Finanzen

Derivate im Fokus: Sinn und Zweck von finanziellen Hebelprodukten

Derivate wie Futures, Optionen und Swaps sind essentielle Werkzeuge am Finanzmarkt. Wegen ihrer teils enormen Hebelwirkung standen sie dennoch schon immer in der Kritik. Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten erklären, wie Derivate überhaupt funktionieren, was der ökonomische Sinn dahinter ist und welche Risiken es zu beachten gilt.
06.09.2024 13:37
Aktualisiert: 13.12.2030 12:06
Lesezeit: 4 min
Derivate im Fokus: Sinn und Zweck von finanziellen Hebelprodukten
Mit Derivaten kann man am Finanzmarkt einen großen Reibach machen - aber durch die Hebelwirkung auch schnell Haus und Hof verlieren. (Bild: iStockphoto.com/ipopba) Foto: ipopba

Derivate sind aus dem globalen Finanzmarkt nicht mehr wegzudenken. Zu den am meisten gehandelten Derivate-Typen gehören Terminkontrakte (Futures), Optionen, Differenzkontrakte (CFDs) und Swaps. Speziell in Deutschland erfreuen sich Zertifikate und Optionsscheine großer Beliebtheit.

Allerdings sind die komplexen Finanz-Instrumente seit Jahrzehnten heftig umstritten. In den Augen der Skeptiker sind Derivate eine tickende Zeitbombe, deren Risiken die Vorteile teilweise weit überwiegen können.

Definition: Hebelprodukt auf einen Basiswert

Was sind Derivate überhaupt? Derivate sind Zukunftsgeschäfte zwischen zwei Parteien über einen zugrundeliegenden Vermögenswert (Basiswert). Meist laufen diese Geschäfte mit Kredithebel ab, sodass man sie auch als Hebelprodukte bezeichnet. Derivate sind keine eigenständigen Anlageinstrumente, sondern lediglich Rechte, deren Bewertung aus dem Preis sowie den Preisschwankungen und Preiserwartungen eines Basiswertes abgeleitet ist.

Basiswerte bzw. Referenzwerte können Aktien, Anleihen, Zinssätze, Währungen, Edelmetalle, Rohstoffe oder Marktindizes sein. Aber aus welchem Grund investieren Marktteilnehmer nicht immer direkt in den Basiswert, sondern wählen mitunter den Umweg über ein Derivat? Kurz gesagt, weil sie aus verschiedenen Gründen (und oft gehebelt) an der Entwicklung des Basiswerts partizipieren wollen, ohne ihn tatsächlich zu besitzen – genau dies ist mit Derivaten möglich.

Ein Beispiel: Wer von einem steigenden Goldpreises profitieren möchte, kann physisches Gold kaufen, zum Beispiel Goldbarren. Für manche Anleger ist es jedoch ein Problem sein, weil sie das Gold nicht zu Hause oder bei einem Dienstleister lagern und sich gegen Diebstahl absichern möchten. An dieser Stelle kommen Derivate ins Spiel: Mit einem Gold-Zertifikat können Anleger ebenfalls in Gold investieren und von der Goldpreisentwicklung profitieren, ohne die Notwendigkeit einer physischen Lagerung.

Derivate-Handel: Wetten am Terminmarkt

Am Spotmarkt, auch Kassamarkt genannt, werden Finanzinstrumente wie Währungen, Rohstoffe, Aktien und andere Vermögenswerte zur sofortigen Lieferung und Zahlung gehandelt. Der Handel auf dem Spotmarkt ist damit in der Regel sofort abgeschlossen, die Vertragsbeziehung nach Abschluss der Transaktion beendet. Der Derivate-Handel läuft anders, denn dieser wird ausschließlich am Terminmarkt abgewickelt.

Der Terminmarkt funktioniert so: Der eine Vertragspartner ist bestrebt, sich gegen ein bestimmtes Risiko abzusichern bzw. auf die Entwicklung des Basiswertes zu spekulieren. Die Gegenpartei kann ein einzelner Marktteilnehmer sein, der auf die umgekehrte Entwicklung setzt. Im Regelfall ist es aber ein sogenannter „Market Maker“, der unzählige Derivate-Transaktionen bündelt und zentral verwaltet. Market Maker sorgen für hohe Liquidität im Markt und bringen Angebot und Nachfrage effizient zusammen. Der Intermediär verdient dafür einen kleinen „Spread“ (Spanne zwischen Geld- und Briefkurs), dessen Vereinnahmung ein aufwendiges Risikomanagement erfordert. Typische Marktmacher sind die großen Investmentbanken.

