Bund, Länder und Gemeinden sind so hoch verschuldet wie nie zuvor. Das geht aus Zahlen hervor, die das Statistische Bundesamt (Destatis) Ende März veröffentlicht hat. Danach belaufen sich die öffentlichen Schulden Ende 2023 auf 2.445 Milliarden oder rund 2,5 Billionen Euro. Die Staatsverschuldung ist damit im vergangenen Jahr um 3,3 Prozent oder 77,4 Milliarden Euro gestiegen. Die Gründe für den Anstieg seien sowohl die anhaltenden Folgen der Corona-Pandemie als auch die massiv gestiegenen Rüstungsausgaben im Zuge des Ukraine-Krieges, so die Statistiker.
IW-Experte Hentze: „Kluge Verschuldung ist entscheidend“
„Aus ökonomischer Sicht ist dabei entscheidend, ob die Staatsverschuldung tragfähig ist“, sagt Tobias Hentze vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). „Um das zu beurteilen, reicht der Blick auf die absoluten Schulden allein jedoch nicht aus.“ Wichtiger sei das Verhältnis der Schulden zur Wirtschaftskraft.
Nach der Finanzkrise vor 15 Jahren lag die Schuldenquote, also der Schuldenstand in Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), in Deutschland bei über 80 Prozent, heute liegt sie bei rund 65 Prozent. „In Frankreich, den USA oder Japan liegt die Quote mit über 100 Prozent deutlich höher“, sagt IW-Ökonom Hentze. Für internationale Investoren bleibe Deutschland daher weiterhin ein verlässlicher Partner.
Dennoch sollten sich die Politiker in Deutschland genau überlegen, wofür sie Schulden machen, mahnt Hentze, „denn weniger Schulden entlasten auch den laufenden Haushalt, weil weniger Zinsen gezahlt werden müssen.“ Es komme also darauf an, wofür Kredite aufgenommen werden. „Wenn mit den Schulden wichtige Zukunftsinvestitionen vorangetrieben werden, etwa eine klimaneutrale Wirtschaft oder eine moderne Infrastruktur, dann ist eine Kreditaufnahme und damit auch eine Beteiligung künftiger Generationen an den Investitionen gerechtfertigt.“
Die Schuldenbremse zwischen Sicherheitsnetz und Wachstumsbremse
Als Konsequenz aus der Finanzkrise der Nullerjahre wurde in Deutschland 2009 eine Schuldenbremse im Grundgesetz verankert, die durch eine strikte Begrenzung der Neuverschuldung auf 0,35 Prozent des BIP die Finanzlage von Bund und Ländern langfristig stabilisieren soll. Würde Deutschland diese Grenze jedes Jahr einhalten, läge die Schuldenquote in zehn Jahren nur noch bei unter 50 Prozent. „Das klingt erst einmal gut“, so Wirtschaftsexperte Hentze, „Aber wenn, wie es jetzt der Fall ist, gleichzeitig bei den Investitionen gespart wird und die Steuern weiter steigen, wird das Wachstum gebremst. Und davon hat niemand etwas.“
Sind 1,5 Prozent des BIP die neue Grenze?
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023 zum Nachtragshaushalt des Bundes für das Jahr 2021 hat die Parteien in Aufruhr versetzt. Bisher hatte die Politik Notsituationen genutzt, um die Schuldenbremse zu umgehen. Sie gründete Sondervermögen und füllte Sondertöpfe, um weiterhin aus dem Vollen schöpfen zu können. Mehr denn je stellt sich die Frage, wie die Politik die anstehenden Herausforderungen finanzieren will.
Ein für den Ökonomen denkbarer Ansatz wäre eine Modifikation der Schuldenbremse, die mehr Spielraum für zukunftsorientierte Staatsausgaben lässt, ohne die finanzielle Stabilität zu gefährden: „Die Grenze von 0,35 Prozent des BIP könnte auf 1 oder 1,5 Prozent angehoben werden. Außerdem sollten auch die Länder Schulden machen dürfen, denn bisher dürfen sie keine zusätzlichen Kredite aufnehmen.“
Schweizer Modell: Strengere Regeln als Vorbild für Deutschland
Alternativ kann sich IW-Mann Hentze auch andere Formen der Schuldenbremse vorstellen. „Zum Beispiel könnte es der Politik erlaubt werden, in Zeiten niedriger Zinsen mehr Schulden zu machen. Oder Investitionen in Zukunftsprojekte wie eine Wasserstoff-Infrastruktur könnten von der Schuldenbremse ausgenommen werden.“
Denkbar wäre für ihn auch ein Modell nach Schweizer Vorbild: Die Schweizer Schuldenbremse etwa bremst die Ausgaben und reguliert damit indirekt auch die Verschuldung. Allerdings ist das Schweizer Modell eher noch strenger als die hiesige Schuldenbremse, da die Ausgaben die Einnahmen nicht übersteigen dürfen. Für Tobias Hentze wäre eine solche Ausgabenregel auch für Deutschland denkbar, vielleicht in einer weniger strengen Variante, „aber das wäre ein großer Schritt“.
IW-Experte Hentze: „Langfristig tragbare Staatsfinanzen sind elementar“
Klar ist: Ein Festhalten an der aktuellen Schuldenbremse birgt langfristig erhebliche wirtschaftliche und soziale Risiken. „Aus meiner Sicht sind vor allem zwei Punkte problematisch“, erklärt Hentze. „Erstens kommen die Investitionen zu kurz, weil die Politik ein Faible für konsumtive Ausgaben hat, zum Beispiel für höhere Renten.“ Zweitens, so Hentze, seien Steuerentlastungen kaum möglich, weil sich dadurch das Loch in den öffentlichen Kassen noch vergrößern würde und die Schuldenbremse daher nicht einzuhalten wäre.
Als eine mögliche Lösung schlägt der Ökonom deshalb einen Transformationsfonds vor, der nach dem Vorbild des Sondervermögens Bundeswehr eingerichtet und mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag beschlossen werden könnte. Aus diesem Fonds würden ausschließlich Investitionen finanziert. Dass eine Schuldenbremse wichtig und richtig sei, stehe für IW-Mann Hentze außer Frage: „Aber welche Regel passt am besten? Diese Diskussion sollten wir führen. Langfristig tragfähige Staatsfinanzen sind dabei ein elementares Kriterium.“