DWN: Warum haben Sie ein Buch über die italienische Mafia in Deutschland geschrieben?
Sandro Mattioli: Vor rund 15 Jahren lebte ich in Italien und kam bei einer Recherche mehr oder weniger zufällig auf das Thema Mafia. Ich war überrascht, wie es dieser uralten kriminellen Organisation gelingt, sich in immer mehr Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in Italien einzunisten. 2012 kehrte ich nach Deutschland zurück. Ich arbeitete weiter als Journalist zu dem Thema und wurde zugleich Vorsitzender des Vereins „mafianeindanke“.
Nun erhielt ich Einblick aus zweierlei Perspektiven: Bei meinen Recherchen stellte ich immer dichtere Netzwerke der italienischen Mafia-Organisationen in der Bundesrepublik fest. Tatsächlich hat sich die Zahl der Mafiosi in Deutschland binnen zehn Jahren mehr als verdoppelt und in meinem Buch spreche ich über Mafia-Strukturen fern von Gaststätten und Drogenhandel, sondern etwa über Fußball und Großbanken. Zugleich sah ich, dass es der politischen Arbeit bedarf, um das Thema auf die Agenda zu bekommen. Diese Aufgabe packten meine Kolleginnen und Kollegen bei „mafianeindanke“ und ich an, mit einigem Erfolg. Auch um diese Arbeit zu würdigen, wollte ich darüber berichten. Außerdem bietet das Thema einfach einen großen Fundus an Erzählenswertem.
DWN: Warum braucht es denn politische Arbeit, wenn doch die Strafverfolgungsbehörden den Auftrag haben, gegen Mafiaaktivitäten in Deutschland vorzugehen?
Sandro Mattioli: Als ich anfing, mich mit dem Thema zu befassen, ging ich davon aus, dass Polizei und Staatsanwaltschaften auch gegen solche Kriminalität vorgehen. Inzwischen ist mir klar geworden, dass das nicht immer so funktioniert.
Organisierte Kriminalität muss erstmal sichtbar gemacht werden und gerade, wenn es nicht um Kapitaldelikte geht, also Mord und Totschlag, passiert das oft nicht und sie wird häufig nicht mit dem nötigen Nachdruck verfolgt. Es ist kompliziert und aufwändig, Mafia-Strukturen aufzuklären, und die ’Ndrangheta ist Meister darin, sich mit verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen zu verzahnen, und nutzt das strategisch.
DWN: Mafia ist ein generischer Begriff. Mögen Sie unseren Lesern die verschiedenen Spielarten der Mafia in Italien erläutern und aufzeigen, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben?
Sandro Mattioli: In Italien meint „die Mafia“ streng genommen nur die sizilianische Cosa Nostra, in Deutschland wird der Begriff oft für jede Art von kriminellen Gruppen verwendet, es gibt sogar Projekte mit einem an sich guten Anliegen wie etwa eine rassismus-kritische Musikgruppe, die den Begriff Mafia nutzen, in dem Irrglauben, er sei positiv konnotiert.
Eine detaillierte Beschreibung der Entwicklung der letzten Jahrzehnte würde den Rahmen dieses Interviews sprengen und es ist auch nicht mein Ansatz in Germafia. Aber man kann in aller Kürze soviel sagen: Es gibt seit grob 200 Jahren drei große Mafia-Organisationen in Italien, die Camorra in und um Neapel, die Cosa Nostra aus Sizilien und die ’Ndrangheta, die ihren Ursprung in Kalabrien hat. Alle haben mit kriminellen Geschäften Unmengen Geld verdient und tun es noch, alle arbeiten international, vermutlich sogar global. Vor allem die ’Ndrangheta expandiert seit Jahrzehnten extrem. Schon 1969 hat sie in einem Grundsatzbeschluss festgelegt, vor allem auch in legalen Wirtschaftsbereichen aktiv sein zu wollen und die Globalisierung – die damals freilich noch in den Kinderschuhen steckte, wenn überhaupt - für sich zu nutzen.
DWN: Ist Deutschland für die Mafia besonders attraktiv? Und falls ja - warum?
Sandro Mattioli: Mein Buch handelt vor allem auch von meiner Freundschaft zu Luigi Bonaventura, der früher Boss eines ’Ndrangheta-Clans war, auch Morde ausführte, und dann die Seiten wechselte und zum Kronzeugen wurde. Schon bei unserem ersten Treffen 2012 sprach er von den unternehmerischen Aktivitäten seines Clans, unter anderem im Fußballbereich.
Ich erzähle das hier und in meinem Buch, weil ich befürchte, dass auch der Fußball in Deutschland nicht immun gegen solche Einflüsse ist. Jedenfalls haben mich entsprechende Hinweise von Leuten erreicht, die sich damit auskennen. Deutschland ist für die Mafia attraktiv, absolut: Wir haben kaum ein Verständnis davon, wie die kriminellen Organisationen funktionieren, wir haben nur wenig Mittel, sie sichtbar zu machen. Wir kommen im Kampf gegen Geldwäsche nicht wirklich voran und viele glauben, dass sich Mafia-Aktivitäten auf Drogenhandel und etwas Geldwäsche in Gaststätten begrenzen. Dabei zeigt mein Buch, dass wir von ganz anderen Dimensionen ausgehen müssen, wenn Mafiosi etwa Finanzinstitute für ihre Zwecke nutzen wollen, dass wir die Gefahr durch die Clans neu denken müssen.
