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Brückenallee 33: Der Geist eines wie vom Erdboden verschluckten Hauses im Hansaviertel

Lesezeit: 4 min
07.05.2024 16:19  Aktualisiert: 07.05.2024 16:19
Eine vergessene Adresse des alten Berlin - das Konzept eines gelebten Miteinanders und der Integration in einem stattlichen Patrizierhaus im Tiergarten - nur einen Steinwurf entfernt vom Schloss Bellevue, heutiger Wohnsitz des Bundespräsidenten. Die Liste der Bewohner könnte prominenter nicht sein für ein gutbürgerliches Wohnhaus in der kaiserlichen Hauptstadt. Dennoch waren die Geschichten des Hauses fast ausgelöscht und die Fundamente unter einer anderen bedeutenden Schicht begraben. Eine aktuelle Ausstellung in der Berliner Hansa-Bibliothek hat Immobilien neu gedacht (ING) veranlasst, die Geschichte des Gründerzeitbaus nachzuzeichnen und für das städtische Gedächtnis zu dokumentieren.
Brückenallee 33: Der Geist eines wie vom Erdboden verschluckten Hauses im Hansaviertel
Hochhäuser des Hansaviertels im Tiergarten anno 2012. Damals schlug die Hauptstadt die Bauten als Unesco-Welterbe vor. (Foto: dpa)
Foto: Wolfgang Kumm

Schicht für Schicht wurde hier zunächst abgetragen durch die wechselvolle Geschichte Berlins - und dann wieder neu aufgebaut. Wer weiß überhaupt noch, wo die historische Brückenallee einstmals wirklich verlief. Der Straßenname ausgelöscht, die Grundstücke und die Achsen aus dem Stadtplan getilgt, ein nobles Wohnviertel fast gänzlich verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt und nach dem Totalabriss vollständig überformt. Das ist selbst in der während des Zweiten Weltkriegs heftig von Bomben zerstörten Stadt Berlin recht ungewöhnlich. Zumeist ist immer noch wenigstens der Straßenverlauf nachvollziehbar und dadurch in Erinnerung geblieben. Nicht so hier am westlichen Ende des Großen Tiergartens, wo auf den abgeräumten Trümmergrundstücken ein ganz neuartiges Stadtquartier des selben Namens entstanden ist, das wie kein anderes das junge und lebenshungrige Nachkriegsberlin (West-Berlin) verkörpert.

Wie das Stadtviertel verschwand und überformt wurde

Die Rede ist vom alten und dem neuen Hansaviertel, das nach dem Zweiten Weltkrieg von mehr als 50 der damals berühmtesten Architekten und Baumeistern aus aller Welt „als Schaufenster der neuen Moderne" errichtete Wohnviertel am Tiergarten. Alvar Aalto, Le Corbusier, Walter Gropius, Oskar Niemeyer, Arne Jacobsen und Max Taut hinterließen hier ab 1957 anlässlich der Internationalen Bauausstellung „Interbau“ eine Kollektion von Wohnhäusern, die den Aufbruch in eine neue Zeit symbolisieren und seither als eine Art Pilgerstätte zum Pflichtprogramm eines jeden Architektur- und Kunststudenten gehören.

Dennoch sind die von Grünflächen durchzogenen hohen Häuser ein merkwürdig blutleerer Organismus in der neuen Stadt geblieben. Kaum jemand kennt jemanden, der dort tatsächlich in den anfangs wohl handverlesenen Wohnungen lebt oder der dort später gar eine leerstehende Wohnung im Anzeigenteil gefunden hätte. Es muss zwar möglich gewesen sein, aber weit herumgesprochen hat sich das nicht - die Lebensräume in den Häusern müssen irgendwie unter der Hand von Generation zu Generation weiter gegeben worden sein. So fühlt es sich jedenfalls an.

Wohnhaus der Integration - ein noch unbekanntes Konzept

Nun bekommt man in der Hansa-Bibliothek erstmals ein Gespür dafür, woher die Geschichtsvergessenheit herrühren könnte. Das neue Hansaviertel ist in der Zeit des großen Schweigens und Verschweigens entstanden. Niemand war damals schon bereit zu hinterfragen, wie die harmonische Nachbarschaft davor aufgelöst, zerstört und schließlich entwurzelt wurde. Die Brückenallee 33 stand nämlich noch, ramponiert zwar, aber behauptet. Es wurde erst abgebaggert, als das zerstörte Land Freiflächen für eine vorbildliche demokratische Zukunft gesucht hat.

