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Derivate Risiken: Verschlingt der Finanzsektor die Realwirtschaft?

Lesezeit: 9 min
08.09.2024 12:40  Aktualisiert: 14.12.2030 14:31
Das globale Derivate-Geschäft beträgt ein Vielfaches der Weltwirtschaft. Manche Experten sehen Optionen, Zertifikate, Swaps und CFDs als reine Spekulationsinstrumente und tickende Zeitbombe im fragilen globalen Finanzsystem. Welche Gefahren bergen Derivate und wird ihr systemisches Risiko massiv unterschätzt? Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten analysieren.
Derivate Risiken: Verschlingt der Finanzsektor die Realwirtschaft?
Bei einer großen Krise am Derivate-Markt könnte die gesamte Weltwirtschaft mit in den Abgrund gerissen werden (Bild: iStockphoto.com/photobank kiev).

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Derivate - aus einem Basiswert abgeleitete Finanzinstrumente - sind aus dem globalen Finanzsystem nicht mehr wegzudenken. Zu den am meisten gehandelten Derivaten gehören Terminkontrakte (Futures), Optionen, Differenzkontrakte (CfDs) und Swaps. Speziell in Deutschland erfreuen sich Zertifikate und Optionsscheine großer Beliebtheit. Genaueres über deren Funktionsweise, individuelle Risiken und Praxistipps für Privatanleger können Sie in unserem ausführlichen Ratgeber über Derivate lesen.

Die komplexen Hebelprodukte sind seit Jahrzehnten heftig umstritten. Das liegt allem daran liegt, dass heutzutage zunehmend reine Finanzderivate ohne wirklichen realwirtschaftlichen Nutzen den Markt dominieren. In den Augen der Skeptiker sind Derivate eine tickende Zeitbombe, deren Gefahren die Vorteile weit überwiegen. Im Folgenden untersuchen den globalen Einfluss und insbesondere die systemischen Risiken von Derivaten.

Warren Buffett warnte vor „Zeitbomben am Finanzmarkt

Der berühmte Investor Warren Buffett ist einer der bekanntesten Kritiker von Derivaten. Bereits 2002 schrieb er im Jahresbericht von Berkshire Hathaway, dass er und sein Unternehmen Derivate als „Zeitbomben“ betrachten, und zwar nicht nur für die beteiligten Vertragspartner, sondern auch für das Wirtschaftssystem insgesamt. Es seien „finanzielle Massenvernichtungswaffen, die Gefahren bergen, die jetzt zwar verborgen, aber potenziell tödlich sind“.

Doch unbeeindruckt von Buffets Warnungen ist das Handelsvolumen von Derivaten in der Folge rapide angestiegen. Trotz eines zwischenzeitlich starken Rückgangs nach der Weltfinanzkrise ab 2007, welche auch die Gefahren dieser komplexen Wertpapiere offenbarte, werden sie weiterhin von Banken und Unternehmen aus aller Welt genutzt.

Derivate als Spekulationsinstrument

Der Ursprung von Derivaten liegt in dem Absicherungs-Bedürfnis von Unternehmen, Banken und Vermögensverwaltern bezüglich Zahlungsströmen, Zinsen und Aktiva/Passiva in der Bilanz. Neben der Absicherung gibt es aber noch ein zweites Motiv für den Gebrauch von Derivaten – die Erzielung von Gewinnen, gemeinhin etwas herabwürdigend als Spekulation bezeichnet.

Durch den Einsatz von Derivaten können geschulte und professionelle Investoren Gewinnchancen ergreifen, ohne dabei die Bilanz und das Eigenkapital zu riskieren. Beispielsweise können statt hoher Aktienquoten im Gesamtportfolio gezielt Kaufoptionen auf Aktienindizes oder einzelne Titel gekauft werden. Dabei muss nur ein Bruchteil der Summe als anfängliche Prämie ausgegeben werden. Das Verlustrisiko ist also eng begrenzt. Doch das Gewinnpotential ist groß, weil solchen Finanzprodukten eine große Hebelwirkung innewohnt. Hebel-Strategien sind vor allem bei niedriger Volatilität der Aktien sowie bei niedrigen Zinsen attraktiv.