DWN: Wie sind Sie bei Ihren Recherchen vorgegangen? Haben Sie Zahlen über den Umfang von Investitionen mit Geldern mafiösen Ursprungs in Deutschland? Und falls nicht: Woran wäre diese Recherche gescheitert? Gibt es Schätzungen?
Sandro Mattioli: In meinem Buch geht es auch um Zahlen, ich beschreibe etwa, wie es unter der Mithilfe von „mafianeindanke“ und dank der Grünen-Abgeordneten Irene Mihalic, einer Polizistin, dazu kam, dass man über Mitgliedszahlen der Mafia-Organisationen in Deutschland spricht. Aber ich bin in erster Linie ein Reporter, der Geschichten erzählt. Das macht mein Buch Germafia auch so besonders, weil es eben nicht trockener Stoff und reine Analyse ist, sondern aus einer Welt erzählt, die den meisten verschlossen bleibt, und einen tiefen Blick hinter die Kulissen ermöglicht.
DWN: Aber Zahlen sind doch wichtig!
Sandro Mattioli: Ich glaube nicht, dass man mit Zahlen die Leute hinterm Ofen vorlocken kann, auch wenn ich weiß, dass man sich in Deutschland gerne an Zahlen festhält. Mir geht es um qualitative Beschreibung und weniger um quantitative Analysen. Zahlen sind in diesem Bereich schwer zu ermitteln und ich glaube, niemand kann seriös abschätzen, wie viel allein die ’Ndrangheta in Deutschland investiert. Luigi Bonaventura sagte mir einmal, wenn die ’Ndrangheta all ihr Geld aus Deutschland abziehen würde, wäre das spürbar. Als Boss eines mächtigen Clans hatte er natürlich Einblick in Finanzstrategien der Organisation. Da aber das Spektrum der Schätzungen des Jahresumsatzes der ’Ndrangheta extrem weit ist und von ein paar Dutzend Milliarden Euro bis zu 220 Milliarden Euro reicht, erübrigen sich meiner Meinung nach weitere Fragen.
DWN: Spielen denn die klassischen Verbrechen, wie wir sie aus Filmen kennen – also Drogenschmuggel, Schutzgelderpressung, Auftragsmorde und Entführungen – auch noch eine Rolle?
Sandro Mattioli: Die ’Ndrangheta, um die es in Germafia hauptsächlich geht, hat in Deutschland eine wichtige Lektion gelernt: Im Jahr 2007 kam es im Rahmen einer seit Jahren schwelenden Auseinandersetzung zwischen zwei rivalisierenden Fraktionen zu einem Sechsfach-Mord in Duisburg. Das hat massiv Aufmerksamkeit auf die Organisation gelenkt, das kann sie aber nicht gebrauchen. In der Folge hat die Organisation Vorkehrungen getroffen, dass so etwas nicht mehr passiert.
Natürlich handeln die Clans weiter mit Drogen, die Gewinnmarge ist einfach sensationell und der Bedarf an Drogen steigt und steigt. Wichtig ist aber auch: Selbst wenn die ’Ndrangheta aktuell weniger durch Gewalttaten auffällt, hat sie sich in ihrem Kern nicht verändert. Sie ist und bleibt eine gefährliche kriminelle Organisation. Sie passt sich eben nur an, temporär. Das Beispiel Norditalien hat das gezeigt, dort kam zuerst das Geld, dann die Mafiamethoden. Oder auch eine Episode, die ich in meinem Buch beschreibe: Ein erfolgreicher Immobilienunternehmer wollte mich in der Schweiz einschüchtern und gab sich als Mitglied der ’Ndrangheta zu erkennen.
DWN: Berühmte Mafiajäger in Italien wie Giovanni Falcone und Paolo Borsellino sind ermordet worden, wobei Falcone in seinem Dienstwagen von einer Autobahnbrücke gesprengt wurde. Hatten diese beiden Ermittlungsrichter nur die Mafia als Gegner? Oder drohten sie, Verstrickungen der Mafia mit der Politik aufzudecken?
Sandro Mattioli: Ein roter Faden, der sich durch Germafia zieht, ist, dass die Mafia-Clans immer nur prosperieren können, wenn sie ein Unterstützerumfeld haben. Das bedeutet, dass wir Mafia-Aktivitäten in Deutschland auch nicht als rein italienische Angelegenheit sehen dürfen, sondern immer ein Netzwerk in den Blick nehmen müssen. Die Erfahrung zeigt, dass dazu auch Politiker gehören. Das hat sich also seit Falcone und Borsellino nicht geändert.