Das Haus Brückenallee 33 wurde 1892 von Regierungsbaumeister Georg Levy errichtet und gehörte die meiste Zeit über der brandenburgischen Adelsfamilie von der Schulenburg. Die herrschaftlichen Wohnungen im Vorderhaus hatten bis zu acht Zimmer. Schauen wir uns deshalb einige der Namen auf dem stillen Portier an, die von den Ausstellungsmachern in alten Adressbüchern zusammengetragen wurden und zu einer diversen Hausgemeinschaft deutscher Historie verdichtet haben. In dem herrschaftlichen Haus kreuzten sich über nur vier Etagen - vom Parterre bis zum Studio unterm Dach - während der Kaiserzeit und dann der Weimarer Republik die unterschiedlichsten Lebensläufe. Es wohnten hier im ersten Stock der Leibarzt Kaiser Wilhelms II. und seiner Gemahlin Augusta, der Mediziner Friedrich Wilhelm Karl von Ilburg. Über ihm die jüdische Familie Freudenheim, die 1870 aus Samter bei Posen nach Berlin gezogen war und als Holz- und Furnierhändler zu Vermögen kamen und sogar am Bau des Reichstags beteiligt gewesen sein sollen. Und dann hatte auch der Chef des kaiserlichen Generalstabes, Helmuth von Moltke der Jüngere, sein Domizil - im repräsentativen Parterre.

Der Kaiser grüßend im Treppenhaus auf Weg zum Leibarzt

Wie selbstverständlich gingen der Generalleutnant und der jüdische Kaufmann Ernst Freudenheim sowie der zionistische Maler Hermann Struck, oben im Studio lebend und ein guter Freund Theodor Herzls, im Hause ein und aus. Auch andere Persönlichkeiten mit klangvollen Namen hatten hier zuvor, zeitgleich oder später ein Zuhause gefunden: der Erfinder Dr. Max Levy etwa und die Sozialreformerin Josephine Levy-Rathenau, Dr. Emil Passburg, Leopold von Kleist, Robert und Margarete von Keyserlingk. Im Hinterhaus lebten die Familien Hilbert, Tornow, Neugebauer und Schöppenthau. Laut Berliner Adressbuch waren sie Handwerksmeister, Schneider, Droschken-Kutscher oder Kontor-Diener. „Das Haus war tatsächlich für 50 Jahre ein Kaleidoskop der damaligen Zeit“, sagt Joachim Schlör, emeritierter Professor der Universität Southampton. Das soziale Miteinander sei in der Zeit eine fast unvorstellbare Normalität und Selbstverständlichkeit gewesen, die einstmals das gesamte Hansaviertel geprägt habe.

Tom Freudenheim trug Nachlass nach Berlin zurück

Ernst Freudenheim, dessen Familie die Nazis in den 30er-Jahren aus der Heimat in die USA vertrieben hatten, blickte nach seiner Emigration voller Nostalgie zurück und hinterließ seiner Familie einen Brief mit diesen Erinnerungen. Darin überlieferte er, wie ihm immer wieder Kaiser und Kaiserin auf dem Weg zur Visite im Treppenhaus begegnet seien, freundlich grüßend, händeschüttelnd, nach dem Namen erkundigend. Fotos und Dokumente stammen aus dem Nachlass, den sein Sohn Tom Freudenheim zur Verfügung gestellt hat. Er vor 25 Jahren einige Jahre als Vize-Direktor zum Aufbau des Jüdischen Museums in der Heimatstadt seines Vaters und Großvaters zurückgekehrt und hat damit entscheidend zum Verständnis der deutsch-jüdischen Symbiose Deutschlands beigetragen. Dem Quellen-Schatz Tom Freudenheims ist es zu verdanken, dass das Recherche-Team des Vereins Gleis 69 - dem Gedenkort der Deportationen am Güterbahnhof Moabit - einen Fixpunkt für ihre Recherchen hatten.

Der Verlust des historischen Stadtviertels in der Bombennacht des 22. November 1943 wiegt schwer. Das Haus stand ziemlich genau vis-à-vis vom Theatersaal der heutigen Akademie der Künste, an der nach dem Leiter der „Interbau“, Otto Bartning, benannten Allee. Ihr Verlauf (über neues Pflaster und Asphalt) führt heute im weiten Bogen durch die Gartenstadt, ohne dass die hier einst geradewegs nördlich zur Spree zulaufende Brückenallee erkennbar geblieben ist. Das Haus hätte nicht abgerissen werden müssen. Aber nun lebt es wenigstens in einer Ausstellung fort und in der Phantasie der Besucher, die sie besucht haben.

                                                                            ***

Peter Schubert ist stellv. Chefredakteur und schreibt seit November 2023 bei den DWN über Politik, Wirtschaft und Immobilienthemen. Er hat in Berlin Publizistik, Amerikanistik und Rechtswissenschaften an der Freien Universität studiert, war lange Jahre im Axel-Springer-Verlag bei „Berliner Morgenpost“, „Die Welt“, „Welt am Sonntag“ sowie „Welt Kompakt“ tätig. 

Als Autor mit dem Konrad-Adenauer-Journalistenpreis ausgezeichnet und von der Bundes-Architektenkammer für seine Berichterstattung über den Hauptstadtbau prämiert, ist er als Mitbegründer des Netzwerks Recherche und der Gesellschaft Hackesche Höfe (und Herausgeber von Architekturbüchern) hervorgetreten. In den zurückliegenden Jahren berichtete er als USA-Korrespondent aus Los Angeles in Kalifornien und war in der Schweiz als Projektentwickler tätig.

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