Weltwirtschaft

Erstaunliche Entwicklung trotz Korruption: China als Spiegel globaler Realitäten - TEIL 2

Lesezeit: 6 min
28.05.2024 09:07
China hat sich trotz regelmäßiger Korruptionsskandale enorm entwickelt. Dabei wird generell angenommen, dass erst eine Überwindung von Korruption den USA erlaubt hat, wirtschaftlich zu wachsen und sich derart zu entwickeln. Eine genauere Betrachtung der Thematik zeigt, dass Korruption sowohl in den USA als auch in China auf verschiedene Weise Wachstum beeinflusst und gefördert hat, eine Tatsache, die von Mythen über den Westen und mangelhafter Korruptionsermittlung verschleiert wird.

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Wie sich Korruption entwickelt

Die Qualität der Korruption wird von den offiziellen Kennzahlen übersehen, da sie ihr Objekt als eindimensionales Problem betrachten, das auf einer Skala von Null bis Hundert abgebildet werden kann. Aber Korruption kann viele Arten annehmen, die unterschiedliche Schäden anrichten. Deshalb unterscheide ich vier Kategorien: Bagatelldiebstahl (Erpressung durch niedrige Beamte), schweren Diebstahl (Veruntreuung durch Politiker), Schmiergeld (kleine Bestechungen, um bürokratische Hürden oder Schikanen zu umgehen), und „Eintrittsgeld“ (große Bestechungsgelder für exklusive, lukrative Privilegien wie Verträge oder Unterstützung).

Bagatelldiebstahl und schwerer Diebstahl wirken wie giftige Chemikalien und zerstören jede Gesellschaft. Schmiergeld wirkt mehr wie ein Schmerzmittel: Es kann Unternehmen helfen, Bürokratie zu überwinden, aber es hilft ihnen nicht beim Wachstum. “Eintrittsgeld“ hingegen wirkt wie Anabolika: Kapitalisten belohnen Politiker nicht nur dafür, Hindernisse aus dem Weg zu schaffen, sondern kaufen sich damit auch lukrative Privilegien und Gefälligkeiten. Dabei werden alle Beteiligten reich, aber mit der Zeit häufen sich die gefährlichen Nebenwirkungen.

Über zwei Jahrhunderte hinweg hat sich die Korruption in Amerika verändert: Offener Diebstahl und geringfügige Bestechung haben sich zu legalem „Eintrittsgeld“ entwickelt. Wegen der Skandale der Blütezeit wurden in der progressiven Phase erhebliche Verwaltungsreformen durchgeführt. Das System politischer Anreize wurde abgebaut und durch eine professionelle Verwaltung ersetzt, die ihr Einkommen nicht mehr mit Sondergebühren oder Bestechungsgeldern auffrischen musste. Transparenz und Buchhaltung beendeten den Missbrauch öffentlicher Gelder, und Machtmissbrauch wurde durch investigative Journalisten aufgedeckt. Ende des 20. Jahrhunderts schrieb die Historikerin Rebecca Menes dann: „Der bemerkenswerteste Aspekt der Veruntreuung war, wie wenig sie stattfand“.

Aber der Einfluss des Kapitals auf die Regierung ging weiter. Die Eisenbahn, der lukrativste Industriesektor aller Zeiten, expandierte – und professionalisierte gleichzeitig ihre Lobbytätigkeit. Statt Politiker zu bestechen, bezahlten die Unternehmen nun Einflussgruppen in Washington, um sich mit ihrer Hilfe Subventionen, Landrechte und andere Gefälligkeiten zu sichern. Dieses System existiert im Prinzip noch heute: Zwischen 2015 und 2023 wurden in den USA auf staatlicher und bundesstaatlicher Ebene 46 Milliarden Dollar für Lobbyarbeit ausgegeben. Ökonomen des Internationalen Währungsfonds zeigen in einer Studie, dass US-Banken, die stärkere Lobbyarbeit betrieben, auch höhere Risiken eingingen und nach der Finanzkrise von 2008 stärker von Rettungsmaßnahmen profitieren konnten.

Seit den 1980ern findet in China – viel später als in den USA – eine ähnliche Entwicklung statt: Während der ersten Stadien der Entwicklung waren auch dort Diebstahl, Bestechung und Erpressung üblich. Aber in den 1990ern führte die Regierung Reformen durch, um rechtswidrige Handlungen besser unter Kontrolle zu bekommen.