Derivate ermöglichen darüber hinaus den Handel spezieller hebelbasierter Anlageprodukte – von einfachen Optionen bis hin zu komplizierten Zertifikaten. Mit Hebelprodukten können Anleger den vielfachen Wert ihres Kapitals bewegen. Wer 50 Euro in ein Derivat mit dem Hebel 10 investiert, bewegt tatsächlich den zehnfachen Wert, also 500 Euro.

Bei Derivaten muss man also zwischen Marktwert (in einem effizienten Markt gleichbedeutend mit dem Preis) und dem sehr viel größeren Nominalwert - auch Nennwert genannt - differenzieren. Dazu ein Beispiel: Eine Kaufoption, die den Besitzer berechtigt, eine Aktie mit aktuellem Kurs von 520 Euro zu einem bestimmten Termin in sechs Wochen zum Preis von 500 Euro vom Vertragspartner zu kaufen, hat zwar den Nennwert 500 Euro, aber zum Beispiel einen Marktwert von nur 30 Euro.

Ein Derivate-Anbieter, auch als Emittent bezeichnet, hat meist kein großes Interesse daran, einfach gegen einen einzelnen Anleger zu wetten. Vereinfacht kann man sagen: Wenn es keine entgegengesetzte Kunden-Order gibt, baut der Marktmacher diese eben selbst. Das Auszahlungsprofil des eigenen Finanzprodukts wird dabei bestmöglich mit anderen Derivaten und mit Geschäften am Kassamarkt nachgebaut, übrig bleibt am Ende nur ein prozentual sehr geringer Durchschnittsgewinn. Dieses Nachbauen wird für den Anbieter tendenziell umso schwieriger, je niedriger die Restlaufzeit des Derivats ist.

Derivate als Absicherung

Derivate sind für viele Unternehmen in der Realwirtschaft, aber auch für Versicherungen, Pensionskassen oder Banken, unabdingbar als Instrument der finanziellen Kontrolle. Gängige Verwendungszwecke von Derivaten in Unternehmen sind die Absicherung gegen Wertverluste wichtiger Vermögenswerte (Aktiva) oder gegen eine ungewollte Zunahme bestimmter Verpflichtungen (Passiva) in der Bilanz. Auch sollen damit Einkommensströme gesichert oder Ausgabenströme kontrolliert und eingegrenzt werden. Derivate machen all dies mit begrenztem Kapitaleinsatz möglich.

  • Ein Beispiel ist die Absicherung von Währungsrisiken bei Einkünften oder Ausgaben/Verbindlichkeiten in fremder Währung. Dies wird üblicherweise über Währungs-Optionen oder Währungs-Swaps geregelt. Das machen nicht nur Konzerne und multinationale Unternehmen mit großem Auslandsgeschäft. Schon mittelständische Exporteure haben unter Umständen erhebliche Wechselkursrisiken, weil ihre Kosten in der Währung des Heimatlandes anfallen, die Einnahmen aber in Fremdwährungen erfolgen.

  • Finanz-Unternehmen mit sehr großen Bilanzen wie Banken, Lebensversicherungen oder Pensionskassen müssen die Zinsänderungs-Risiken auf der Aktiv- und Passivseite absichern (englisch: „hedgen“). Hier kommen vorwiegend Zins-Swaps zum Einsatz. Das Zinsrisiko entsteht bei Banken dadurch, dass sie etwa Kredite mit langer Laufzeit und Zinsbindung vergeben, zum Besipiel das klassische Immobilien-Darlehen. Dies refinanzieren sie über Kundengelder mit kurzen Laufzeiten und teils variablen Zinsen. Bei Lebensversicherungen und Pensionskassen ist es genau umgekehrt. Sie haben extrem langfristige Verpflichtungen, oft 20 bis 40 Jahre in die Zukunft, aber häufig Aktiva mit viel kürzeren Laufzeiten. Die Absicherung dieser ungleichen Zinsrisiken ist nicht nur eine unternehmensinterne Entscheidung, sie wird auch durch die Bilanzvorschriften der Regulatoren vorgegeben.