Freilich können solche Geschäfte auch aus dem Ruder laufen. Spätestens, wenn Derivate Ansprüche auf andere Derivate verbriefen, wird es abenteuerlich. Trotzdem ist eine Differenzierung wichtig. Produkte wie etwa Futures-Optionen haben durchaus ihre Berechtigung, nämlich vor allem die Absicherung über Short-Futures mit begrenztem Verlustrisiko zu ermöglichen. Ähnliches lässt sich über Swap-Optionen („Swaptions“) sagen.

Anderseits gibt es da allerlei Zertifikate und exotische Optionsscheine, die nun wirklich kein Mensch braucht. Und Casino-Papiere wie Binäre Optionen, die so etwas wie ein besonders unvorteilhaftes – mitunter gar gezinktes – Roulette-Spiel an den Märkten darstellten, wurden von der Bafin vollkommen zurecht verboten.

Der neueste Schrei am Markt sind sogenannte ODTE-Optionen („Zero-Days-to-Expiration“), die noch am selben Tag, an dem sie aufgelegt wurden, wieder verfallen. Es handelt sich also um Optionen mit einer Lebenszeit von einem Tag. An manchen Handelstagen machen Eintages-Optionen mehr als die Hälfte des gesamten Optionsvolumens im US-Leitindex SP500 aus.

Der volkswirtschaftliche Nutzen mancher Derivate geht gegen Null. Trotzdem haben alle am Terminmarkt gehandelten Finanzprodukte einen Einfluss auf die Realwirtschaft, indem sie Preise am echten physischen Markt (Spotmarkt) bewegen. Das kann etwa über das wirtschaftliche Kalkül von Rohstoff-Produzenten passieren, die auf einmal einen Anreiz zum Horten haben, weil der Terminpreis ohne rationalen Grund viel höher liegt als der Spotpreis. Ein anderes Beispiel sind Absicherungs-Geschäfte von Verkäufern jener ODTE-Call-Optionen am Aktienmarkt, die einen sich selbst verstärkenden Aufwärtstrend entfachen können. Weil die Finanzwirtschaft zigmal größer als die Realwirtschaft ist, können solche Verwicklungen sehr problematisch sein.

Eine Billiarde Dollar an (Buch)-Ansprüchen auf der Welt

Das weltweite Derivate-Volumen dominieren professionelle Anleger, also Großbanken, Institutionelle Investoren und Hedgefonds. Es gibt spezialisierte Derivate-Börsen wie die „Chicago Mercantile Exchange (CME)“ und die „ICE Futures Europe“. Aber der Löwenanteil des Derivate-Handels passiert außerbörslich („over the counter“, kurz OTC). Bei bestimmten Derivaten wie Swaps, CfDs und Zertifikaten findet der Handel fast ausschließlich OTC statt – auf Direkthandelsplätzen oder teils sogar unabhängig von klassischen Brokern in sogenannten „Dark Pools“. Der OTC-Handel ist ein Spielfeld, das aufgrund höherer Risiken und Intransparenzen fast nur von Profis heimgesucht wird.

Laut Zahlen der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) betrug Ende 2022 allein der Marktwert – nicht zu verwechseln mit dem viel größeren Nominalwert – aller außerbörslich vereinbarten Derivatekontrakte 20,7 Billionen (20.700 Milliarden) Dollar, wobei ein Anteil von knapp 80 Prozent allein auf Zins- und Währungs-Kontrakte entfiel. Im Vergleich zu drei Jahren zuvor (11,6 Billionen Dollar) hat sich der Wert fast verdoppelt, liegt aber heute immer noch niedriger als am Zenit während der Finanzkrise im Jahr 2008 (35 Billionen). Laut BIZ sind vorwiegend die Zinserhöhungen der Notenbanken für diesen Anstieg verantwortlich, weil sie den Durchschnittswert von Zins-Derivaten erheblich vergrößert hätten.

Zum Vergleich: Der kumulierte Marktwert aller OTC-Derivate liegt demnach etwas höher als der Wert allen von der Menschheit bisher geschürften physischen Goldes von aktuell rund 17 Billionen Dollar, aber um mehr als den Faktor Fünf niedriger als die Marktkapitalisierung aller an den globalen Aktienbörsen gehandelten Unternehmen mit grob 111 Billionen Dollar. Der Gesamtwert aller Derivate wird auf über eine Billiarde (Tausend Billionen) Dollar geschätzt, was grob dem Zehnfachen der globalen Wirtschaftsleistung von 105 Billionen entspricht! Doch diese Schätzungen beziehen sich nicht mehr auf auf den Marktwert der Papiere, sondern ihren Nominalwert (Nennwert).

