Seit dem Brexit-Referendum 2016, das den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union besiegelte, wird in Deutschland immer wieder über einen EU-Austritt, den sogenannten „Dexit“, diskutiert. Die Alternative für Deutschland (AfD), seit ihrer Gründung 2013 EU-skeptisch eingestellt, hat diese Debatte intensiviert und wiederholt eine Volksabstimmung über Deutschlands EU-Mitgliedschaft gefordert, ähnlich der in Großbritannien. Dies steht im Gegensatz zur Mehrheit der politischen Parteien in Deutschland, die für den Verbleib in der EU ist.
In jüngster Zeit signalisierte jedoch der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla eine Kursänderung. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk erklärte er 2024: „Für den sogenannten 'Dexit' ist es zu spät.“ Stattdessen strebe die AfD nun an, „gemeinsam mit europäischen Partnern für eine Reform der Europäischen Union“ zu arbeiten.
Zuvor argumentierte die AfD, dass ein Austritt Deutschlands aus der EU notwendig sei, um die nationale Souveränität und Demokratie zu schützen. Sie kritisierte das Demokratiedefizit der EU und sah die supranationale Institution als Bedrohung für die Selbstbestimmung der Mitgliedsstaaten.
Die AfD betrachtet auch den Euro als gescheitert und fordert eine grundlegende Reform der EU hin zu einem Bund souveräner Nationen. Wirtschaftlich argumentiert die Partei, dass die EU-Mitgliedschaft Deutschland mehr schade, als nütze, insbesondere durch finanzielle Transferzahlungen und Rettungspakete. Ein „Dexit“ wird als Möglichkeit zur Wiedererlangung politischer und wirtschaftlicher Kontrolle betrachtet.
Wirtschaftliche Implikationen des „Dexit“
Eine aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) beleuchtet die potenziellen wirtschaftlichen Folgen des „Dexits“. Nach der Analyse würde ein solcher Schritt Deutschland schätzungsweise allein in den ersten fünf Jahren 690 Milliarden Euro an Wertschöpfung kosten. Dies entspricht einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um etwa 5,6 Prozent.
„Es würden aufgrund des „Dexits“ rund 2,5 Millionen Arbeitsplätze verloren gehen, weil Deutschland als Exportnation stark vom Handel mit anderen Staaten abhängig ist, insbesondere anderer EU-Mitglieder, bekämen Unternehmen und Verbraucher die Folgen hierzulande deutlich zu spüren“, erklärt Jürgen Matthes, Leiter des Clusters Internationale Wirtschaftspolitik, Finanz- und Immobilienmärkte am IW.
Die Studie des IW vergleicht Deutschlands Situation mit der hypothetischen eines EU-Austritts und zieht Parallelen zu den negativen Auswirkungen des Brexits auf Großbritannien.
Konsequenzen des Brexits
Die Entscheidung des Vereinigten Königreichs, die EU zu verlassen, führte zu erheblichen Handelshemmnissen und wirtschaftlichen Nachteilen. Vor dem Brexit-Referendum florierte die britische Wirtschaft, doch die Unsicherheit und die nachfolgenden politischen Entscheidungen bremsten dieses Wachstum. Die Abwertung des britischen Pfunds um fast ein Fünftel erhöhte die Inflation und senkte die Realeinkommen, was wiederum die Konsumausgaben reduzierte.
Das Land verlor durch den Brexit nicht nur den freien Zugang zum größten Handelsblock der Welt, sondern sah sich auch mit aufwendigen Grenzkontrollen und Handelsbarrieren konfrontiert. Diese Veränderungen behinderten den Handel erheblich und führten zu einem deutlichen Rückgang der Exporte. Die Hoffnungen auf neue, vorteilhafte Handelsabkommen außerhalb der EU erfüllten sich nicht in dem erhofften Maße. Die Studie des IW zeigt, dass die britische Regierung lediglich geringfügige positive Effekte durch neue Handelsabkommen mit Australien und Neuseeland erzielen konnte, die die Verluste nicht annähernd ausglichen.
Handelsbeziehungen, Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze
Deutschlands eng verwobene Handelsbeziehungen mit anderen EU-Ländern würden durch einen Austritt stark beeinträchtigt. Seit dem Brexit haben die deutschen Exporte ins Vereinigte Königreich erheblich gelitten, während die Ausfuhren in andere EU-Länder deutlich stiegen. Ein „Dexit“ könnte ähnliche oder schwerwiegendere Effekte nach sich ziehen, was die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen global beeinträchtigen würde. Allein im viertgrößten und bevölkerungsreichsten Bundesland, Nordrhein-Westfalen (NRW), könnte es zum Verlust von Tausenden Arbeitsplätzen kommen. Die nordrhein-westfälischen Unternehmensverbände haben schon in der Vergangenheit vor den fatalen wirtschaftlichen Folgen eines deutschen EU-Austritts gewarnt. „Ein Dexit würde für NRW einen Einbruch von mehr als fünf Prozent der Wirtschaftsleistung bedeuten und fast 490.000 Arbeitsplätze kosten“, sagte der Präsident der Landesvereinigung der Unternehmensverbände Nordrhein-Westfalen, Arndt Kirchhoff.
Die langfristigen wirtschaftlichen Schäden eines „Dexits“ könnten weiter steigen und Deutschland in eine anhaltende wirtschaftliche Krise stürzen. Politisch könnte ein solcher Schritt die Stabilität der gesamten EU gefährden und zentrifugale Kräfte innerhalb der Union stärken, was zu weiteren Austrittsüberlegungen anderer Mitgliedstaaten führen könnte.
Wirtschaftliche und politische Risiken eines „Dexits“
Die Studie des IW verdeutlicht, dass die wirtschaftlichen und politischen Risiken eines „Dexits“ immens wären: Die deutschen Erfahrungen mit dem Binnenmarkt der EU und die negativen Folgen des Brexits sollten eine Warnung sein, die Vorteile der europäischen Integration zu bewahren. Auch die politischen Verwerfungen könnten die Stabilität der EU insgesamt gefährden und zentrifugale Kräfte stärken, die andere Mitgliedstaaten ermutigen könnten, ebenfalls auszutreten. Diese Dynamik könnte die Europäische Union destabilisieren, die politische Integration in Europa gefährden und den Zerfall der EU einleiten.
Ein EU-Austritt Deutschlands könnte die Industrie durch den Verlust des Binnenmarkts und Handelshemmnisse erheblich beeinträchtigen, wie Forschungen des Instituts der deutschen Wirtschaft darlegen. Auch die Studien der Bundeswehr Universität München weisen darauf hin, dass in so einem Fall sicherheitspolitisch die Zusammenarbeit bei Verteidigung und Terrorismusbekämpfung geschwächt wird. Langfristig könnte dies Deutschlands wirtschaftliche und sicherheitspolitische Stellung in Europa und global untergraben, warnt auch eine Analyse des „European Council on Foreign Relations“ in Berlin.
Angesichts der potenziellen Kosten und politischen Risiken eines Austritts erscheint es den Studienführern, die Diskussion um den „Dexit“ mit Vorsicht und einem klaren Bewusstsein für die möglichen langfristigen negativen Konsequenzen zu führen.