In Germafia beschreibe ich auch Äußerungen von aktuellen Mafia-Kronzeugen, dass Ihnen Geheimdienste bei ihren Finanzgeschäften mit großen Banken geholfen haben. Und es geht auch um Ermittlungen in Liechtenstein, wo verdeckte Ermittler in eine Zelle eingeschleust werden konnten und in ihren Berichten Hinweise darauf gaben, dass höchste Regierungskreise in Liechtenstein mit der ’Ndrangheta gemeinsame Sache machen.
DWN: Wie sieht es aus was die Kontakte der Mafia in die deutsche Politik anbelangt?
Sandro Mattioli: Ich bin weit davon entfernt, hier von einer breiten Unterwanderung zu sprechen. Allerdings zeigen Akten immer wieder, dass es mehr Kontakte zwischen Politik und Mafiosi gibt, als man denkt. Das ist insofern folgerichtig, als es der Strategie der ’Ndrangheta entspricht. Und da wenig Wissen über die Organisation vorhanden ist, geht diese Strategie auf. Wir bräuchten mehr Untersuchungsausschüsse wie aktuell im thüringischen Landtag, wo man solche Verstrickungen aufzuklären versucht. Aus meiner Sicht wäre es auch höchste Zeit, die lange Reihe an Verfehlungen im Kampf gegen die Mafia in Baden-Württemberg in den Blick zu nehmen. Ich gehe hier von Strafvereitelung im Amt aus. Wenn Sie beispielsweise in meinem Buch das Kapitel „Der Berater“ lesen, finden Sie starke Hinweise darauf, dass qualifizierten Hinweisen auf eine Druckerei für Falschgeld nicht nachgegangen worden ist, obwohl mindestens eine Person aus Stuttgart involviert gewesen sein soll.
DWN: Sie sind der Vorsitzende des Vereins „mafianeindanke“. Womit beschäftigt sich dieser Verein? Haben Sie konkrete Vorschläge, wie sich Politik und Gesellschaft gegen mafiöse Machenschaften wehren können?
Sandro Mattioli: Ja, unser Rechtsausschuss hat eine ganze Broschüre voll mit Vorschlägen erarbeitet, wie man Mafia-Aktivitäten in Deutschland besser begegnen kann, etwa mit einer Neufassung des Paragraphen 129, Bildung einer kriminellen Vereinigung, der mafiaspezifische Tatdelikte besser erfasst, oder der Einziehung von inkriminierten Vermögen in einem administrativen Verfahren – und nicht mehr als Teil eines Strafprozesses. „Mafianeindanke“ hat auch schon konkrete Verbesserungen erreicht, beispielsweise müssen Notarinnen und Notare sich dank unserer Initiative stärker im Kampf gegen Geldwäsche engagieren und sie haben zugleich Rechtssicherheit.
DWN: Eine Frage zum Schluss: Worin unterscheidet sich eigentlich die Mafia von ganz normaler Alltagskriminalität und politischer Korruption, wie sie leider auch ohne Mafia immer häufiger anzutreffen ist?
Sandro Mattioli: Vorweg: Ich stehe Aussagen kritisch gegenüber, die insinuieren, dass früher alles besser war. Gerade was Korruption anbelangt, wird sie heute mehr geächtet und es gibt eine stärkere Sensibilisierung. Früher konnte man die Ausgaben dafür ja komplett von der Steuer absetzen! Der Unterschied, den sie ansprachen, liegt aus meiner Sicht im Organisationsgrad und der Komplexität.
Die ’Ndrangheta ist eine hochgradig ausdifferenzierte Organisation, sie hat nach Aussagen von Kronzeugen sogar eigens Leute, die Bankiers für die Finanzgeschäfte der Organisation anwerben sollen. In meinem Buch beschreibe ich, wie schon 2013 Nicolino Grande Aracri, ein wichtiger Boss, sich mit einem Gefolgsmann austauscht über Bankgeschäfte. Man glaubt, einem Finanzexperten in der City zuzuhören, dabei saß der Mann in der kalabrischen Provinz. Man muss leider feststellen, dass die ’Ndrangheta bei dem, was sie tut, häufig sehr strategisch und intelligent vorgeht – bei aller Rohheit, die der Organisation ebenfalls zu eigen ist.
Info zur Person: Der Journalist Sandro Mattioli, geb.1975, arbeitet seit 2009 zur italienischen Mafia in Deutschland. Er traf seitdem viele Kronzeugen und Staatsanwälte und sprach mit unzähligen Ermittlern und Angehörigen von Mafia-Opfern. Mattioli ist Ansprechpartner für die Politik, Interviewpartner für Medien und hält regelmäßig Vorträge. Der Deutsch-Italiener berät Serien-, Podcast und Filmproduktionen, darunter einen der erfolgreichsten Podcasts des Jahrs 2023, „Mafia Land“, und eine für drei Emmys nominierte Doku von Vice News. Seit 2012 ist er Vorsitzender des Vereins mafianeindanke in Berlin. Mit seinen Kolleginnen und Kollegen engagiert er sich, damit Mafiaclans und Organisierte Kriminalität besser bekämpft werden, und erhält so vielfältigen Einblick in die politische Arbeit. Sein jüngstes Buch „Germafia“ ist am 5. Mai erschienen.