  • Investmentfonds, Versicherungen und andere Vermögensverwalter müssen zudem die Schwankungsrisiken ihrer Anlagen begrenzen. So macht es etwa Sinn, die Extremrisiken gegen scharf sinkende Aktienkurse in einem Crash durch den mehr oder weniger systematischen Kauf von Put-Optionen abzusichern, die weit aus dem Geld notieren – also im Normalfall wertlos verfallen, weil der tatsächliche Aktienkurs über dem sehr niedrig vereinbarten Ausübungs-Kurs liegt. Kurseinbrüche von Anleihen können zum Beispiel durch Short-Futures abgesichert werden (mehr dazu weiter unten).

  • Große Risiken entstehen auch im Rohstoffbereich, einerseits für die Produzenten, die typischerweise sehr hohe Fixkosten haben, und andererseits für die verarbeitende Industrie solcher Rohstoffe, welche die Schwankungen ihrer Einkaufspreise nicht eins zu eins auf ihre Kunden abwälzen können. Gerade in diesem Bereich ist oft eine sehr hohe Absicherungsaktivität über Derivate feststellbar. Am beliebtesten sind hier klassische Futures-Kontrakte. Dadurch kann beispielsweise ein Goldförderer einen Verkaufspreis für einen Termin in der Zukunft schon heute vereinbaren (Absicherung vor Preisrückgang) oder ein Mehlproduzent einen bestimmten in der Zukunft zu bezahlenden Weizenpreis schon heute festlegen (Absicherung vor Preisanstieg).

Zusammengefasst sind Derivate unabdingbar in einer Welt mit flexiblen Wechselkursen und unterschiedlicher Wirtschaftspolitik, mit grenzüberschreitender Wirtschaftsaktivität und mit Anlagen von privaten und öffentlichen Vorsorgegeldern sowie Firmenvermögen am Finanzmarkt. Ohne Derivate gäbe es immense bilanzielle Verluste, unnötige Konkurse und viel weniger internationalen Handel.

Derivate als Spekulation

Diese sinnvolle Funktion von Derivaten ist im modernen Finanzsystem zunehmend in den Hintergrund geraten. Heute wird der Derivatemarkt dominiert von zweifelhaften Produkten, die mit dem Absicherungsgedanken wenig oder gar nichts mehr zu tun haben. Dass es so weit kam, hat auch etwas mit laxer Regulierung zu tun.

Durch den „Leverage-Effekt“ können geschulte und professionelle Investoren Derivate dazu einsetzen, mit relativ niedrigem Kapitaleinsatz hohe Gewinne zu erzielen. Das ist per se nicht schlecht, weil die Spekulanten frühzeitig Preissignale in den Markt geben. Aber es birgt systemische Risiken und in der Vergangenheit ist es hier zu mehreren unschönen Zwischenfällen gekommen. Kurz gesagt: Wenn der Hebel im System zu groß wird, können unerwartete Ausschläge von Aktien- und Anleihekursen, Rohstoffpreisen oder Wechselkursen viele Marktteilnehmer auf dem völlig falschen Fuß erwischen und gigantische Verluste verursachen.

Derivate stehen nicht ganz zu Unrecht für ihr großes Crash-Potential am Pranger. Erfahren Sie mehr zu den systemischen Derivate-Risiken in unserer großen DWN-Analyse. Zudem haben wir das medial oft diskutierte Derivate-Portfolio der Deutschen Bank genauer unter die Lupe genommen.

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Jede Anlage am Kapitalmarkt ist mit Chancen und Risiken behaftet. Der Wert der genannten Aktien, ETFs oder Investmentfonds unterliegt auf dem Markt Schwankungen. Der Kurs der Anlagen kann steigen oder fallen. Im äußersten Fall kann es zu einem vollständigen Verlust des angelegten Betrages kommen. Mehr Informationen finden Sie in den jeweiligen Unterlagen und insbesondere in den Prospekten der Kapitalverwaltungsgesellschaften.

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Jakob Schmidt

                                                                            ***

Jakob Schmidt ist studierter Volkswirt und schreibt vor allem über Wirtschaft, Finanzen, Geldanlage und Edelmetalle.

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