Wie die Abbildung unten zeigt, gab es im China der 1990er viel mehr Korruption durch Diebstahl (Veruntreuung und Missbrauch öffentlicher Mittel) als durch Austausch (Bestechung). Aber innerhalb nur eines Jahrzehnts kehrte sich dieses Muster um: Die Veruntreuung ging zurück, während immer mehr bestochen wurde – mit immer größeren Summen und bei immer höheren Beamten. Aber die institutionalisierten Geldzuwendungen, wie sie in den USA üblich sind, sind in China immer noch illegal und in persönliche Beziehungen eingebettet.

Quelle: Project Syndicate

Die Gefahren „wirtschaftlicher Anabolika“

Chinas altes Entwicklungsmodell konzentrierte sich völlig auf das BIP und vernachlässigte damit die Qualität des Wachstums. In diesem Umfeld war „Eintrittsgeld“ im Übermaß vorhanden. So konnte sich eine Handvoll Kapitalisten bereichern, die sich Privilegien kauften und die Politiker belohnten, die in ihrem Interesse handelten.

Aber natürlich animierte dieses System die Beamten auch dazu, perverse, unhaltbare Wachstumsmodelle zu verfolgen, die ihnen selbst und ihren Freunden maximale Vorteile verschafften und auf Kosten der sozialen Wohlfahrt gingen. Ab der 2000er Jahre verschacherten die Lokalpolitiker Grundstücke und investierten zu stark in Immobilien, weil dies die einfachste Methode war, die öffentlichen Kassen und ihre eigenen Taschen zu füllen.

Unterdessen hatten diese Beamten kaum Anreize, für die vielen Einwanderer vom Land, die in Fabriken und auf Baustellen arbeiteten, günstige Wohnmöglichkeiten zu schaffen. Daher konnten sich Millionen Arbeiterfamilien keine dringend benötigten Wohnungen leisten, während sich die Reichen leere Villen unter den Nagel rissen.

Zu ihren besten Zeiten häuften Chinas politisch unterstützte Immobilienentwickler immer mehr Land und günstige Kredite an. Die Regulierungsbehörden hatten bei riskanten Geschäften – wie dem Verkauf von Immobilien vor ihrer Fertigstellung – oft ein Auge zugedrückt oder diese Geschäfte erst möglich gemacht. An dieser 20-jährigen Jagd nach schnellen Gewinnen waren sehr viele Politiker beteiligt. So wird auch gegen den ehemaligen Justizminister Tang Yijun ermittelt – wegen seiner Verbindungen zu Evergrande, dem Immobiliengiganten, der letztes Jahr Insolvenz anmelden musste.

2020 kündigte die Zentralregierung „drei rote Linien“ (Kreditrestriktionen) an, um die übermäßige Verschuldung im Immobiliensektor abzubauen. Damit wurde der exklusive Zugang der Entwickler zu leichten Krediten beendet, und das Kartenhaus brach zusammen. Eins der ersten Opfer war Evergrande, dessen Gründer Hui Ka Yan einst der reichste Mann Asiens war. Viele Familien, die ihre gesamten Ersparnisse in von Evergrande gebaute Wohnungen gesteckt hatten, waren nun obdachlos – und auch Zulieferer wurden nicht bezahlt, was einen Teufelskreis von Schulden, Arbeitsplatzverlusten und Konsumschwäche auslöste.

Präsident Xi Jinping hat die Blütezeit seines Landes von seinen Vorgängern geerbt. Während sich frühere chinesische Staatschefs hauptsächlich darum kümmern mussten, durch Wachstum die Armut zu verringern, muss Xi sich nun mit der Vetternwirtschaft und den spekulativen Blasen beschäftigen. Mit seinem Kommando- und Kontrollansatz will er die kapitalistischen Exzesse im Land beenden und einen sauberen, qualitativ hochwertigen Entwicklungsweg vorantreiben, der auf technologischen Innovationen beruht. Im Gegensatz zu den progressiven US-Politikern im letzten Jahrhundert lehnt er politischen Aktivismus als Lösung gegen unausgewogenes Wachstum ab.

Ob Xi seine Strategie des „Roten Progressivismus“ weiter durchziehen kann, bleibt abzuwarten. Die historische Entwicklung in den USA lässt darauf schließen, dass jahrelange, schmerzhafte Anpassungen nötig sein werden, um der Wirtschaft nach dem Platzen einer Blase wieder auf die Füße zu helfen.

Eine größere Perspektive

Die allgemeine Sichtweise, Korruption behindere das Wirtschaftswachstum, die auf länderübergreifenden Studien mit globalen Indikatoren aufbaut, ist zu stark vereinfacht: Indikatoren wie der CPI erfassen in erster Linie – oder gar ausschließlich – die „Korruption der Armen“, während die „Korruption der Reichen“ viel schwerer erkenn- und messbar ist. Aber dies ist keine Entschuldigung dafür, so zu tun, als existiere die „Korruption der Reichen“ gar nicht.