Die Nominalwerte geben ein falsches Bild vom tatsächlichen Risiko. Bei den meisten Derivatekontrakten wird der Nennwert nicht ausgetauscht und der Marktwert beträgt nur einen kleinen Bruchteil davon. Der Nominalwert ist ein auf dem Basiswert beruhender Referenzbetrag, also beispielsweise der Aktienkurs bei einer Aktien-Option oder das Volumen einer Anleihe bei einer Kreditausfallversicherung. Es ist auch gängige Praxis, dass Finanz-Institutionen derivative Forderungen und Verbindlichkeiten gegeneinander aufrechnen können („netting“). Dadurch schrumpfen die vergleichsweise niedrigen Marktwerte der Derivate-Positionen in den Bilanzen noch mehr und erreichen selbst bei den weltumspannenden Großbanken nur zweistellige Milliardenbeträge.

Derivaten-Risiken – bis hin zum Systemcrash

Trotzdem ist der Einsatz von Derivaten keine Nebensache. Zentral und immer präsent ist das Gegenpartei-Risiko. Was hilft dagegen? Nicht alle Eier in einen Korb legen, also viele verschiedene Gegenparteien haben und nicht zu hohe Forderungen bei einer einzelnen Partei. Auch risikomindernd wirkt eine entgegengesetzte Positionierung in ähnlichen Kontrakten.

Zudem gibt es zahlreiche individuelle Risiken, die weit über das offensichtliche Verlustrisiko durch unvorteilhafte Entwicklungen des unterliegenden Basiswerts bestehen. Ein Teil der individuellen Risiken ergibt sich nicht aus gieriger Spekulation, sondern aus ungleichen Buchhaltungsvorschriften etwa bezüglich Bewertung. Derivate müssen immer zu Marktwerten bilanziert werden. Doch die Spot-Instrumente, welche sie mitunter absichern, können wie etwa im Falle von Anleihen anderen Bewertungsgrundsätzen unterliegen. Selbst bei ökonomisch korrekter Absicherung kann in bestimmten Szenarien dann eine Situation entstehen, bei der buchhalterisch durch Derivate riesige Verluste entstehen, die nur durch latente und nicht durch bilanzwirksame Gewinne bei den Anleihen kompensiert werden.

Besonders gefährlich sind die sogenannten systemischen Risiken, also widrige Umstände, welche Finanzinstitutionen oder sogar das gesamte Finanzsystem und damit indirekt eine ganze Volkswirtschaft in den Abgrund stürzen können. Solche systemischen Risiken, die eng mit dem Gegenpartei-Risiko verknüpft sind, werden oftmals erst durch einen externen Schock wie eine Immobilienkrise oder einen Währungscrash sichtbar. Die Deutsche Bank hier exemplarisch an den Pranger zu stellen, ist jedoch nicht angemessen, wie wir in unserer DWN-Spezialanalyse zum Derivate-Portfolio der Deutschen Bank erläutern.

Klassische systemische Fehler sind natürlich Verfehlungen im Risikomanagement und einer zu hohen Hebelwirkung, welche in die falsche Richtung geht. Dies kann individuell für Unternehmen und spezifisch für Finanzinstitutionen mit grossen, komplexen Derivate-Portfolios ins Auge gehen. Besonders gefährlich sind Derivate dort, wo systematisch oder zeitweise – durch extreme Ereignisse – illiquide Verhältnisse im Spotmarkt herrschen. Dann sind alle Absicherungsstrategien für Marktmacher wie Kunden gleichermaßen gefährdet.

Verluste und Konkurse können aber auch durch den Nichtgebrauch von Derivaten entstehen. So ist es geradezu sträflich, hohe Risiken bei Ertragsflüssen oder in der Bilanzsteuerung einfach offen zu lassen.

Über die Zeit hinweg sind immer wieder Unfälle passiert oder systematisch gefährliche Strategien gefahren worden, die sich in riesigen Verlusten niedergeschlagen haben. Solche Ereignisse prägen sich dann als Skandale und als rücksichtsloses Geschäftsgebaren ein. Doch genau deshalb hat sich die Expertise im Gebrauch und Einsatz von Derivaten immer weiter erhöht. Es gibt also durchaus erhebliche Lerneffekte, auch auf Seite der Regulatoren.

