen Geistlichen mehr gibt, sondern weil im Land der Islam selbst infrage gestellt wird“, erklärt ein Professor, der nicht beim Namen genannt werden will. Stattdessen könnten die ohnehin sehr mächtigen Revolutionsgarden, die ideologischen Elitestreitkräfte, die Macht auf sich konzentrieren. „Diese militärische Konstellation, eventuell mit einigen limitierten gesellschaftlichen Freiheiten, könnte auch einige Jahre funktionieren“, sagt der Experte. Ihre militärische Macht in der Region dürften sie versuchen aufrechtzuerhalten.
Die Revolutionsgarden wurden nach den Umwälzungen von 1979 gegründet, mit ihren Al-Kuds-Brigaden sind sie auch im Ausland tätig. Zwei ihrer Brigadegeneräle wurden jüngst bei einem mutmaßlich israelischen Luftangriff in Syrien getötet. In den vergangenen Jahrzehnten sind die Revolutionswächter nicht nur militärisch hochgerüstet worden, sie haben auch ihren gesellschaftlichen und ökonomischen Einfluss ausgebaut. Heute gelten sie als Wirtschaftsmacht, mit Beteiligungen unter anderem an Hotelketten und Airlines.
Ein gut vernetzter Journalist, der ebenfalls lieber anonym bleiben möchte, sieht das islamische System 45 Jahre nach der Revolution in der Krise. Ein neuer Religionsführer könnte auch eine eher symbolische Rolle einnehmen. „Potenzielle Nachfolger wie (Präsident Ebrahim) Raisi werden vom Volk nicht ernst genommen“, sagt der Reporter. „Aber ein neuer Führer muss ernannt werden“, fügt er hinzu und meint: „Die Staatsangelegenheiten werden dann, wie in den letzten Jahren auch, von den Revolutionsgarden kontrolliert und gelenkt.“
Risiko von Staatsstreichen und Protesten steigt in Umbruchphase
Viele Iran-Experten sehen das Land in einer kritischen Übergangszeit, die schnell mit Instabilität einhergehen kann - und das Risiko von verschärften Machtkämpfen, Umsturzversuchen oder Staatsstreich droht.
Ebenso sind nach Ansicht vieler Beobachter Proteste im Falle des Todes von Chamenei denkbar - daraus könnten sich neue Protestdynamiken entwickeln. Obwohl sich die iranische Führung schon seit Jahren intensiv auf einen Übergang vorbereitet, kann es jederzeit zu Unruhen und Unordnung im Staatsapparat kommen.