Zerlegt man die Korruption in ihre verschiedenen Arten, sieht man, dass diese auf unterschiedliche Weise mit dem Einkommen korrelieren. Laut meinem eigenen Prototyp eines Index verschiedener Korruptionsarten, der zwischen den oben beschriebenen vier Varianten unterscheidet, konzentriert sich Schmiergeld in erster Linie auf arme Länder, während „Eintrittsgeld“ sowohl in armen als auch in reichen Ländern zu finden ist. Auch im Schattenfinanzindex des Netzwerks für Steuergerechtigkeit sind die Länder mit hohem Einkommen an der Spitze. Diese zwei Ergebnisse stehen in krassem Kontrast zum CPI, der die reichen Länder immer wieder als die saubersten darstellt.

Quelle: Project Syndicate

Natürlich bedeutet die Tatsache, dass es in reichen Ländern „Eintrittsgeld“ gibt, nicht, dass es das Wachstum fördert. Stattdessen sollte es als zentraler Bestandteil der kapitalistischen Vetternwirtschaft verstanden werden – als Ursache übermäßiger Risiken und Verzerrungen, die schließlich zu Krisen werden, wie die asiatische Finanzkrise 2007, die US-Finanzkrise 2008 und Chinas anhaltende Immobilienprobleme zeigen.

Sowohl Amerika als auch China haben es während ihrer Blütezeit auf bewundernswerte Weise geschafft, den materiellen Lebensstandard hunderter Millionen Menschen zu verbessern. Aber ihr Wachstum war dabei weder fair noch nachhaltig. Letztlich bieten uns beide Zeiträume eine Lektion über unkontrollierte kapitalistische Vetternwirtschaft – und dienen keinesfalls als Modelle zur blinden Nachahmung.

Außerdem sollten die Ökonomen den Ratschlag ihres Kollegen Ha-Joon Chang beherzigen, „sowohl die bestehende als auch die historische reale Welt stärker zu beachten – und nicht die märchenhafte Interpretation der Weltgeschichte, für die die allgemeine institutionelle Ökonomie heute steht“.

In der tatsächlichen Geschichte des Kapitalismus gab es keinen einzelnen, mutigen Schritt, mit dem die westlichen Gesellschaften ideale Institutionen oder die perfekte Verwaltung geschaffen und damit ewigen Wohlstand erreicht hätten. Die politischen und institutionellen Reformen der frühen Entwicklung des Westen waren immer nur partiell, genau wie im modernen China. Bei der oben beschriebenen „Glorreiche Revolution“ wurde die Monarchie durch die demokratische Repräsentanz reicher Eliten gezähmt – und auf ähnliche Weise hat Deng Xiaoping die Macht im chinesischen Ein-Parteien-Systems teilweise begrenzt. In den USA war die Korruption zunächst sehr hoch und entwickelte sich erst später hin zum legalisierten „Eintrittsgeld“. Auch China ist diesen Entwicklungsweg teilweise schon gegangen.

Die Politiker anderer Entwicklungsländer wiederum dürfen die Historie der heutigen reichen Länder nicht zu sehr vereinfachen. Natürlich muss die Korruption unbedingt bekämpft werden, aber dies allein genügt nicht, um dauerhaftes Wirtschaftswachstum zu erreichen. Wie ich in How China Escaped the Poverty Trap (Wie China der Armutsfalle entkommen ist) beschrieben habe, spielen auch weitere Faktoren wie freundliche internationale Beziehungen, politische Stabilität, flexible Verwaltung oder privates Unternehmertum eine Rolle. Und auch China wurde durch sein eigenes, rekordverdächtiges Wachstum nicht für alle Zeiten glücklich, sondern muss nun die neuen, lästigen Probleme eines Landes mit mittlerem Einkommen lösen.

In der Fortsetzung wird es vertieft um die verschiedenen Qualitäten von Korruption gehen und wie diese sich genau in der Entwicklung Chinas und der USA widerspiegeln.

Copyright: Project Syndicate, 2024.

www.project-syndicate.org

Zum Autor:

Yuen Yuen Ang ist Professorin für politische Ökonomie an der Johns Hopkins University, ist Verfasserin von How China Escaped the Poverty Trap (Cornell University Press 2016) und China’s Gilded Age (Cambridge University Press 2020).


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