In der Theorie sorgt Spekulation für eine Erhöhung der Markteffizienz. Wer mit der Spekulation richtig lag, hat ein korrektes Preissignal vorzeitig in den Markt gegeben und wird dafür mit Gewinnen belohnt. Bei einer Fehl-Spekulation wird man entsprechend mit Verlusten bestraft. In der Praxis ist die Vorstellung, dass gewinnorientierte Investoren komplett sich selbst überlassen werden sollen, und daraus ein effizientes Finanzsystem entsteht, spätestens mit der Großen Finanzkrise beerdigt worden. Nach wie vor hinken die Regulatoren den Innovationen im Finanz-Casino etwas hinterher.

Absicherung des Derivatehandels durch Clearing

Wie ist der Derivate-Handel eigentlich abgesichert? In der Folge der Weltfinanzkrise haben die globalen Regulierungsbehörden dafür gesorgt, dass Geschäfte mit Derivaten zunehmend von Clearing-Häusern überwacht werden müssen (Central Counterparty, kurz CCP). Der Marktführer in Deutschland ist die Firma „Clearstream International S.A.“.

Aufgrund des politischen Drucks hat die Nutzung von Clearing-Gesellschaften bei Derivategeschäften im Verlauf der letzten zehn Jahre stetig zugenommen, wie auch aus dem aktuellen Quartalsbericht der BIZ hervorgeht. Weltweit laufen demnach zwischen 60 und 75 Prozent aller Transaktionen mit Zinsderivaten und mehr als 50 Prozent aller Transaktionen mit Kreditausfallversicherungen (CDS) über solche zentralen Clearinghäuser. Es sind in erster Linie Geschäfte am hochliquiden Devisenmarkt, die noch überwiegend rein bilateral abgewickelt werden. Am Währungsmarkt kommt es nur äußerst selten zu größeren Verwerfungen wie der sprunghaften Aufwertung des Schweizer Frankens Anfang 2015.

Die Clearing-Institutionen sollen sicherstellen, dass alle beteiligten Vertragspartner genügend Liquidität und Sicherheiten stellen. Sie übernehmen das Transaktionsrisiko und wickeln die Eigentumsübertragung ab. Das Clearing kann auch eine Nachschusspflicht bei einer der beiden Parteien verursachen. Wenn ein Vertragspartner insolvent gehen sollte, so ist die Clearingstelle dafür verantwortlich, dessen Schulden bei den anderen Vertragspartnern zu begleichen – so zumindest die Idee.

Aber verfügen die Clearingstellen tatsächlich über genügend Ressourcen, um im Krisenfall eine Lawine von Zahlungsausfällen verhindern zu können? Das ist anzuzweifeln. Sollten die von den Kunden hinterlegten Sicherheiten beispielsweise in einem großen Markteinbruch dramatisch an Wert einbüßen, gibt es nicht mehr viel Puffer. Die Garantiefonds, die von allen Kunden im Voraus bezahlt werden müssen, belaufen sich in der Regel auf weniger als 10 Prozent der gesamten Sicherheiten. Und das Eigenkapital der Clearingstellen beträgt weniger als 0,5 Prozent der gesamten Sicherheiten.

Das Versagen von Regierungen und Zentralbanken

Was noch besorgniserregender ist und bleibt, sind zwei fundamentale politische Faktoren:

1. Die Rettung von Institutionen, die in den Augen der Regierungen „too big to fail“ sind: Die großen Banken haben im Unterschied zu anderen Unternehmen und gewinnorientierten Anlegern einen wichtigen Vorteil: Sie sind systemrelevant und werden im Fall von schweren Krisen aus Erfahrung von den Zentralbanken, Regierungen und letztlich vom Steuerzahler gerettet. Das erlaubt ihnen, höhere Risiken als andere Akteure eingehen zu können. Erleichtert wird dies noch durch alle Formen von Management-Vergütung, welche besonders hohe Hebelwirkung bei guter Entwicklung der Finanzmärkte mit fetten Boni belohnt, und dies mitunter schon auf relativ kurze Frist hin.

2. Die Führung der Geldpolitik – und zwar nicht nur in Krisensituationen: In den letzten 20 Jahren hat sich die Geldpolitik grundlegend radikalisiert. Mit immer extremeren Niedrigzinsen wollten die Zentralbanken die Konjunktur stützen. Die Währungshüter scheinen dabei grundsätzlich dem Irrglauben eines vermeintlich positiven Vermögenseffekts der Geldpolitik aufgesessen zu sein. Die Notenbanker meinen, dass sinkende und niedrige Zinsen sowie Anleihe-Kaufprogramme über letztlich erhöhte Preise aller finanziellen und nicht-finanziellen Vermögensgüter nur Gutes erreicht. Als sie nach Corona – entgegen ihrer Prognosen – mit einer stark steigenden Inflation konfrontiert waren, machten die Zentralbanken eine Kehrtwende und vollzogen den schnellsten Zinserhöhungszyklus aller Zeiten. Es ist fatal, dass die Notenbanken Zinsen und Geldmenge so erratisch steuern, die Preise von Vermögenswerten dadurch in beide Richtungen massiv bewegen (ob gewollt oder nicht) und so indirekt den gesamten Derivatemarkt entscheidend beeinflussen.

Was die Zentralbanken unterschätzen und sträflich vernachlässigen, ist der Aufbau von potentiell systemgefährdender Hebelwirkung. Denn im Spekulations-Paradies der Jahre von 2009 bis 2021 konnten sich Preise und Bewertungen komplett von jeglichen Fundamental-Faktoren entfernen. Ist dies in einem spezifischen Markt der Fall wie 2007 im amerikanischen Immobilienmarkt, sind die Auswirkungen relativ begrenzt. Trifft es auf alle Vermögensgüter zu, und wird darauf ein riesiges Gebäude von Derivaten errichtet, indirekt noch in vielen illiquiden Märkten, so können die Effekte kolossal werden.

Seit die Zinswende eingeläutet wurde, kam es etwa zur Credit-Suisse-Krise in der Schweiz, dem Zusammenbruch des Krypto-Brokers FTX in den USA und der Pleite des Immobilien-Moguls Rene Benko in Deutschland. Aber das waren eventuell nur die Zuckungen an der realwirtschaftlichen Oberfläche. In der (derivativen) Tiefe könnte es noch zu viel heftigeren Verwerfungen kommen. Nicht zuletzt, weil die Zentralbanken nun wieder die ersten Zinssenkungen durchführen – mit der akuten Gefahr einer zu schnellen geldpolitischen Lockerung.

Falls das Zinskarussel das ganze Kartenhaus zum Einstürzen bringt, könnten finanzielle Laien und die Beteiligten, gerade auch die Zentralbanken, den Fokus auf die Derivate lenken, so wie dies nach 2008 teilweise geschah. Doch das Kernproblem ist ein anderes: Die Derivate entfachen eine Hebelwirkung, aber sie ist im System nur darum so riesig, weil einige gierige Geldverwalter, Großbanken und vor allem unfähige Notenbanker vorher eine hochgefährliche Preisblase geschaffen beziehungsweise zugelassen haben. Erst so konnte es zu dieser beispiellosen Entkoppelung von Finanzmärkten und Realwirtschaft kommen, die sich zurzeit beispielsweise im Dax-Index manifestiert, der sich völlig konträr zur rezessiven deutschen Wirtschaft entwickelt. Die Vereinnahmung des Marktes durch automatisierte algorithmische Handelsstrategien verschärft diesen Trend noch.

In diesem Sinn muss die Aussage von Warren Buffet angepasst werden. Derivate sind nicht per se finanzielle Massenvernichtungswaffen. Sie sind eigentlich sinnvolle Mittel zur finanziellen Kontrolle. Ohne Derivate als Absicherungsinstrument gäbe es immense bilanzielle Verluste, unnötige Konkurse und viel weniger internationalen Handel. Derivate können aber in einem System, in dem nachlässige und verspätete Regulierung, mangelhafte Kontrolle zentraler Akteure sowie eine von falschen Grundsätzen und fragwürdigen Prognosen geleitete Geldpolitik betrieben werden, zu solchen systemgefährdenden Finanz-Ungeheuern mutieren.

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Jakob Schmidt ist studierter Volkswirt und schreibt vor allem über Wirtschaft, Finanzen, Geldanlage und Edelmetalle.


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